Kultur ohne Auftrag
Kultur ist, keine Ahnung zu haben; das aber von allem. Dieses Bonmot Matthias Beltz' verliert den leicht pejorativen Einschlag, wenn man sich fragt, zu was Wissenschaft geworden ist: Zu einem immensen Wissen über Winziges bei gleichzeitiger Abwesenheit von Wissen über die Zusammenhänge der Winzigkeiten. Leben die Menschen gegenwärtig in einer wissenschaftlichen Kultur oder in einer Wissenschaftsgesellschaft, die keiner Kultur im tradierten Sinne mehr bedarf?
Zwischen zeitextensiver Kultur und zeitintensiver Wissenschaft sollte einmal Philosophie und später, so Lepenis, die Soziologie als eine Art dritte Kultur vermitteln. Den Sozial- und Kulturwissenschaften wurde ein Deutungswissen unterstellt, das zu sorgen (cura) hatte für die Verunsichtbarung einer allgemeinen Verunsicherung der aufgeklärten Gesellschaften, nämlich: nicht mehr zu wissen, zu was das Handeln und Tun eigentlich gut ist. Daß eine soziale Ordnung angewiesen sei auf die möglichst massenhafte Verbreitung fester Deutungsmuster bei den einzelnen Menschen; daß es einen Unterschied mache, ob die Menschen einer Kultur ihre Kultur verstehen oder eben nicht verstehen: Diese grundlegende Sicht auf die menschliche Gesellschaft wurde in der Folge sogar noch ausgeweitet: aufs Bestimmen. Nicht nur sollten möglichst alle ihr gesellschaftlichen Sein verstehen können, sondern zusätzlich auch ihr Sein bestimmen können, und sei es nur durch die Wahl der Interessenrepräsentation. Das nannte man Demokratisierung, abgestützt durch eine Humboldtsche Auffassung von Bildung und eine Cassirersche Auffassung von Kultur.
Traut man sich zu sehen, was sich gegenwärtig im Arrangement der Gesellschaft verschiebt, muß man feststellen, daß schon längst Abschied genommen wurde von der Vorstellung, daß in möglichst jedem Menschen das Licht des Verstehens und Klärens zu brennen habe. Die Klagen einiger Kulturwissenschaftlicher, daß etwa die Dominanz des Fernsehens systematisch eine reflektierte Kultur zerstöre, bleiben weiterhin marginal. Wer Demokratisierung will, so heißt es, muß eben Massenkultur in Kauf nehmen, auch wenn sich dadurch sogenannte Kreations- und Innovationspotentiale in der Kultur gefährlich ausdünnen.
Was ist aber mit der politischen Demokratie? Wirkt sie nicht in dem Maße, wie die Rationalisierung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur voranschreitet, immer anachronistischer? Wieso wird unter Demokraten der Gedanke nicht diskutiert, daß in dem gleichen Maße, wie der Konsum des Sozialstaates sich nach der Produktivität der Wirtschaft zu richten hat, sich der Grad gesellschaftlicher Demokratisierung nach dem Stand einer Kultur ausweisen muß? Wenn die Mehrheit der Menschen eigentlich nur noch im Akt des politischen Wählens, man könnte sagen: für einige Minuten bloß, die Bürger sind, den die Wahlen eigentlich immer noch ganzjährig unterstellen: Warum sollte man dann nicht auch die Eigenschaft, Bürger zu sein, in Leistungskategorien denken? Wenn Wissenschaft und Technik und erst recht der globale Kapitalismus keine Rücksicht darauf nehmen müssen, ob die Menschen verstehen, was ihnen angetan wird und was sie zu tun haben: Warum soll es bei der politischen Demokratie anders sein, deren Vertreter zur Zeit nichts mit mehr Energie verfolgen als die Abschaffung der Sozialwissenschaften an den Universitäten?
War die Überzeugung, daß Kapitalismus am besten mit Demokratie funktioniert, ja sie quasi teleonomisch einfordere, schon sehr früh als Ideologie entlarvbar, scheint die Überzeugung, daß nur dort Demokratie überhaupt Sinn macht, wo die sziento-technophile Gesellschaft eine Kultur ihres "Nicht-mehr-auf-Kultur-Angewiesen-Seins" ausbildet, weniger leicht als dummes Geschwätz überführt werden zu können.
Je auftragloser Kultur wird, desto überflüssiger wird politische Demokratie. Die Neonazis wissen das schon lange.