Luhmann und Sohn-Rethel
Nachfolgend ein kleiner Aufsatz über das Denken Luhmanns, in dem durch den Bezug dieses Denkens auf die Erkenntnisse Sohn-Rethels vielleicht weniger unklar bleibt, was die Systemtheorie Luhmanns unannehmbar sein läßt. (b. t.)
0) Systemdenken, Systeme denken ist nicht
genuin modernes Denken. Es läßt sich in Linien zurückverfolgen
bis hinunter zu Aristoteles, Plato und Plotin (Prinzip des Holismus), wo
es in Konkurrenz stand mit Denkern wie Demokrit (Prinzip des Atomismus).
Soziologisches Systemdenken bezog sich in seinen Anfängen als Wissenschaftsprogramm
auf diese Tradition, indem es sich zur Aufgabe stellte, den Hiatus zwischen
Holismus und Atomismus aufzuheben. Wesentlich gespeist wurde es durch die
biologische Theorie Ludwig von Bertalanffys (Allgemeine Systemlehre; 1949)
und durch Norbert Wieners Kreation namens Kybernetik (1948). Deren Fortentwicklung
durch Maturana und von Foerster (Theorie der Autopoiesis und Kybernetik
zweiter Ordnung) sind nun wiederum die Hauptquellen Luhmanns, der den Anspruch
vertritt, mit seiner Soziologisierung von systemtheoretischen Formvorschriften
zur Beschreibung des Lebendigen, des Menschlichen und des Gesellschaftlichen
das richtunggebende Peilungszeug zum Verständnis des Kapitalismus
im 21.Jahrhundert anzubieten.
1) Von den Begriffen und Unterscheidungseinheiten,
die als Theoriebausteine Luhmann wichtig sind (etwa: Komplexitätsreduktionskomplexität,
Sytem-Umwelt, Code-Programm, Autopoiesis-Allopoiesis der Systeme, Operation-Beobachtung),
scheint der schon sehr früh verwendete Begriff namens funktionale
Äquivalenz besprechenswert: er dient im Folgenden dazu, herauszubekommen,
inwieweit Luhmanns Systemtheorie als theoretische Mimisis einer spätkapitalistischen
Gesellschaft resp. als operative Theorie des Kapitalismus verstanden werden
kann, in dem trotz gravierender Veränderungen der Wert immer noch
alleiniges Produktionsregulativ ist (das ist, zugegeben, eine umstrittene
These), in der durch betrieblich abstrakt vernutzte Arbeitskraft Waren
hergestellt werden, die im Tauschakt erst zu sich kommen, also gleichwertig,
äquivalent werden, in der schließlich gesellschaftliche Synthesis,
so sie noch passiert, die Dimensionen der Bedürfnisse, des Gebrauchswerts
und des Handelns in die Umwelt der Gesellschaft setzt, an den Rand dessen,
was wirklich "zählt". Wenn allerdings der Wert als Produktionsregulativ
aufgehört haben soll, lebendige Arbeit als Gebrauchswert zu setzen,
mithin der Gebrauchswert des Kapitalverhältnisses nicht mehr die produktive
Emanzipation vom Naturzwang vermittels geschichtsbildener Kraft der als
Mehrarbeit gesetzten Arbeit zustande bringt, und damit letztlich das objektive
Urteilskriterium fehlt, um zu entscheiden, was als Gebrauchswert zählt
und was nicht (W.Pohrt), so bedeutet dies nichts anderes als Regression
der historischen Rolle des Kapitals auf eine schlichte Erhaltung seiner
selbst als reeles Gemeinwesen. Genau von diesem Punkt aus startet die Systemtheorie
mit ihrer Betrachtung der Gesellschaft als moderner Naturverband, betrachtbar
in kybernetischen und mechanistischen Terms.
2) Mit diesem Anschnitt des Herausbekommenwollens,
was die Systemtheorie sein könnte, ignoriere ich zumindest hier die
Sehweisen von Günter Schulte und Frithard Scholz, die sehr instruktive
Gedanken über Luhmann angestellt haben und in ihrem jeweiligen Kern
behaupten, Luhmanns Systemtheorie sei latent angetrieben durch das Bewußtsein
des Todes und also seine Systemkonstruktion der Versuch, sich vom Tod zu
befreien, als auch behaupten, die Systemkonstruktion habe keine andere
Aufgabe als die, den Begriff Subjekt als Begriff des mit sich Nichtidentischen
(Freiheit und Herrschaft) aufzulösen in den Begriff System, ohne irgend
Jota an Aufhebung beizutun, damit endlich von den Begriffen Virtualität,
Abstraktion und Indifferenz aus Gesellschaft abstrakt gedacht werden kann
ohne Behinderung durch ein Koordinatensystem, das die Begriffe Freiheit,
Herrschaft und Emanzipation sein eigen nennt. Nach Luhmanns Sicht nämlich,
kundgetan in seiner Abgrenzungszeit Anfang der 70er Jahre, hat sich Systemtheorie
von zwei Begriffsriesen emanzipiert, nämlich: von Vernunft und von
Herrschaft. Vernunft und Herrschaft sind für seine Theorie "weder
im Sinne der alteuropäischen Lehrtradition kongruent gesetzte, noch
im Sinne der dagegen reagierenden Aufklärungstradition kontradiktorische
Begriffe; sie sind überhaupt keine brauchbaren Begriffe mehr". - Gut
13 Jahre später hat sie sich, nun fest im Sattel sitzend, auch noch
vom "unmodernen" Begriff der Emanzipation emanzipiert, bezeichnet die 68er-Bewegung
als alberne Karnevalsinszenierung, und belächelt mit der gnadevollen
Einstellung des Großvaters zu seinem Enkel all die soziologischen
Versuche des Verstehens und Erklärens von Welt, die mit solcherart
"vorsoziologischen" Begrifflichkeiten (neben Emanzipation auch noch Legitimation
und Partizipation) meinen arbeiten zu müssen und damit Selbstabstraktionspotentiale
verschenken. Mit dieser Freimachung von Vernunft und Herrschaft behauptet
Luhmann, mit seiner Variation der Systemtheorie nicht mehr kritizistisch
eingeholt werden zu können sei es durch eine Spielart der rationalen
Rekonstruktion oder durch eine marxistisch inspirierte Ideologiekritik.
Denn weder geht es ihm um den Nachweis der Rationalität von Kausalitäten
historischer, gesellschaftlicher und kommunikativer Syndrome, noch um die
und sei es nur negative Bestimmung von Präferenzen gesellschaftshistorischer
Entwicklungen als Maßstäbe der Einordbarkeit des Materials namens
Welt. Ihm geht es vielmehr um eine Art Reinheit, um eine Art Barheit, um
eine Art universeller Ersetz- und Anschließbarkeit des Möglichkeitsbegriffs.
Der Begriff der Möglichkeit, der selbst noch die Wirklichkeit als
Modus des Möglichen einfasst, fußt dabei auf einer "Abstraktion
des konkreten Seienden auf zu ihm verbundene, aber gegenüber diesem
Verbundensein indifferente Merkmale", die nur eins zu gewährleisten
haben: die niemals zu negierende Virtualität und zugleich Beschränkbarkeit
der Anschließ-, Verbind- und Vergleichbarkeit von bestimmten Besonderheiten
an ebensolche andere. Damit kommt Luhmann eigenartig in die Nähe der
nah an Heidegger gebauten Überlegungen Wolfgang Schirmachers, die
in ihrer Stoßrichtung, nämlich ganz aufs Vertraute und das Leben
absichtslos Ausmachende zu setzen, um einer Freundschaft zwischen Wahrheits-
und Lebenstechnik gewahr zu werden, dezidiert nicht von der systemtheoretischen
Unwahrscheinlichkeit ausgehen, aber sich in dem treffen, was auch Luhmann
will: Das sich ergebende Begeben in den Vollzug von Kommunikation, Psyche,
Gesellschaft und Natur und das Einüben der dazu passenden Einstellung,
nämlich einmal ironisch-zynisch, das andere Mal schlicht gelassen.
Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man Gesellschaft denkt als
eine durch funktionale Differenzierung Realität erzeugende, worin
die wechselseitige Indeterminiertheit selbstreferentieller Funktionssysteme
ausgemachte Sache ist?
3) Luhmann, so scheint es, weiß,
daß die Realabstraktion, also die Waren- und und Tauschabstraktion,
ein Monster des tauschenden Tuns und Handelns, und nicht des Denkens ist;
er weiß, daß die "Begriffsformen" naturwissenschaftlichen atomistischen
Denkens nicht von dort kommen, wo sie angewendet werden, nämlich in
der Produktion, sondern von der Sphäre oder der Welt des Austauschs,
der Zirkulation. Abstraktes Denken folgt dem Muster der Realabstraktion
in der Praxis der nicht mehr einfachen Tauschgesellschaft (ob kausal zwingend
oder aus einer Affinität heraus, wie es Otto Ulrich sehr detailiert
beschreibt, sei dahingestellt), und verfolgt sich dabei bis zu dem Punkte,
wo es in Denkabstraktion umschlägt: und dabei Logik entläßt:
Logik des Denkens als Äquivalent zum Geld des Tauschens. Logik wird
das Geld des Geistes. - Luhmann nun, so will es mir nicht mehr aus den
Kopf, will seine Theorie verstanden wissen als Hort der abermaligen Abstraktion
von Logik und Geld, will den Makel der Denkabstraktion, eben doch nur Reflex
der dinglichen Realabstraktion des Geldes zu sein, ausräumen, und
also den Nachweis führen, daß zum Verstehen des abstrakten Universalismus
okizentaler Rationalität nur eine sich systemautonom gebende Theorie
fähig ist, die sogar diejenigen Auflöse- und Rekombinationspotentiale
denkend zur Gestalt bringen kann, die die moderne Praxis zwar ermöglicht,
doch selber nicht zu realisieren im Stande sein wird. Mit diesem unterstellten
Vermögen, theoretisch Modernität einzulösen, indem Theorie
die Freiheitsgrade an Abstraktizität einlöst, die die Moderne
gerade der Theorie zur Verfügung stellt, sieht sich die Theorie Luhmanns
beinahe als einzige auf der Höhe der Zeit (Luhmann akzeptiert allenfalls
noch Anthony Giddens), weit abgehängt seien dagegen Theorien, die
mit quasi vormodernen und vorsoziologischen Begrifflichkeiten wie Rolle,
Handlung, Legitimation usw. nocht nicht im 20. Jahrhundert angekommen sind.
4) Luhmann hat darin in vielem recht; er
diagnostiziert in vielem das, was die kritische Theorie Adornos schon wußte.
Allein: Für ihn ist im Gegensatz zu Adorno das alien namens "selbstschaffende
Selbsterhaltung" das letzte vernichtende Wesen der Gesellschaft; eine Kritik
dieses Wesens stelle sich also außerhalb der Gesellschaft und habe
demgemäß nichts zu sagen, allenfalls als Literatur.
5) Luhmann ist nicht blind; hat sich aber
entschieden, von Blindheit auszugehen und also davon, daß Logik und
Geld diejenigen Medien sind, die eine hochausdifferenzierte funktionale
moderne Gesellschaft ausmachen und also irgend möglich aufrechterhalten
werden müssen, will man die Moderne, und vorallem: den Sinn der Moderne,
fürs nächste Jahrtausend retten. Was er sieht ist, daß
Logik und Geld, also die organisierten Medien des Denkens und Gesellschaftkonstituierens,
reformuliert werden müssen, sollen sie ihre Funktion weiterhin reproduzieren
können. Luhmann weiß, so denke ich, trotz seiner vielfältigen
Arbeiten über Wissenssoziologie, um den Grundtatbestand, daß
die Abstraktionen des Denkens und der (Natur-)Wissenschaft nicht Begrifflichkeiten
des reinen Verstandes sind, der sie quasi transzendental vorformt, sondern
Begrifflichkeiten und Prinzipien sind, die eine bestimmte geschichtliche
Natur inne haben und einer ganz bestimmten Formation von Gesellschaft inhärent
sind. Diese bestimmte Formation unterliegt seit ihrer Hegemoniewerdung
(Francis Bacons Novum Organon kann als Markierung dienen) einer mehr oder
weniger radikalen Kritik. Diese Kritik macht entweder geltend, daß
durch den Aufweis von Alternativen der Organisation von Denken und Gesellschaft
die dezidiert westlichen Formen keine grundlegende, keine anthropologische,
sondern allenfalls eine kulturelle Bedeutung haben und also relativiert
werden müssen (dabei kann es durch dummen Gebrauch der Piagetschen
Stufenfolge der Entwicklung zu Kulturchauvinismus kommen, indem man etwa
sagt, daß andere Kulturen eben noch nicht die letzte Stufe erreicht
haben: die der formalen Operationen); oder sie macht geltend, daß
die Denkabstraktionen in dem Moment hinfällig werden müssen,
in dem die ihr zugrundeliegende Form gesellschaftlicher Synthesis historisch
obsolet wird; für Sohn-Rethel ist dies im Falle der gesellschaftlichen
Konstitution durch Warentauschabstraktion schon 1880 der Fall (als Beginn
des Übergangs von einer Aneignungs- zu einer Produktionsgesellschaft).
Luhmann läßt sich davon nicht beirren. Für ihn ist das,
was er die moderne, in Funktionen hoch ausdifferenzierte Gesellschaft nennt,
zwar nicht mit einer Ewigkeitsgarantie versehen. Doch liegt ihm daran,
diese durch Abstraktion gezeugte Gesellschaftsform theoretisch so zu imprägnieren,
daß man auch weiterhin nach keiner Alternative zu ihr fragen können
soll. Er transzendiert mit seiner Systemtheorie die eben erwähnten,
in zwei Stränge bündelbaren Kritiklinien, indem er mit seiner
soziokybernetischen Grundlegung von Epistemologie ganze Kontinente aus
dem Wirkkreis geschichtlicher Dynamik herausnimmt und einer ahistorischen
Evolution subsumiert, für die es keinen Unterschied mehr macht, ob
die gesellschaftlichen Formbestimmungen von gesellschaftlichen "Dingen"
für die ihnen als Sachen zukommenden Eigenschaften gehalten werden
oder nicht. Es bleibt sich gleich, solange die Systemrationalität
von sozialen Systemen darin besteht, die geschichtsabhängige Systemautopoiesis
fortzuführen. Darin ist Luhmann konsequent: Indem er davon ausgeht,
daß Menschen zum großen Teil nur noch entweder blinde Naturkraft
sind oder kreatürliche Bedürftigkeit, fallen beide Gestalten
aus einer Geschichtlichkeit heraus und in eine Art geschichtlose Natur
zurück, wo sie nur noch regeltechnisch, also soziokybernetisch begreifbar
werden; es ist dann egal, ob man sagt, die Heizung regele mit Hilfe des
Thermostats die Raumtemperatur, oder sagt, die Raumtemperatur regele mit
Hilfe des Thermostats den Heizungsbetrieb.
6) Wir wissen, daß das Fortführen
der Autopoiesis in der vollständigen Virtualisierung von Materialität
ihr "Ziel" gefunden hat, ein Ziel, das manche, so etwa Baudrillard, schon
als erreicht ansehen: Der Gebrauchswert, also die bisher mächtigste
Form von Nicht-Identität (neben der Sexualität), sei aus der
Welt, und die Welt außer sich, notabene: die kapitalistische Welt.
Denn diese, zentriert in der Verwertung des Werts, ruht auf einer Distinktion
auf, die den Tauschwert als eine bestimmte Form des Gebrauchswerts in Unterschied
zum beschränkten Gebrauchswert setzt, dabei aber den noch nicht gesellschaftlich
gesetzten Gebrauchswert voraussetzt; ebendieser Gebrauchswert als dezidiert
nicht in die ökonomischen Formbestimmungen eingehender Wert ist aber
immer noch: die Arbeit resp. das Arbeitsvermögen innerhalb einer bestimmten
Arbeitszeit, also: das Subjekt. Genau dieses Subjekt aber wird immer weniger
gebraucht als Gebrauchswert für die Reproduktion der Autopoiesis.
Der dezidierte Gegenpart, die nichtzuschließende Lücke, das
Nicht-Kapital namens Arbeit, die zur Bestimmung des Kapitals als eines
in Beziehung zu seinem Nicht-Identischen stehenden von Nöten ist,
wird immer weniger notwendig. Damit aber verliert der Tausch-Wert als alleiniges
Produktionsregulativ seine Nötigkeit. Der Tauschwert muß sich
in notwendige Beziehung zum Nötigen, also zum Gebrauchswert setzen,
um nicht selbst überflüssig und unverbindlich zu bleiben. Wenn
das nicht mehr klappt, man aber weiterhin den Tauschwert affirmativ in
seiner Penetranz als Gesellschaftskonstitution behalten will, dann kann
man Wert darauf legen, theoretisch den Gebrauchswert, also die Arbeit,
also das Subjekt, jenseits des Systems zu stellen: es habe einfach ausgedient,
ebenso die ihn brauchende Semantik, die alteuropäische, und ebenso
das Denken, das Nachdenken auf die Leidenserfahrung des Subjekts verpflichtete:
dialektisches Denken. Und mit neuen Begriffen kann man dann an die Aufgabe
herantreten, theoretisch den Sinn des ganzen Unternehmens namens technophile
kapitalisierte Gesellschaft für die Stürme des nächsten
Jahrhunderts fit zu machen: Dann beschreibt man etwa den Umstand, daß
dreiviertel aller Menschen der Weltgesellschaft in postkatastrophalen Gesellschaften
vegetieren, vom Standpunkt des dadurch Gefährdetseins der immer kleiner
werdenden Oasen noch normaler kapitalistischer Reproduktion, und auch dies
noch im Konjunktiv. Zitat: "Wenn aber die Inklusion der einen [man denke
an die sog. G-7-Staaten; B.T.] auf Exklusion der anderen beruht, untergräbt
diese Differenz das Normalfunktionieren der Funktionssysteme" - hier mahnt
einer Grenzen der Ausbeutung, Herrschaft, Ausschliessung an, nicht, um
sie zu verwerfen, sondern im Focus der Bedingungen ihres weiteren Statthabens.
Auch wenn Funktionssysteme wie etwa das Recht durchaus bedacht werden als
europäische Anomalie, die sich in der Evolution der Weltgesellschaft
abschwächen wird (Luhmann), so gilt für Luhmann doch nur eins:
solange sie da sind, muß alles getan werden, damit sie bleiben; im
Grunde fordert Luhmann eine aufgeklärte totale Subordination der Gesellschaft
unter ihre Systeme; die Luft, die die Gesellschaft zum atmen hat, heißt
bei ihm Realabstraktion. Sich dagegen zu stellen sei also töricht.
- Genau dies darzustellen hat Luhmann im Sinn. Und er hat es umso überzeugender
im Sinn, als Versuche immer spärlicher werden, die plausibilisieren
können, daß es eine andere als nur die durchs Kapital aufgezwungene
Existenz gibt und daß diese andere Existenz irgendwie bedingungstheoretisch
in den Produktivkräften objektiv vorhanden sein muß. - Das ist
der Stand des Nachdenkens über Gesellschaft, in der einen schweren
Stand hat und sich beinahe schon zum Gespött macht, wer behauptet,
Dialektik sei die Rache der Natur an unvollkommener, abstrakter, also nicht
wirklicher Emanzipation von ihr.
7) Für ein Problematisierungsniveau jenseits der Möglichkeit von Emanzipation macht Luhmann affirmativ Theorie (affirmativ deswegen, weil die Beobachtung zweiter Ordnung, in der Luhmann residiert, von Kritik absieht). Dafür stehen ihm folgende zentrale Begriffe zur Verfügung: Medium, Form, Unterscheidung, Beobachtung, Polykontexturalität, der Brownsche Indikationskalkül, und: Autopoiesis. Am Begriffspaar Medium/Form, das Luhmann von Fritz Heiders vor 70 Jahren publizierten Aufsatz "Ding und Medium" ableitet, läßt sich vielleicht deutlich machen, was es heißt, wenn sich eine Theorie als operative versteht und also von Geschichtlichkeit abläßt bzw. diese als eine Art ursprünglich einmal tätig gewesene Geschichtlichkeit ansetzt und den weiteren Vollzug einer Hermetik überläßt, die allenfalls perturbiert und zerstört, nicht aber geplant, verändert, gar aufgehoben werden kann. Im dialektischen Versuch, die Einheit gebrochener Welt zu verstehen, war der Akt des Bestimmens von Welt und Materie eingebunden in einem Prozeß des Zusichkommens: ergab sich Identität von Form und Materie, dann strahlte ebendiese identische Bestimmung auf die Bedingungen zur Erfüllung identischer Bestimmung ab. Jede fortzusetzende Bestimmung von Form und Materie mußte sich also fortentwickeln, mußte ihr Anderes werden, um wiederum identische zu sein. Der Prozeß der Bestimmung von Form und Materie gebahr Zeit als Bedingung der Entwicklung von Geschichte, doch irgendwann dahin zu gelangen, wo das Andere nicht mehr in einen Vermittlungsstrudel hineingerissen werden muß, weil Gesellschaft bei sich angekommen ist. Das Identische in der Dialektik ist solange das Nichtidentische, wie die Gesellschaft noch auf bestimmte Identität angewiesen ist; diese aber, und das war der dialektische Optimismus, gehe vorüber: die Gesellschaft besitze die Produktivkräfte schon in sich, diese Form der Bestimmung von Form und Materie, von Identität, hinter sich zu lassen. - Ähnlich und doch ganz anders sieht es bei Luhmann aus. Auch für ihn benutzt die Bestimmung einer jetzt allerdings Form/Medium-Distiktion Identität eigentlich nur, um den Prozeß der Bestimmung über Bestimmung von Nichtidentität voranzutreiben. Der maßgebende Unterschied ist hier jedoch, daß die Bestimmung selber niemals nichtidentisch werden kann: Die Form der Unterscheidung Medium/Form ist stets dieselbe(!), nur ihr Material wechselt. Hier also passiert keine Durchdringung, keine dialektische Bewegung, keine historische Maschinisierung, keine Verzeitlichung von Form und Medium, da hier die Zeit, vormals noch Produkt der Dialektik von Bestimmung, nun als Voraussetzung des Gebrauchs von Bestimmungen (mittels Unterscheidungen) eingesetzt wird. Zeit wird hier, gemäß der Vorgabe Operationalität, einfache Verlaufszeit, eingekapselte Zeit des Prozessierens, ohne zeitlichen Verbund mit einer gesellschaftlichen Zeit, die ihre Macht in den Bedingungen und Richtungen des Wozu des Prozesses vorstellig hätte. Da diese Art der Bestimmung nur ihre Fortsetzbarkeit im Auge hat, nicht aber um Fortentwicklung weiß, da die Bestimmungen auf der Grundlage Medium/Form als Resultat schon geschehener Systemevolution und nicht als Bedingungen der Möglichkeit von Systementwicklung, -aufhebung und -revolution gesehen werden, fällt logischerweise diejenige Relation weg, die sehen lassen könnte, was die Zeit der Forsetzbarkeit des Bestimmungsprozesses für die Bestimmungen der Zeit, der Wahrheit, der Geschichte bedeuten könnte, also bedeuten könnte für die Gesellschaft, in der dies so möglich und machbar ist. Man könnte auch sagen: Die Erde dreht sich nach dieser Unterscheidung Medium/Form nur noch um ihre eigene Achse; daß diese Drehung selbst nochmal gekreuzt wird durch eine Drehung der Erde um die Sonne, ist vollkommen irrelevant; und vollkommen unmöglich ist dieser Sichtweise die dialektische Hoffnung, aus der Immergleichheit des Prozesses einmal auszutreten resp. diesen stillzustellen (Hegel).
8) Worum geht es nun? Es geht darum, Luhmanns
Antwort auf die Frage, was das ist: Der Mensch als per se zerissene Kreatur,
als sich selbst klammernde Klammer von natürlicher und artifizieller
Materialität, kritisieren zu können. Hatte Bauhaus noch gesagt,
daß Artifizialität des Menschen ein natürliches Vermögen
des Menschen sei, ihn erst in seiner ganzen Gebrochenheit entfalten könnte
(zweite Haut namens wiss-techn. Zivilisation), baut Luhmann darauf, daß
Artifizialität nicht mehr, nicht einmal in gebrochener, dialektischer
oder sonstiger Form, verbunden ist mit dem Lebewesen Mensch; es ist ein
eigenes Universum, das Artifizielle. Nicht einmal die stille Hoffnung eines
Wolfgang Schirmacher, mit dem Eintritt in die Welt der Technik habe zwar
die menschliche Geschichte aufgehört, aber dies sei doch nichts anderes
als daß nun das wahre Leben beginne und die Gesellschaft der Techniker
namens Menschen endlich die metaphysischen Krücken namens Ökonomie,
Politik und Ethik hinschmeissen könne (in: Ereignis Technik, Wien
1990), kann Luhmann in seine Beobachtungsnähe bringen; seine Theorie
will nicht verstehen können, daß Leben und das Leben von Gesellschaften
nicht diskret ist. Denn, so Ferdinand Kürnberger: Das Leben lebt nicht
Alles Artifizielle aber braucht geschlossene Räume, geschlossene Zeiten, geschlossene Bedingungen, um zu sein (und sei es nur als reale Fiktion zu sein). Die einzige Richtlinie der Reproduktion ihres "Seins" ist dabei die Aufrechterhaltung der Reproduktion. Über das Kontinuieren, Abgrenzen, Variieren oder Transformieren ebenso wie über das Erlöschen einer reproduktiven Einheit namens System entscheidet nur noch die Evolution, die, wie sollte es anders sein, sich selbst evolviert. Die Frage ist also, ob der Mensch, ob die Gesellschaften, in/mit/gegen/von denen Menschen leben, genauso als geschlossene Räume, also als Monaden, zu beschreiben sind oder nicht. Man könnte auch fragen: Gibt es noch die Möglichkeit, theoretisch den Begriff des Gebrauchswerts aufrechtzuerhalten, der auch unter anderen als den kapitalistischen Bedingungen gesetzt werden kann?; kann man Gebrauchswert noch unter anderen Bedingungen als den kapitalistschen setzen? Für all die, die diese Frage überzeugt verneinen, bietet Luhmann Orientierung. Für die, denen kein Nein über die Lippen kommt, bietet das Luhmannsche Werk ein Staunen darüber an, wie fortgeschritten objektivistische Reflexion ihrer eigenen Verdinglichung zuzuschauen vermag, ohne wahnsinnig zu werden. Oder ist sie es schon? Sie ist es.