Inventur der Kultur
Kultur ist ein Drittes zwischen cura und cultus und verband immer beides: Die Pflege des Bodens wie die des Geistes. Jenseits der reinen Sorge ums Dasein und der reinen Verehrung von Göttern gab sie den Rahmen ab für die geistig-kulturelle, die soziale Sphäre, in denen Menschen leben. Spätestens im Humanismus der Neuzeit verkürzte sich Kultur auf Geisteskultur und gebahr eine neue Bedeutung für das, was Kunst heißt. Noch bis Adorno sah man in ihr, der Kunst, und im Ästhetischen schlechthin einen Gegenhalt zur sich verhärtenden, bloß selbsterhaltenden Welt.
Damit ist es nun, traut man seinen Sinnen, vorbei: Die Kultur war zu lange im Bodenlosen, jetzt soll sie wieder zurück zum Boden, Bodenkultur werden. Zumindest behaupten das John Brockman und die von ihm herangezogenen Wissenschaftler, die alle für das einstehen, was die dritte Kultur heißt. Und sie behaupten noch mehr: Nicht mehr gelte es, sich über die Industrialisierung der Kultur in Kritik zu üben, sondern einzusehen, daß aus der Industrie die Kultur des 21. Jahrunderts erwachse, also im wahrsten Sinne das wird, was bisher immer pejorativ ausgesprochen wurde: Kulturindustrie.
Übernimmt man diesen Blick für einen Moment, dann stellt sich das Feld der Künste als Kultur so dar, als ob das Material der Projektionen tatsächlich erschöpft ist. Das führt auf seiten der Projektion zu grotesken Szenen: Bilder fallen übereinander her oder sich in die Arme, Körper fangen an zu stammeln; das Versatzstück mutiert zum Beweisstück letztmöglicher Orginalität; das Kunstwerk ist die technische Reproduktion, ist seine Aufnahme ins Reproduktionsgefüge kulturindustrieller Fabriken; Genres und Gattungen, Codes und Regeln menschlicher Kultur- und Kunstausdrucksformen haben aufgehört, sich infragezustellen, aufgehört, sich in Fragen zu verwickeln. Sie haben aufgehört, das Nichtdarstellbare darzustellen. Stattdessen tauchen sie Worte in Metaphernlaugen, Bilder in Systemtheoriesäure. Man vertauscht Roman und Comic, Architektur und Lebensstil, Wissenschaft und Mythologie, Logik und Kausalität, man vertauscht, ohne Austausch zu wollen, adaptiert, ohne anpassen zu müssen, erfindet, ohne etwas gefunden zu haben. Das auf Eis gelegte Getriebensein künstlerischer Kultur spielt immer besinnungsloser mit Konserven und Konserviertem: Denn auf lange Sicht tut sich nirgends eine neue Quelle auf. Und so schlagen wir uns mit konservierten Projektionen herum, in der Kultur, der Literatur, im Film, der Malerei, den Geisteswissenschaften, sogar im Alltag und erst recht in der Politik; mixen Traditionen, Geschichte und Bedeutungen, naturalisieren attraktive Artefakte zu Bausteinen einer posthumanen Anthropologie, bei der noch unentschieden ist, ob die Anthropomorphisierung auf 'Dinge' ausgeweitet werden soll oder nicht.
Wir nehmen jahrzehntelang Abschied von Geschichten, die noch ohne archäologische Methode auskommen, um erzählt werden zu können; wir erzählen Geschichten der Unerreichbarkeit, stories, die das Nichtzustandekommen von story als funktionierende story erzählen, schreiben Bücher, die davon handeln, daß sie nicht geschrieben wurden.
Die Ideologen der dritten Kultur, so scheint es, sehen es so und ziehen die Konsequenz daraus: Kultur ist entweder naturwissenschaftlich-technisch, oder sie ist gar nicht. Man könnte sagen: das hatten wir schon mal, damals, in den 20er und 30er Jahren, als der Positivismus bestimmen wollte, was Wissenschaft ist und was nicht. Aber diesmal geht es nicht um Wissenschaft, es geht um die Kultur der Gesellschaft. Setzte sich Brockmans Ansatz durch, wären wir wirklich auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft. – Wem der Unterschied zwischen Denken und Wissen vetraut ist, spürt spätestens jetzt ein Unbehagen an dieser dritten Kultur. Hilft Freud?