Sozialphilosophischer Kehraus
Von Zeit zu Zeit drangsaliert einen das Bedürfnis, mit seinen eigenen Vorstellungen, Vorurteilen und Einstellungen Tacheles zu reden. Damit man wieder mitbekommt, daß man etwas mitbekommt. Man erinnert sich plötzlich an das worldwatch-Institut, das in seinem am 11.1.1992 veröffentlichten Bericht zur 'Lage der Welt 1992' massiv eine Revolution in der Umweltpolitik forderte — gemeint war natürlich eine gesellschaftliche Revolution in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, eine Revolution vergleichbar der neolithischen oder der industriellen.
Glaubt jemand daran, daß die, die man 'die meisten Menschen' nennt, dazu bereit wären, geschweigedenn eine Überzeugung aus ihrer deformierten Individualität herauskramen werden, die diesen Prozeß in eine aufhebungsbereite Spannung versetzen könnte? Wer glaubt noch daran, daß die meisten Menschen die handlungsnormierende Gewalt der Technik als das erkennen, was sie ist, wenn diese meisten Menschen in der Regel doch schon glücklich sind, ein technisches Artefakt auf der Ebene der Gebrauchsanweisung erfolgreich bedienen zu können und auch ansonsten schon glücklich sind, noch etwas von den Früchten des Leistungsprinzips abbekommen zu haben, wie man es in den letzten Jahren bei den konvertierten Linken beobachten konnte? Wer ist noch ernstlich davon überzeugt, die Ökonomie und die Wissenschaft hätten ein Interesse daran, ihre in Maschinen und in sonstigen Artefakten eingebauten normativen und politischen Konstruktionsregeln einer Käufer-, Staatsbürger- und Rezipientenöffentlichkeit zur Diskussion zu stellen?
Die sogenannte Majorität leidet nicht mehr unerträglich unter ihrem Sosein, auch nicht unter dem Leid der wachsenden Minorität in den Metropolen, die in Verelendung begriffen ist; auch nicht unter dem Leid der Majorität der Weltbevölkerung, die noch nie aus dem sozialdarwinistischen 'Fressen oder Gefressen werden' hinauskam. Das Leid der Majorität in den fortgeschrittesten kapitalistischen Gesellschaften und das der übrigen Menschheit ist verfügbar geworden, anschaubar, bedienbar, an- und ausschaltbar, es ist integriert. Nichts wollen die, die einen ganz normalen Alltag in den G-7 -Staaten ihr eigen nennen, weniger, als eine radikale Veränderung, die ihre Lebens- und Leidensgefüge, ihre Konsum- und sonstigen Gewohnheiten mit in den Strudel zöge; nicht einmal die, die diese Forderung in Feuilletons, in wissenschaftlichen Publikationen oder in Talkshows immer wieder zum besten geben, wollen sie, weil sie wissen, daß der, der alle Verhältnisse umwerfen will, in der Regel von ihnen erschlagen wird. Und wenn sich die Mehrheit bewegen liesse: müßte sie dann nicht doch wieder gelenkt werden wie eine Schafsherde, die nur solche Schäfer akzeptiert, die sie zur Schlachtbank, nicht aber zur Schaffung eines "Vereins freier Menschen" führen wollen?
Wozu also noch Politik? Warum nicht die Entscheidungen direkt vom Erzeuger beziehen, ohne Zwischenhändler namens 'politisches System'?
Sicher, es gibt noch ein Programm, das viele für reprogrammierbar halten: Das Programm des Sozialen. Es gibt noch Bedeutungsmenüs für soziale Beziehungen; etwa die Ethik oder die christliche Religion. Es gibt sogar noch ein Vokabular des Sozialen, das sich zur Zeit bemüht, wenigstens retextualisiert zu werden, bevor es einfach im schwarzen Loch der Kontingenz und der Zeit zu verschwinden droht; das Vokabular des Marxismus. Es gibt noch die Hoffnungen einer historischen Anthropologie, die plausibel zu machen sucht, warum der heutige Zustand der Welt nicht in eins gehen kann mit der anthropologischen Ausstattung des Menschen. Es gibt die Hoffnungen des vor kurzem verstorbenen Jürgen Kuczynski, der die Zeit der Verelendung noch nicht zuende wähnt und also an der Utopie eines möglichen Eintritts der Gattung Mensch in eine wie auch immer sich gebärdende Gesellschaft sozialistischen Zuschnitts festhält. Es gibt die Hoffnung eines Siegfried Zielinski, daß sich mittels der privat zugänglichen Speichertechniken die Materialität von Audiovision literarisiert, daß also die fremdbestimmte Unterhaltungszeit ein gutes Stück rückverwandelt werden kann in Lebenszeit, indem der Benutzer eingreift in die Zeit des Ausdruck und in die des Inhalts der Medienwaren. Es gibt die theoretischen Anstrengungen eines Habermas für eine derart gefestigte Lebenswelt, daß sie zumindest den Opfern erlaubt, ihrer Verletzungen und Verluste einsichtig zu werden. Und es gibt noch ein Reservoir, das wir Geschichte nennen, die man bekanntlich nicht wollen oder auch nicht wollen kann. Für sie alle - sie, die Programme, die Hoffnungen, die theoretischen Zusammenhänge, die den Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner Emanzipation als etwas Nicht-Ganzes bedeuten - gilt: Sie müssten ein Tabu brechen und die meisten Menschen dort abholen, wo sie nicht stehen. Angesichts der charakterlich verankerten Feigheit vieler politischer Mandatsträger wird solch ein Aroma politischen Avantgardismus' wohl keine Nase mehr erreichen.
In dem Maße, wie kollektive Vorstellungen von sozialen Beziehungen nicht mehr die wesentlichen Erzeuger sozialer Beziehungen sind und von den nur noch singularisierten Erfahrungen des Gebrauchs oder der Bedienung kollektiver technischer Kommunikationsinfrastruktur vermutlich abgelöst werden, in dem Maße also darf sich die Vorstellung, darf sich die Imagination soviele verschiedene, antagonistische, paradoxe, ästhetische oder auch anästhetische Welten und Beziehungen ausmalen wie sie will; es juckt keinen mehr, sondern unterhält nur noch.
Es gibt keine gute Unterhaltung.