bernd ternes

Invasive Introspektion

Versuch, die Fortsetzungen totalitärer Vernunft nach ihrer modernen Etappe aufzusuchen im Radikalen Konstruktivismus und in der Systemtheorie

(Exposé)


"Ich meine zeigen zu können, daß der Prozeß der Formalisierung allen Wissens im Sinne einer Ausschließung jeglicher Elemente implizizen Wissens sich selbst zerstört".
Michael Polanyi, Implizites Wissen, FFM 1985, p27
 
"Auf der subsymbolischen Ebene werden kognitive Beschreibungen aus den Bestandteilen dessen zusammengebaut, was auf einer höheren Ebene diskrete Symbole wären. Die Bedeutung findet sich jedoch nicht in diesen Bestandteilen, sie existiert in den komplexen Aktivitätsmustern, die sich aus den Interaktionen vieler derartiger Bestandteile herausbilden".
Francisco J. Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, FFM 1990, p79-80
 
"Die Möglichkeit der Reflexion selbst setzt die Identität des reflektierenden Geistes mit dem Subjekt der Akte voraus, auf welche es reflektiert. Wie wäre aber vollkommene Divergenz zwischen der erkennenden Legitimation logischer Sätze und dem faktischen Vollzug logischer Operationen zu behaupten, wenn beide in ein und dem gleichen Bewußtsein sich durchdringen"?
Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, FFM 1990, p71
 
"Die Unterscheidung kommt dann doppelt vor: als Form, die Beziehungen überhaupt erst ermöglicht, und als Form in der Form. Es ist dieselbe und nicht dieselbe Unterscheidung"!
Niklas Luhmann, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, in: Merkur 4/1988, p292-300, hier: p296

 

A) Allgemeinverständliche Zusammenfassung mit kurzer Charakteristik der Ziele und Methoden

Die versuchte Erörterung nimmt, trotz Einsicht, daß Klappern zum Geschäft gehört, die Annahme des interdiziplinären Forschungsgebietes namens Kognitionswissenschaft und Kognitionstechnik (KWT) ernst, mit ihren naturwissenschaftlichen und technischen, aber auch systemtheoretischen Mitteln hegemonial die Geschichte der Auffassungen menschlicher (Selbst-)Erkenntnis fortzuschreiben. Die strikte Aufhebung der Trennung zwischen theoretischer und praktisch-technischer Forschung lassen die Vermutung plausibel werden, daß es ihr aufgrund des Verstärkers Technik viel weitgehender als Philosophie, Gesellschaftstheorie, Psychologie und Soziologie gelingen wird, entscheidend soziale Handlungsmuster, -praxen und Zeitvorstellungen sowie auch kollektive Selbstbilder zu verändern.

Als Focus der KWT ("die bedeutendste theoretische und technische Revolution seit der Atomphysik"; F.J.Varela), deren erste "Leitern" in Gestalt der Autoren wie Husserl, Merleau-Ponty, Piaget, Dilthey, Gadamer hier mituntersucht werden sollen, wird, wie im Titel schon angesprochen, der Versuch ausgemacht, die Grenzen formaler Systeme bei der Simulation und Substitution anthropologischer Eigenschaften wie Sprache, implizites Wissen und Verstehen mithilfe derjenigen Modelle zu sprengen, die es erlauben, erstblicklich unlogische, paradoxe, nichtrepräsentable und nichtoperationable "Eigenschaften" (wie das Lernen, Bedeuten) gleichsam in maschinelles Handeln zu überführen bzw. auf eine Maschine zu implementieren. Es scheint paradox: Bestimmte Funktionen und Eigenschaften des Menschen werden vom anthropologischen Substrat (siehe Gentechnik) oder von sozialen, kulturellen und kommunikativen (sprechaktpragmatischen) Kontexten (siehe historische Maschinen) abtrenn- und in neuronale Netzsysteme implementierbar dadurch, indem ihre Abhängigkeit vom Körper, von der Sprache und von der gesellschaftlichen Geschichte, von Handlungszusammenhängen und vom alltäglichen Hintergrundwissen als nicht mehr durch Erfindung immer komplizierterer Regeln eliminierbar betrachtet wird (wie noch Carnaps kontextfreie Grammatik es versuchte), sondern als kommunikationstechnisch formatierbar. Leitbild ist nicht mehr der Superrechner, sondern das kleine Kind (allerdings ohne Bewußtsein), das sich selbst schaffende System, das in seiner artifiziellen Beschaffenheit zur kreativen Kognition fähig ist. Die Maschine wird also als Projektionsmedium für unser eigenes Selbstverständnis als kommunizierende Wesen inauguriert dadurch, daß sie scheinbar a-digitalisierbare "Verborgenheiten" wie Wissenshintergrund, implizites Wissen, referentielle Deixis, Alltagswissen, zu transponieren sucht in ihre eigene "Virtualität"; daß sie also die Verborgenheit der Bedingungen menschlicher Kognition imitiert. Mit diesem ansatzweise technischen Ermöglichen von Bewußtseinsanalogie geht man weiter als die systemtheoretische Abkopplung des Begriffs der Reflexivität von dem des Bewußtseins, das etwa bei Luhmann durch den Begriff Sinn funktional äquivalent ersetzt wird.

Die Erörterung will vom Boden der kritischen Theorie aus diese Modelle des Menschen, der Gesellschaft und der Selbsterkenntnis kritisieren suchen. Sie weiß zwar schon, was "Sache ist", herausbekommen muß sie jedoch noch, was "die Sachen sind".
 

B) Beschreibung des Forschungsgegenstandes und der Vorarbeiten

1.

Invasive Introspektion will ich all die Versuche philosophischer, soziologischer und vorallem "erkenntnistheoretischer" `Beschreibung' des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt, zwischen `Subjekt' und `Objekt', zwischen lebenden Systemen nennen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Abschied zu nehmen von Überzeugungen, die die Sprache als Medium, das Erkennen als objektives Begreifen und Kommunikation als Prozeß des Verstehens innerhalb des Repräsentationsparadigmas verorten, und sich darum bemühen, Wissen, Verstehen, soziale Ordnung, Lernen und Kommunikation (u.v.a.m.) als offene Prozesse zu fassen, denen semantisch mit einer theorietechnisch neuen Offenheit der Beschreibung Rechnung getragen werden soll. Der antirepräsentationistischen (und zum Teil anticartesianischen) Stoßrichtung und dem Aufgeben einer Einteilung der "Welt" in harte Fakten (Tatsachen) und bewußtseinsabhängigen Fiktionen (Imaginationen) kommen Begrifflichkeiten entgegen, die von der Realität ausgehen als eine von vielen Möglichkeiten der Anschließbarkeit notwendiger Reproduktion und Autopoiesis lebender Systeme; die davon ausgehen, daß Unwahrscheinlichkeit das Selbstverständliche ist; davon, daß Welt ohne Grund ist; daß Wissenszustände keine "schlafenden Kopien früherer Erfahrungen" sind, die von Zeit zu Zeit ins Bewußtsein gerufen werden; daß Berechnung und Erklärung des Anderen scheitert (N.Luhmann, Soziale Systeme, 1987, p156); daß Verstehender und zu Verstehendes sich zirkulär bedingen; daß alter und Ego für sich immer getrennt bleiben, auch intrapsychisch (das alter Ego im Ego aus der Sicht Egos; das Ego im alter aus der Sicht alters); daß es im Emergenzverhältnis zwischen alter und Ego - Subjekt und Objekt - innerhalb der Systemrealität keine Hierachie der Realitätsdichte gibt, etwa: daß die Realitätgewißheit organisch-physikalisch-chemischer Objektivationen größer ist als die Realitätsgewißheit von Unterstellungen, die von black boxes erzeugt werden (die als gegeneinander intransitive Partner Transparenz dadurch schaffen, daß das Unterstellen zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter Ego führt; Luhmann, a.a.O., p156-7); daß doppelte Kontingenz nicht hintergehbar ist; kurz und gut: daß nichts nahbar wird (will sagen: im Wortsinne aufgeklärt wird). Zugleich verschwindet aber auch für die Weltbeschreibungen, die von oben Gesagtem ausgehen, die Notwendigkeit, auf die Differenz `nahbar - unnahbar' zur Beschreibung von Welt einzugehen: sie wird u.a. abgelöst durch die Sichtweise, wie sich Weltzustände an andere Weltzustände anschliessen lassen, und zwar in zeitlicher, sachlicher, sozialer und kognitiver Hinsicht, bzw. abgelöst durch die Sichtweise, die sich alleine auf das Lösen von Problemen spezialisiert.
 
 

2.

Man hält also Abstand, oder sucht ihn, oder nimmt ihn. Besser: Man will Abstand nehmen, weiß sich aber in einer Lage, in der jedes Zurücktreten von einem Begriff, einem Zugang, einem Vokabular und einer Denkgeschichte ein Eintreten in einen anderen Begriff, einen anderen Zugang und eine andere Geschichte bedeutet. Man kann gesellschafts- und erkenntnistheoretisch nirgend mehr austreten, ohne gleichzeitig einzutreten in "etwas", das man Struktur, System, Vokabular, Welt, Sichtweise oder Text zu nennen pflegt. Selbst Rortys Inthronisierung des starken Dichters, der sich dem Sog abgestorbener Metaphern entzieht und in der Schaffung von lebendigen die Mächtigkeit des schon Gegebenen überwindet, läßt sich entlang der Problematisierung des Übergangs der Überwindung von Bedeutungsnihilismus in einen Nihilismus der Überwindung "verzirkeln". "Theoretisch" konsequent verfuhren demgemäß Teile der postmodernen Philosophie, indem sie sich des starren Blicks auf Überwindung und Zirkularisierung von "Sein" und "Bewußtsein" entschlugen und einer Hypostasierung des Augenblicks das Wort redeten, eines Augenblicks, der, nicht mehr mit der historischen Zeit verbunden, für Momente dasjenige aufzuheben im Stande sein sollte, was bei Hegel noch fürs Ganze in Anschlag gebracht wurde: Die Einheit nämlich von Denken und Sein (mit all ihren Paaren wie Form/Inhalt, Wesen/Schein usf.). Wie konsequent auch der Rekurs auf den Augenblick und das Absehen von "objektiven" bzw. intersubjektiv zugänglichen Erkenntnisweisen der Erfahrung einer äußersten Grenze der sogenannten Logik des Zerfalls die Form gaben: Das "Programm", in das dieser Rekurs eingebettet wurde, erlangt wissenschafts- und erkenntnistheoretisch allenfalls den Status sehr zeitnaher Protokolle; es sind Texte, die, entgegen der Gewohnheit, eine unübersichtliche Zeit und Zusammenhangslosigkeit zur Darstellung bringende Sachverhalte vom "Sessel" aus auf die Methodologie hin zu richten, mit der sie analysiert werden, sich in "die Zeit" begeben; die Sonden-funktion für sich beanspruchen wollen und dabei vor der Aufgabe stehen, sich all der theoretischen, metapysischen und auch ästhetischen Systeme zu entschlagen, welche die Unmittelbarkeit etwa des Kontaktes von Begriff und Wirklichkeit unmittelbar in bestimmte Vermittlung hineinziehen. Diese Vermitteltheit ließe dann natürlich nicht mehr zu, besondere Sensibilität, Kontextsensibilität zu entwickeln, um da noch Auswege zu finden bzw. zu erfinden, wo die "modernen" Kontextualisierungen mit ihrem Zentrum - das Allgemeine - und ihren Werkzeugen - Abstraktionen -, mit ihrer Operationalisierung der Zugänglichkeit von Wirklichkeit - Repräsentation - und ihrem archimedischen Punkt - das Subjekt - scheinbar nur noch Sackgassen, also Unbeweglichkeit übrig gelassen haben. Kurzum: Der postmoderne Austritt aus den Bahnen der Vernunft, welche von einem jenseits aus theoretisch annulliert werden soll, verkennt den zwar nicht für sie - die Postmoderne -, aber für die sich weiterhin in den Vernunftblasen aufhaltenden "Kopfarbeiter" zwingenden Widerspruch, wie es denn ein Programm der Verunmöglichung einer rationalen Analyse der Zerstörung der Vernunft schaffen soll, sich selbst als Chiffre zu bedeuten, die vernünftig, ja beinahe im Namen der Vernunft ebendieser Vernunft als Totalität das wichtigste zufügt, was sie hat: nämlich das Moment ihrer Auflösung (Ernst Bloch). Will man aber - die Möglichkeit eines Rückblicks auf dieses postmoderne Textprogramm sei unterstellt - den "Stellenwert" dieses Austretens aus der "alteuropäischen Semantik" noch dialektisch "nutzbar" machen für eine Modernisierung derselben, wenngleich doch ebendieses Austreten ein Auslöschen dialektischer Aufhebung impliziert, dann fällt es schwer, nicht auch in der Dialektik eine Erscheinungsform der abendländischen Logik zu sehen, eine Art agent provocateur, der in fortgeschrittener Gestalt bestimmte Negation "vorspiegelte", der die Rolle des ausgeschlossenen Dritten nur zu dem Behufe übernahm, um die Endgültigkeit der Ausgeschlossenheit zweifelsfrei zu besiegeln. [Exkurs:] Akzeptiert man die Paarung Dialektik versus formale Logik, so ließe sich, mit Rainer Hoffmann zu reden, Logik als Denken im Angesichte des Denkens, Dialektik hingegen als Denken im Angesichte von Leid differenzieren. Die gängige und wohl von den meisten, sich an Hegel, Marx, Adorno, Benjamin, Bloch Orientierenden geteilte Präjudizierung einer bestimmten Sein-Bewußtsein -Konstellation dürfte so beschreibbar sei: "Viele Konstellationen stehen über dem weiten Meer der Geschichte. Welchem Gestirn soll der Weltodysseus auf seiner gefährlichen Reise vertrauen? Welcher Stern führt in den sicheren Hafen? Fragen, die über das Heil oder Unheil der Gattung entscheiden - aber weder die physikalische Mathematik, die formale Logik, noch irgendwelche Sprachspiele können darauf eine Antwort geben. Sondern allein die hartnäckige Reflexion auf die Leidenserfahrung der Menschheit. Nichts anderes aber ist dialektisches Denken" (kopierte Annotation zu einem Marcuse-Seminar 1984, Freiburg). Und dieses scheint nun, folgt man all den wissenschaftsinternen Tendenzen, die selbst bis in die Wirklichkeit hinein nur noch Paradoxien vermuten, hinfällig zu werden für die Bereitstellung einer an der Sache sich haltenden Methodologie und für die begriffliche Organisation des gedanklichen Materials mit Ausblick auf Transzendenz. Zu oft wohl ergab sich ein an der Dialektik sich orientierendes Entwickeln der Begriffarbeit einem Arbeiten mit den Begriffen und mutierte zu einem Verwickeln, das nicht Entfaltung, Begründung oder gar Erklärung mit sich führte, sondern nur noch durch variantenreiche "Clusterungen" von Subjekt und Objekt klärende Sicht verstopfte; zu oft wohl auch wurde die Einheit des Bewußtseins als Faktum ignoriert und daher Hunderte von Jahren Denkarbeit für die Begründung derselben, d.h. für die Begründung des Selbst des Bewußtseins, geopfert, anstatt zu sehen, daß die "übergeordnete, nicht zu hintergehende Vermittlungsfunktion des Bewußtseins" `die Erkennbarkeit des Selbstbewußtseins verhindert`: "es ist ebenso unerkennbar wie die Realität". Die Erklärung und nicht Begründung der Einheit des Bewußtseins sei daher "die Aufgabe der (Natur-)wissenschaft, nicht der Philosophie" (Jürgen von Stenglin, Denken der Wirklichkeit, Würzburg 1990, p101). Hatte in der Geschichte der Wissenschaften der letzten 200 Jahre trotz der überwältigenden Aktivitäten des "subversiven" Positivismus eine Arbeitsteilung zwischen Naturwissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen doch noch statt, wobei klar war, daß erstere die Daseinsumstände revolutionierten (oder schufen, bereitstellten usw.), letztere hingegen die Daseinsverständnisse - dazwischen ein klaffender Grund, Obdach der Ästhetik -, so ergibt sich heute, nimmt man Tendenzen der Biologie, der Neurologie, der cognitive science und der Systemtheorie ernst, eine eindeutige Verrückung derjenigen Funktionen, die Bedeutungs- und Begründungswissen für das Selbstverständnis der Menschen und Gesellschaften haben; sie werden scheinbar aufgehoben bzw. annulliert von naturwissenschaftlichen Modellen der Erkenntnis des "Daseins" oder aber zugerichtet als operationables Material für den Theorietyp der virtuellen Maschine bzw. für Maschinen, die als implementierte Theorie gelten können (Arno Bammé). Diese Modelle - zumindest in den avanciertesten Ausführungen - annullieren auch in ihrer logischen Grundlegung bis dato gängige Differenzen, wie sie in den Begriffen formal-logischer Rationalität versus (transzendental-)philosophischer und in der Unterscheidung syntaktisch-semantischer Widerspruchsfreiheit versus pragmatischer Widerspruchsfreiheit (K.-O.Apel) zur Darstellung kamen. Das theoretische Verlassen der zweiwertigen Aussagenlogik, der elementare Teil formaler Logik; überhaupt die Wendung, Logik nicht mehr als bloß korrigierendes, post festum auf bestehende Aussagen anzuwendendes Denkwerkzeug anzusehen, sondern als produzierendes Werkzeug, das neue "wahre Sätze" auffindet (so schon beim spanischen Philosophen Raimundus Lullus [1235-1315]), führt nun dazu, nicht mehr dem ausgeschlossenen Dritten oder, bei mehrwertigen Logiken, dem ausgeschlossenen Vierten zu huldigen, sondern zum Bestreben, Paradoxie in Form zu bringen. Die Logik George Spencer Browns etwa handelt demgemäß nicht mehr von Sätzen, die wahr oder unwahr sein können, sondern von Operationen, die Unterscheidungen und Bezeichnungen prozessieren (derselbe, Das Gesetz der Form, FFM 1993): eine nichtstationäre Logik, die auf sich in erheblichem Umfang Zeit anwendet. Ich zitiere N.Luhmanns Zusammenfassung (in: Derselbe, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, Merkur 4/1988, p292-300, hier: p296): "Sie beginnt mit der These, daß man eine Unterscheidung treffen muß, um eine Bezeichnung zu ermöglichen. Irgendeine Unterscheidung genügt. Aber darin liegt ein Paradox, denn die Unterscheidung, mit der man beginnt, muß sich, aber kann sich nicht, selbst unterscheiden; sonst könnte man nicht beginnen; sonst wäre sie, wie Spencer Brown sagt, keine Form. Man kann diese Logik daher als Kalkül für das Prozessieren einer Paradoxie auffassen, als Aufbau einer komplexen Ordnung, in der dann das am Anfang verschwiegene Paradox erscheinen kann. Es erscheint als re-entry - als Wiedereinführung der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene. Die Unterscheidung kommt dann doppelt vor: als Form, die Bezeichnungen überhaupt erst ermöglicht, und als Form in der Form. Es ist dieselbe und nicht dieselbe Unterscheidung!"

Solcherart Logik, die noch über Gotthard Günthers Versuch, einen `polykontexturalen Weltbegriff' zu kreieren (Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg 1978; Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde., Hamburg 1976-80), hinauszugehen versucht, will ernst machen mit der Unterstellung, daß Paradoxien nicht als solche der analytischen Instrumente, sondern als Realwidersprüche im Gegenstandsbereich der Theorie behandelt werden müssen (womit sich diese Unterstellung in einen "tieferen Bezug zur Marxschen Theorie" bringt, wie Luhmann bemerkt [Soziale Systeme, FFM 1988, 2.Aufl., p559, Anm.12]). Die theoriestrategische Bedeutung etwa der systemtheoretischen Verarbeitung solcherart nichtstationärer Logik, welche Logik in nichträumliche Verhältnisse expanieren lassen will, um die Komplexität der Freiheitsgrade und Kontrolleistungen in der Fixierung von Widersprüchen zu erhöhen (Luhmann, a.a.O., p525, Anm.54), wird klar, wenn man sich den Stellenwert von Selbstreferenz und Paradoxie vergegenwärtigt, wie er in der Architektur der Systemtheorie eingebaut wurde. Selbstreferenz bezeichnet die Einheit, die ein System, ein Prozeß usw. für sich selbst ist. Selbstreferentielle Einheit ist Produkt einer relationierenden Operation, nicht schon Vorausgesetzes, an das Operationen angeschlossen werden können. "Der Begriff muß sehr allgemein gefasst werden - je nachdem, was man mit `Selbst' meint und wie man Referenz auffasst. Man kann zum Beispiel von sich selbst intendierenden Akten sprechen (wobei Intendieren das Konstituens des Aktes ist) oder von sich selbst enthaltenden Mengen (wobei das Enthalten das Konstituens der Menge ist). Die Referenz verwendet dann genau die Operation, die das Selbst konstituiert, und wird unter dieser Bedingung entweder überflüssig oder paradox. Sie wird paradox, wenn die Möglichkeit des Verneinens [hier wäre eine weiter auszuführende Nähe zu den Ja/Nein- Stellungnahmen der Sprechakttheorie möglich; B.T.] hinzugenommen wird und man die Verneinung entweder auf das referierende oder auf das referierte Selbst beziehen [das informierende Mitteilen versus das mitteilende Informieren; B.T.] und zwischen diesen beiden Möglichkeiten auf Grund der Selbstreferenz nicht entscheiden kann. Paradoxwerden heißt: Verlust der Bestimmbarkeit, also der Anschlußfähigkeit für weitere Operationen" (Luhmann, a.a.O., p59). Eine Verbeispielung dieser Paradoxie sieht nach Luhmann so aus (kommunikationstheoretisches Paradox; a.a.O., p207-208): "Man braucht nicht zu meinen, was man sagt (zum Beispiel, wenn man `guten Morgen' sagt). Man kann gleichwohl nicht sagen, daß man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht. Außerdem müßte man dabei voraussetzen, daß man auch sagen könnte, daß man nicht meint, was man sagt. Wenn man aber dies sagt, kann der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt. Er landet beim Paradox des Epimenides. Er kann es nicht wissen, selbst wenn er sich Mühe gäbe, den Sprecher zu verstehen; also verliert die Kommunikation ihren Sinn" (auf die Sinn- und Funktionsmodelle (von Sprache) der Systemtheorie und ihre Differenz zur Transzendentalpragmatik bzw. zur Habermaschen Theorie sei hier nicht eingegangen, auch nicht auf die Differenzen der Geltungsansprüche).

Da nun selbstreferentiell operierende Systeme "mithin nur komplex werden, wenn es ihnen gelingt, dieses Problem zu lösen, sich also zu entparadoxieren" (dito), muß die Theorie "Zusatzvorkehrungen für Anschlußfähigkeit" treffen. Und das tut sie zuvörderst durch ihr Hintersichlassen klassischer Logik. "Jede Differenz ist eine sich-oktroyierende Differenz. Sie gewinnt ihre Operationsfähigkeit, ihre Fähigkeit, Informationsgewinn zu stimulieren, durch Ausschluß dritter Möglichkeiten. Die klassische Logik folgt diesem Prinzip. Die Weltlogik kann dagegen nur eine Logik des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten sein" (Luhmann, a.a.O., p285).

Für die klassisch aristotelische Logik ist der Gegensatz von Denken und Sein nur im Absoluten aufhebbar. Die göttliche Logik ist somit einwertig. Mehrwertige Logiken, wie etwa die der Kybernetik, macht es hingegen denkbar, in Mechanismen Bewußtseinsanalogien zu erzeugen, die sich zum menschlichen Bewußtsein so verhalten würden, wie das letztere zu einem hypostasierten göttlichen Denken (G.Günther: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, Baden-Baden/Krefeld 1963, p49, zitiert nach: V.Grassmuck, Vom Animismus zur Animation, Hamburg 1988, p47). Diese Mechanismen sind solche der Information bzw. der informationstheoretisch ausgerichteten Kommunikation. "Wir haben es also mit der Extraktion der medialen Substanz aus den reinen Sphären von Subjekt und Objekt und der Konstitution einer autonomen Zwischen-Sphäre der Information zu tun. Die Information zieht in die Materie ein und präsentiert uns ein mechanisches, antwortendes Bewußtsein" (V.Grassmuck, a.a.O., p52).
 
 

3.

Die im hiesigen Sinne verstandene invasive Introspektion als elementares Konstituens von Welterzeugung im nichtmetaphysischen Sinne flieht der maßgeblichen Architektur von theoretischen Angeboten, Sinn, Welt, Bezüglichkeiten und Situationen zu definieren: nämlich der Architektur von (theoretischen) Erwartungen an die Gründungskraft "des" Grundes. Mit Hilfe einer Begrifflichkeit, wie sie sich etwa in "doppelter Kontingenz", "Emergenz", "Selbstreferentialität", "Autopoiesis", "subsymbolisches Paradigma" und "Kopplungsviabiltät von Emergenz und Welterzeugung" dartut, versuchen die sie benutzenden neuen Beschreibungen einen Bewußtsein endgültig naturalisierenden Weg der Verrükkung und Auflösung bis dato gebräuchlicher Grenzen und Zusammenhalte zu gehen, der Sinn-, Erklärungs-, Verortungs- und Verstehensangebote unbegehbar macht, die sich an den Leitdifferenzen "Wesen - Erscheinung", "Subjekt - Objekt", "materiale Präsentation - semiotische Repräsentation" und "Universalismus - Partikularismus" orientieren. Die fortgeschrittene Systemtheorie, der viable Konnektionismus, Theorien über mutualistische Konstitutionen von "Sozialität" stehen dabei vor dem Problem, daß sie sich einerseits in vielen Bereichen mit der praxis- und handlungsabgewandten Hermeneutik treffen, sich aber von einer ihrer wesentlichen Kategorien zu distanzieren haben: nämlich vom Sinn. Und sie stehen vor dem Problem, daß sie, indem sie die Erfolgsbedingungen von Handlungen und Erkenntnissen mittels handlungsbezogener Ansätze zu fassen suchen, sich theoretisch treffen mit der Praxisphilosophie eines C.Castoriadis (Gesellschaft als imaginäre Institution, FFM 1984) und mit einer in die materialistische Dialektik eingelassenen Hermeneutik, sich aber von deren wesentlichem Kritierium zu distanzieren haben: nämlich von der richtungsweisenden Transzendenz. Neben diesen eher internen Abgrenzungsbedürfnissen (etwa auch gegenüber dem biologischen Neokantianismus eines K.Lorenz) steht für alle theoretischen Beschreibungen aber fest, daß Inkorporation des Anderen, Eliminierung des sich nicht aus seiner Hülle des Fremd-Seins begebenden Ungewohnten, daß Zurichtung und Ausschlachtung des sich nicht aus seiner Verselbstständigtheit Ergebenden, kurz: daß die Verzwekkung des sich nicht selbstverständlich in eine Einheit oder unter eine erkennende Kontrolle bringenden Differenten zu eigenlosem Material für den Aufbau einer gesichterten Identität, einer wirksam Kontrolle ausübenden Erkenntnis, eines in der Welt erfolgreichen, weil Widerstände und -sprüche überwindenden Handelns nicht mehr der richtige Weg ist, um der Komplexität und Kontextsensitivität von Ordnungsleistungen sowie der Fragilität von sozialen und kognitiven Beziehungen auf die Spur zu kommen. Nicht mehr vorgegebene Probleme sind es, die durch Eingreifen in Welt gelöst werden könnten; es geht vielmehr darum, in eine mit anderen geteilte Welt einzutreten (ohne kaputtzutrampeln; nicht mehr die Welt aneignungsfähig zurichten konstituiert das vermeintliche Subjekt, sondern das in sich Anverwandeln der Beoabachtungen und Erwiderungen des "Anderen", der "mich" beobachtet: man bleibt außen vor, um überhaupt kontaktermöglichenden Zugang zu finden). Oder, abschließend verkürzt: Das Unvorhergesehene und der Unvorhersehende sind, was schon immer geschieht (englisches Sprichwort).
 
 

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Denkt man nach oder versucht zumindest, wieder Worte mit Sinn auf den Monitor zu bringen, denkt man dem Begriff Gesellschaft nach, den man parat hat, um das zu bündeln, was passiert und ist und nicht ist, was früher das Leben genannt und damit verkannt wurde, denkt man also nach den Begriffen (die nur in Mehrzahl oder besser -heit auftreten im sprechenkönnenden Hirn), die einem suggerieren, eine freie Fläche zur Verfügung zu haben, auf der man die unendlichen Knoten gesellschaftlichen Seins bis hin zur letzten Windung entfalten könne, denkt man also so, dann denkt man gehemmt. Automatisch hemmt das weitere Nachdenken dessen, was in nichtbedachten Momenten als selbstverständlich hingenommen und auch nicht als Gefahr erfasst wird, das weitere Selbstverständlich-sein-lassen des Selbstverständlichen. Es wird zu einem Monstrum, das sich als lückenlose Umstellung mit Unbekanntheit kenntlich macht, das sich mit Notwendigkeiten bis zum Platzen gefüllt einem aufdrängt und damit unausweichlich kund gibt, anders zu sein als selbstverständlich. Im Blick auf die begriffliche Wirklichkeit der nichtgreifbaren Wirklichkeit des Selbstverständlichen erkennt der lesende Seher an der Schwärze und dem Dunkel, wie nahe dran er an diesem opulenten Selbstverständlichen ist. Aber nahe dran ist nicht drin. Das bleibt der Stachel, immer noch erkennen zu müssen, nicht, um zu erkennen, wie von Minute zu Minute die Welt der Selbstverständlichkeit sich entfremdet, sondern um an sich zu fassen, daß noch eine Kommunikation, eine Verbindung möglich ist zwischen mir und der Welt, eine Verbindung, die nur funktioniert, wenn die selbstverständliche Welt ihr - früher sagte man - wahres Gesicht zeigt: abstoßend, beängstigend, fremd und nur unter Schmerz anschaubar.
4.

"Heute" will man nichts mehr näherkommen - gesellschaftstheoretisch. Gleichzeitig versucht man "naturwissenschaftlich" allen Wesentlichkeiten auf die Spur zu kommen, die bis dato noch nicht logischen Prinzipien der Maschine und also der praktischen Simulation zugänglich sind: Wesentlichkeiten der menschlichen Genetik, der menschlichen Kommunikation, des Denkens, kurz: des Lebens. Die schmerzlichen Erfahrungen des Festklopfens von Divergentem auf sie vereinheitlichenden Strukturen, auf ihnen zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten, kurz: der Preis der Unterstellung eines immer wieder sich ergebenden gleichen Ausklangs von völlig verschiedenen Geschichten führt seit gut zwei Jahrzehnten dazu, Abstand zu nehmen von den (intellektuellen) Präsuppositionen, Zugang finden, erkennen, aneignen, verstehen und die Welt planen und bewältigen zu können. Innerhalb des spezialisierten KulturMarktsegments Gesellschaftstheorie oder gar noch Erkenntnistheorie hat der Versuch statt, Geschichten zu erzählen oder Argumente geltend zu machen, die nicht mehr die Gewißheit einer ihnen gemeinsamen Richtung, eines ihnen gemeinsamen Endes oder gar Sinns im theoretischen Handgepäck mit sich führen. Diese Versuche machen ernst mit der Einsicht, daß die (hegelsche) Bewegung der Begriffe, die soviel soziale Symbolik trug, daß man an ihr die Welt aufzuhängen und zu repräsentieren glaubte, letztlich doch nur ein Schleifen war, das sich nicht der Abhängigkeit von den Mythen des Fortschritts und der "Revolution" bewußt wurde, an denen die Futurisierung und die Entwerfbarkeit der Geographie befestigt waren. Folglich treten Beschreibungen, Erzählungen und Erklärungen auf den Plan, die sich vordringlich mit dem Verlorengegangenen, dem Ausgelaufenen, dem Abgedrifteten und Vernichteten "beschäftigen" (zur Systemtheorie später), das vormals als Erkanntes, Herangezogenes, Vergegenständlichtes, Festgestelltes und Aufgehobenes über Jahrhunderte das Denken in Kohäsion befindlich erscheinen ließ. Das Eingeständnis eines endgültigen Ausschlußes aus dem Paradies eines selbstirrenden Denkens, das überzeugt war, im Kessel der Konvergenz und Universalität von Zeit, Raum und sozialem Artefakt den Mittelpunkt abzugeben, geht nun - und darin liegt eine andere Art Fortschritt - nicht einher mit einer aus Angst vor Leere getriebenen Neuerrichtung potjemkinscher Dörfer, in denen sich ein neues oder gar verschüttetes Subjekt der Geschichte und der sozialen Zeit heimisch macht. Nein: Der rekonstruktiv und auch dekonstruktiv geleitete Versuch eines auf der Höhe der Zeit sich wähnenden Anschlußes an "die" Begriffs-, Ideen-, Produktions- und Praxisgeschichte des sogenannten okzidentalen Rationalismus will mit einem Abschluß derselben in eins fallen und dabei den performativen Widerspruch ignorieren, exakt mit den Mitteln und Paradigmen Immanenz zu sprengen, die selber zur Sprengung vorgesehen sind. So wie Hegel einst die gesamte Vernunft bei sich und durch ihn zu sich selbst kommend wähnte (und die Sittlichkeit durch den preußischen Staat), so müssen die theoretischen Entwerter der Planbar-, Gestaltbar-, Erkennbar- und Vernünftigkeit der modernen Wirklichkeit einen für sie priviligierten Zugang oder Überblick über die "erloschenen Vulkane" reklamieren, quasi einen extramundanen Beobachtungsposten, der sich dann etwa gegen die Entwertung der Entwertung - denn auch Entwertung ist Wertung - immunisiert. Oder aber sie "springen" theoretisch ins Reich der Notwendigkeit ohne Bezug zur kantschen Freiheit als Einsicht in dieselbe, um jegliche Grenze, die das Reich der sogenannten Freiheit gezogen und also zu überwinden trachtete, einzuziehen in die Binnenleere des Pragmatismus: das schrittweise Heraussaugen der Vernunft, sei sie politisch, gedanklich oder einfach nur kommunikativer Art, aus den Sphären der Zeit, der Zukunft, des Fortschritts und der Revolution, ja auch aus denen der Widersprüchlichkeit, der Dialektik und der Transzendenz, wird dann gekoppelt mit der Impertinenz eines weltläufig daherkommenden Provinzialismus emanzipativer Praxis, der vorgibt, letzter Aufenthaltsort des Besonderen zu sein, zu dem es jedoch kein Hinkommen mehr gibt.

Nicht umsonst also reagierte ein Teil der Postmoderne auf diese scheinbare Ausweglosigkeit, immer schon der Igel zu sein, auch wenn man alles daran setzt, Hase zu werden, und auf die scheinbare Abstandslosigkeit, immer schon da zu sein, wo man noch hin will, mit einer Hypostasierung des Augenblicks, in dem das Aus- und das Eintreten sich zeitlich zu treffen vermögen; nicht umsonst damit, aus der Not der sich selbst verunmöglich machenden Differenzierung des Erkannten und des Erkennens die Tugend der "Ver-gleichbedeutung" zu kreieren, welche alles zu Zeichen werden läßt, die unendlich beliebig zusammensetz- und verweisbar werden (vergleichbar mit dem Band "1989" aus dem Opus "Festung" von Rainald Goetz, FFM 1993). Das kommentierende Subjekt entfernt sich. "Es ist, als würden bloß noch die Türen aufgerissen, aus denen herrenlose Rede quillt" (Thomas Groß), oder Zeichen, Bilder, Texte. Man hält die Kulturtechnik "verstehen" oder "Sinn erzeugen" aus ihrer Verwüstung heraus, indem man sich weigert, auf Texte, Bilder, Zeichen noch die Dyaden verstehen-unverständlich und Sinn-Unsinn anzuwenden. Hier ist auch nichts mehr auffindbar, daß an Blochs Forderung eines unverfälschten Ordnens im offenen System oder an seine objektiv-reale Hermeneutik erinnert, die Sinn aus dem prozesshaften Hervorholen des "Materials" herauszubringen versucht.

Man darf hier wirklich von einer Digitalisierung des Bedeutens sprechen, nachdem alle historischen, symbolischen und soziokulturellen "Merkmale" sprachlicher und schriftlicher Texte abgezogen und durch ein selbstbezügliches Verweisen der Zeichen auf sich selbst ersetzt wurden. Aussagen, semantischen und symbolischen Gebilden schriftlicher Sprache wird jegliche Korrespondenz mit oder gar Repräsentation der Wirklichkeit unterschiedlichster Welten "abgesprochen" und die Gehalte an Wahrhaftigkeit, Intentionalität und Wahrheit der selbstläufigen Produktion von sich selbst bestimmenden Kontexten über"antwortet", die sich nur noch in ihrem Moment als Medium einer kulturellen Praxis des Lesens, Schreibens, Erklärens und Begreifens anschliessen lassen, nicht mehr aber in ihrem Moment des sprachlichen Welterschliessens, -verstehens oder gar -konstituierens: Die Wirklichkeit der Welten habe mit der Welt der Sprache nichts mehr gemein außer das Eingeständnis, unerklärbar zu sein.

Digitalisierung meint jedoch, Kontexte in Richtung ihrer Atomisierbarkeit, in Richtung ihrer Dekontextualisierungspotenz zu erschliessen bzw. zu konstituieren; sie schließt die Abkopplung der Mittel von ihren Zwecken als endgültige ein, um der Selbst-Erhaltung als maßgeblichen Focus genügend Material, Zeit und Handlungen zur Verfügung zu stellen: die Erhöhung der Anschluß- und Kompatibilitätsrate als Focus zweiter Stufe läßt demgemäß nur noch eine "funktionalistische Darstellung" zu, die es ihrerseits nicht mehr zuläßt, etwa die grundlegende Erfahrung, "daß sich vielfach erst im Handeln selbst herausstellt, was wir wollen und was wir tun", "als eine zum Handeln selbst gehörende Willensbildung" wahrzunehmen. "Die Handlungswirklichkeit liefert keinen Beitrag zur Bestimmung unseres Handelns. Sie reduziert sich auf Verwirklichung oder auf Ausführung" (O.Schwemmer, Aspekte der Handlungsrationalität. Überlegungen zur historischen und dialogischen Struktur unseres Handelns, in: H.Schnädelbach (Hg.): Rationalität, FFM 1984, p175-197, hier: p177-78).

Ersichtlich bereitet hier der Begriff Funktion Abwehr. Aber warum? Weil er in Luhmanns Architektur von Theorie einen zentralen Stellenwert besitzt und man partout nicht gewillt ist, sich in diesen systemtheoretischen Gebäuden heimisch fühlen zu wollen? Weil Funktion auch heißt, daß die Zeit des "Darüber-Redens" vorbei ist und nur mit Mühe wieder eingeklagt werden kann? Weil die Funktion sich gleichgültig gegenüber unseren Ideen erweist dadurch, nur die Äquivalenz eines Funktionsmittels zu beachten und den materialen Eigenwert und die eigenartige Gestalt des jeweiligen Funktionskandidaten ausblenden zu können? (Kurzexkurs: Zu denken ist hier vorallem an eine systemtheoretische Ausweitung dessen, was M.Polanyi [Implizites Wissen, FFM 1985, p19 ff.] als die funktionale Struktur des impliziten Wissens genannt hat. U.a. durch Experimente mit Probanten, denen Stromstöße bei bestimmten Wörtern verabreicht wurden, kommt Polanyi zu einer Zweiteilung des aktuellen Wissens der Probanten: Die besonderen Umstände, die den Schlag auslösen, kennen sie nur insoweit, als sie in Erwartung von etwas anderem, nämlich des elektrischen Schlages, sich auf ihr Gewahrwerden dieser Umstände verlassen, weshalb ihr Wissen von ihnen implizit bleibt. Die Generalisierung dieser Teilung des Wissens in einen proximalen Term [die konkrete Materialität des Wissensobjekts] und einen distalen Term [die Einheit, der Zusammenhang, die Bedeutung des Wissensobjekts] führt dann zur Grundlegung ihrer funktionalen Struktur: "Wir kennen den ersten Term nur, insofern wir uns auf unser Gewahrwerden dieses ersten Terms verlassen, um den zweiten zu erwarten" [Polanyi, a.a.O., p18]. Der erste Term bleibt ein Wissen, das wir nicht in Worten angeben und nicht erkennen können. Es ist ein Wissen, von dem wir nur wissen, daß wir es gewußt bzw. erkannt haben. Es bleibt inkommunikabel.

Aus den funktionalen, phänomenalen und semantischen Aspekten dieses impliziten Wissens leitet Polanyi einen ontologischen Aspekt ab. "Sofern implizites Wissen eine bedeutungstragende Beziehung zwischen zwei Gliedern herstellt, können wir es mit dem Verstehen jener komplexen Entität gleichsetzen, die die beiden Terme zusammen bilden. Der proximale Term stellt dann die Einzelheiten dieser Entität dar, und entsprechend können wir sagen, daß wir die Entität verstehen, indem wir uns, gestützt auf unser Gewahrwerden ihrer einzelnen Merkmale, ihrer Gesamtbedeutung zuwenden [a.a.O., p21]. Indem Polanyi diese Einsicht auf den Bereich sinnlicher Wahrnehmung bezieht und dadurch Wahrnehmung wieder an Projektion bindet, also an eine Hergestelltwerdung, wofür er die Reichweite des impliziten Wissens auch auf das Nervensystem ausweiten muß, widerspricht er der Auffassung von Wahrnehmung als einer aprojizierenden, die ja die inneren Prozesse, welche wir angeblich zu Qualitäten wahrgenommener Dinge projizieren, vorher nicht registriert. Gleichzeitig unterläuft er Diltheys Trennung der Geisteswissenschaften von den der Natur, indem er dessen Begriff des sich Einfühlens, des sich Hineinversetzens, des Verstehens, welcher genuin nur den Geisteswissenschaften zukomme im Gegensatz zum logisch-kausalen Erklären der Naturwissenschaften, als eine Erscheinungsform impliziten Wissens aufhebt, das gleichermaßen auch die formalen Systeme der Erklärung und Beschreibung grundiert: Einfühlung, wie sie sich aus der Struktur impliziten Wissens ergibt, sei die Grundlage aller Beobachtungen. Ersichtlich baut demgemäß Erkenntnis vom Komplexen sich auf, wenn von Komplexem keine angebbare Erkenntnis sich einstellt. Wir verstehen die Bedeutung unfassender Entitäten nicht durch den bloßen Blick auf die Dinge, sondern durch Einfühlung [a.a.O., p25]. Oder, in anderen Worten: "Wir sehen nun, wieso ungetrübte Klarheit unser Verstehen komplexer Sachverhalte zunichte machen kann" [dito]. Oder, um es paradox zu formulieren: Um das Ganze einzusehen, muß vom Einzelnen abgesehen werden. Die Materialität des einzelnen Terms ist nur darin wichtig, daß von ihr abgesehen wird, d.h. umgedreht, daß nur abgesehen werden kann [und dann zu etwas hin], wenn die einzelnen Terme eine Materialität haben. Die Funktion dieser Materialität ist aber einzig die, daß sie sich nicht erkennbar angeben läßt. Sie verschwindet im einheitsstiftenden Sog der Hermeneutik; Exkursende). Weil das Korsett des Funktionszusammenhangs letztlich die (historische Ge- und) Beschaffenheit des zu funktionalisierenden Gegenstandens ( des Sachverhalts, der Handlung etc.) abkoppelt von der Bedeutung der Be- und Geschaffenheit für die vergegenständlichte Funktion und sie nun allen außenstehenden Diskursen zuspielt (vorallem dem Ästhetik-Diskurs)? Und die diese Abkopplung nun dadurch bestätigen, daß sie die Bedeutung der Be- und Geschaffenheit des funktionalisierten Gegenstandes für das Funktionieren (als Prozeß) der Funktion (als Kalkül) ihrerseits in Abrede stellen und ästhetische, quasiontologische oder sinnlose Interpretationen an deren Stelle setzen, deren Focus - überpointiert gesagt - die Dysfunktion ist?

Ist es die Angst einzugestehen, daß funktionale Äquivalenz die Hinrichterin der Identität (nicht der Einheit) ist; der systemtheoretische Funktionszusammenhang der der dialektischen Beziehung: die System/Umwelt-Grenze die des historischen Ereignisses; die selbstreferentiell geschlossene Autopoiesis die der jenseitigen Transzendenz?

Erfahrung als recht klägliche Erbin der "Praxis", der Arbeit, des vergegenständlichenden Aneignens wird somit zunehmend und gar zwingend vom "informierten Wissen" als ebensolche Erbin des Selbstbewußtseins, des reflektierenden Bewußtseins und des sich seienden Subjekts abgelöst und verkümmert in ihrer Kapazität in beinahe nur noch esoterischen Welt-, Körper- und Ichbeziehungen, während das informierte Wissen als neue Haut einer virtuellen Welt von Kommunikationsmonaden sich aufzuspielen beginnt als der entscheidende "Flaschenhals" für den Zugang zu, sprich: für die Anschließbarkeit mit Informations-, Themen-, Meinungs- und Weltinterpretationsaustauschströmen, die zwischen den großen Apparaturen der Informations-, Unterhaltungs- und Kontrollkonzerne als Zirkulationssphäre für die Realisierung des Warenwerts von Wissens- und Unterhaltungsprodukten wirken (ob hier noch eine politökonomische Sichtweise angebracht ist, sei später in Auseinandersetzung mit J.Baudrillard diskutiert). Die Konsequenzen für das Selbstverständnis erscheinen gewichtig: Die Grenze "meiner" Welt konvergiert nicht mehr auf die meiner Sprache (Wittgensteins Satz Nummer 5.6); die Grenze meiner Sprachwelt beginnt schon da, wo die "Welt" nicht mehr durch meinen Gebrauch der Sprache gewußt wird, sondern durch immer verfeinerte Sprach- und Wissensfertigprodukte sich zeigt. Höhepunkt dieser Entwicklung wäre die vom Konnektionismus in Angriff genommene Implementierung natürlichsprachlicher Systeme in neuronalen Rechnern: Ein Unternehmen, das, aufbauend auf die Referenzsemantik von Frege und Russell, auf die Sprechakttheorie Searls und die kontextfreien Grammatiken Chomskys (Grassmuck, a.a.O., p164), den Versuch unternimmt, alle kognitiven, sozialen, kommunikativen und instrumentellen Aspekte, die bei natürlichem Dialog die Bedingungen der Ermöglichung von Verständigung abgeben, subjektfrei zu machen, will sagen: das den Versuch unternimmt, die Dialogizität natürlicher Sprache bewußtseinsfrei zu erschaffen. Gerade in dem Moment, wo die Post-von Neumann-Architekten künstlicher Systeme auf die härtesten Brocken des Menschen stoßen, die sich nicht in einer virtuellen Maschine abbilden/simulieren lassen (Spracherwerb, Sprachgebrauch, Sprechen, tacit knowledge, implizites Wissen), werden ungeheuere Anstrengungen unternommen, ebendiese auch noch einer Digitalisierung zugänglich zu machen: Neuronalen Rechnern, die ohne Prgramm-software "lernen", wird ein implizites Wissen implementiert, um an das implizite Wissen des Menschen heranzukommen und es seiner Bewußtseinsabhängigkeit zu berauben. Die Maschine wird in einem bis dato unerreichten Maße anthropomorphisiert (aufbauend auf ganz bestimmten neurophysiologischen Modellen des Gehirns), um in ebensolchem Maße elementare Ausstattungen des Menschen zu maschinisieren. Husserls rhetorische Frage: "Die Maschine ist freilich keine denkende, sie versteht sich selbst nicht und nicht die Bedeutung ihrer Leistungen; aber könnte nicht unsere Denkmaschine sonst in ähnlicher Weise funktionieren, nur daß der reale Gang des einen Denkens durch die in einem anderen Denken hervortretende Einsicht in die logische Gesetzlichkeit allzeit als richtig anerkannt werden müßte?" (zit. nach: T.W.Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, FFM 1990, p70) würde also nicht nur philosophisch, sondern ganz praktisch, sprich: technisch machbar in Richtung einer Bejahung beantwortet. Darf heutige Kritik aber wie Adorno maßgeblich auf die Einheit des Selbstbewußtseins und also auf die Unmöglichkeit mehrerer "Denken" insistieren, um der "Textwerdung" von Mensch und Maschine argumentativ Paroli zu bieten? Wenn das Subjekt (Wittgensteins) zwar weiterhin nicht zur Welt gehört ; aber es zusätzlich seine Position verloren hat, eine Grenze der Welt zu sein (Satz Nummer 5.632; es ist bezeichnend, daß Wittgenstein diese Sätze im Rahmen einer Klärung der Wahrhaftigkeit des Solispismus erläutert): Ist es dann noch sinnreich, von der Bastion der Selbstreflexivität des Bewußtseins aus gegen die endgültige Auflösung des Subjekts in "subsymbolische Systemnetze" anzulaufen?

Die theoretisch ganz einfache Differenz zwischen einem Sprach- oder Weltbild von Welt und der Welt selber (die allerdings nicht sagbar ist) löst sich, so die Erfahrung seit Einführung der Operationalität als hegemoniale Begrifflichkeit der Sein-Bewußtsein - Beziehung und seit der Einführung telematischer Materialität, in der Praxis auf zu jenem Phantom, das nach G. Anders eine eigene Wirklichkeit im Handgepäck hat und das Insistieren auf obengenannte Differenz zugunsten einer Fusion von Wirklichkeit und Wirklichkeit eines systemischen Wirklichkeitsbildes tendenziell verunmöglicht (derselbe, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1, München 71992, p129-154). Auch hierauf hat ein Teil der gewollten Postmoderne, im speziellen Jean Baudrillard, mit wünschenswerter Festigkeit das Verschwimmen semantisch lesbar gemacht.
 
 

5.

Invasive Introspektion - auf den ersten Blick ein Eye-word-Gebilde, eine gelungene Wortwahl, um Fremdwörterfetischismus zu demonstrieren; oder ein Beispiel für die Einstellung, Verständlichkeit als Fetisch zu betrachten (siehe : Barbara Sichtermann, Fetisch Verständlichkeit. Ein Plädoyer für Fremdwörter und komplizierte Sprache; Freibeuter 16/1983, p1-9).

Und auch bei einem zweiten ersten Blick stellt sich Sprödheit ein - semantische bzw. logische Sprödheit; denn während Invasives immer in Nichteigenes eindringt oder im medizinischen Sinne in umgebendes Gewebe wuchernd hineinwächst, also die Innen-Außen-Grenze durchstößt, möchte Introspektion nicht nur nicht eindringen, sondern erst gar nicht in ein Fremdes, Anderes "hineinsehen": sie bleibt bei sich, sieht in sich hinein, beobachtet sich bzw. das Fremde in sich in der aktuellen Erscheinungsform des eigenen Ichs, das sich beobachtet (im nichtpsychologischen Emanzipationsjargon könnte man auch sagen, man reflektiert auf sich mit dem Interesse, anhand der nichtreflektierten dunklen Stellen des Selbst allmählich vervollkommnende Konturen ziehen zu können, die das fragmentierte, gelöchterte Selbst zur Einheit und zur Sprache bringen). In der klassischen Situation eines therapeutisch-psychoanalytischen Diskurses wird der nichtpenetrierende Charakter der Introspektion scheinbar auf die Spitze getrieben: der erkennenwollende Analytiker beobachtet das In-sich-Hineinsehen des Analysanden an sich durch sein Sich-Einfühlen in dessen Introspektion (H.Kohut, Introspektion, Empathie und Psychoanalyse, FFM 1977, p9 ff.).

Eindringendes Hineinsehen - ein Widerspruch?

Offensichtlich ja, wenn die Grenzen, die Innen und Außen, Eigenes und Nichteigenes, Bekanntes (nicht Erkanntes) und Fremdes sowie Ich und Nicht-Ich bisher mehr oder weniger bestimmend trennen und damit in Beziehung setzen (bis hin zu binärem Kode-Status bzw. dem des Leitdifferenz-Seins), bar einer Revision bleiben, die sie ver-rückt. Was ist gemeint?

Zuvörderst gilt es, diese Frage als eine "sokratische" zu verstehen. Damit ist gemeint, daß es ihr um Philosophie als Aufklärung, nicht so sehr um Philosophie als Wissenschaft geht. Ihr Augenmerk liegt in der Klärung von Voraussetzungen, die wir immer schon gemacht haben, wenn wir etwas meinen, sagen, denken, erkennen und zur Theorie erheben. Dieses Klären hat sich, will es nicht vollends folgenlos bleiben, jedoch bestimmten wissenschaftlichen Kategorien auszuliefern; etwa der Rationalität von Argumentation und der Geltungsbegründung von theoretischen Ansprüchen: Focus bleibt die Wahrheit, Modus eine prozedurale Rationalität, Geltung bleibt transzendental.

Was passiert nun, wenn durch neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, der Neurologie, selbst der Philosophie Beschreibungen des elementaren Verhältnisses von Mensch und Welt, sprich: von Subjekt und Objekt auf den Plan treten, die durch ihre gemeinsame Stoßrichtung, nämlich die Naturalisierung des Erkennens, des Sprechens, des Selbst und der Gesellschaft, jegliches weitere philosophische Klären und Erklären der Voraussetzungen von Sprache, Erkenntnis, Identität und Gesellschaft ad absurdum führen, will sagen: das Privileg der Philosophie, Epistemologie und Erkenntnistheorie, die alleinigen Schürfrechte an den Prozessen des Erkennens, Verstehens und Handelns zu besitzen, übergehen? Was passiert, wenn die Kritik des Erkennens, Wissens und Verstehens aus der philosophischen Studierstube ins Labor gebracht wird (F.Varela)?; sich die philosophischen Traktate der Erkenntnistheorie ausnehmen wie Pausenfüller, die sofort abgebrochen werden, wenn - wie es heute scheint - die analytischen und vorallem technischen Werkzeuge zur Verfügung stehen, um das Universum des Bewußtseins (Erkennen, Wissen, Verstehen, Sprechen, Planen) vollständig aspekulativ aus seinen naturalen Elementen zu beschreiben?; wenn sich, um es in der Sprache der Systemtheorie zu formulieren, das Handlungssystem (mit seinen Subsystemen des Sozialen, der Kultur, der Persönlichkeit und des Verhaltens) in seinen basalen Elementen auf die Strukturen des physiko-chemischen und des organischen Systems rückführen läßt?

Kurzum: eine neue wissenschaftliche und philosophische Beschreibung des Verhältnisses von Mensch und Welt bahnt sich seit etwa 10 Jahren an, eine Beschreibung, die an den essentials des "philosophischen" common sense menschlicher Kognition kaum noch ein Haar übrig läßt (außer solchen Haaren, die innovationsschwache `ceteris paribus'-Situationen schmücken): so fällt etwa die dem "westlichen" Denken beinahe immanente Überzeugung, Wissen als eine Art Spiegel der Natur zu verstehen (R.Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1981); es fällt die Überzeugung, daß sich Welt und Weltwissen in einer Repräsentation durch Symbole, Zeichen und Sprachen wiederfinden und dort konvergieren (F.J.Varela, Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik, FFM 1990); demgegenüber wächst die Überzeugung, daß Verstehen zirkuläre Tätigkeit ist, in der Handeln und Erkennen, der Handelnde und das Erkannte, Subjekt und Objekt in einem unzertrennbaren Kreis miteinander verbunden sind (philosophische Vorläufer sind hier M.Heidegger, M.Merleau-Ponty, M.Foucault, H.-G.Gadamer); wächst die Überzeugung, daß "kognitive Eigenschaften" in lebenden Systemen jenseits von Optimalitätsüberlegungen im darwinistischen Evolutionssinne entstanden sind; und wächst die Überzeugung, daß die Tatsache, daß "Welt" uns so erscheint, als sei sie "außen", nicht dazu führen darf zu glauben, daß dies auch der Fall sei und demgemäß Wissen darin besteht, diese "Fälle" als Tatsachen abzubilden.

Zur Zeit fällt eine eigenartige Koinzidenz auf, nämlich: Während in der menschlichen Geschichtsschreibung der Geschichte und der Gesellschaft die bisher benutzten "Programme" immer öfter abstürzen bzw. ihre Inkompatibilität mit den Realien vermeintlich gelungener Dialektisierung, Futurisierung, Projektierung, Rationalisierung und Zivilisierung offenbahren und sich nirgends ein Licht im Dunkel auftut, wie es innerhalb der bisherigen geschichtsphilosophischen Gewichtsklasse weitergehen könne, erreicht demgegenüber innerhalb der Geschichtsschreibung der Auffassungen menschlicher (Selbst-)Erkenntnis [Varela] die Beschreibbarkeit von Wandel derselben exakt das Niveau, das Ulrich Beck mit dem Satz der grundlegenden Wandlung der Grundlagen des Wandels zu fassen suchte. Sollten sich nämlich die Vorschläge des philosophischen Relativismus, der konnektionistischen Erkenntnistheorie und der theoretischen Neurologie ideologisch/paradigmatisch durchsetzen (wofür angesichts einer allgegenwärtigen Promotion komplexer Heteronomie-Modelle und dem allgemeinen Beklatschen jedweder Heterodoxie viel spricht), dann werden sich die in Jahrtausenden aufgebauten und in Kultur, Gesellschaft und "Psyche" eingegangenen Selbstbilder des Menschen "zum ersten Mal" [Varela] mit naturwissenschaftlichen Konstrukten verknüpfen und von diesen grund-legend verändert. Eine heute exotisch anmutende Aussage der Art, daß etwa eine Veränderung der Körperhaltung bei gleicher sensorischer Stimulation die neuronalen Reaktionen im primären visuellen Cortex verändert, daß also das Motorium mit dem Sensorium in Wechselwirkung steht (M.Abeles, Local Circuits, New York 1984), könnte dann als marginale Selbstverständlichkeit gelten innerhalb einer Mensch-Welt-Betrachtungsweise, die sich durch Begriffe wie subsymbolisches Paradigma, ontologisches Wissen, handlungsbezogenes Welthervorbringen und Viabilität des in die mit anderen geteilte Welt Eintretens markiert und nach den fünf großen Entzauberungen des Menschen (neolithische, kopernikanische, darwinsche, freudsche und soziologische Revolution) wohl die sechste vorzubereiten scheint: die Entzauberung der Wirklichkeit [(ent-)wirklich(t)e Entzauberung].

Invasive Introspektion, das Thema dieser Sätze, ist also verortet innerhalb der neueren Diskurse, die sich mit dem Bewußtsein und dem Verhältnis des Menschen zur und in der Welt beschäftigen und in denen von der - jetzt zugespitzten - Annahme ausgegangen wird, daß "kein lebendes System dank der Zufuhr von Leben aus der Umwelt lebt", daß "kein informationsverarbeitendes System Informationen aus der Umwelt beziehen kann", daß "Informationen immer interne Konstrukte sind", kurzum: daß "kognitive Systeme als umweltoffene Systeme operieren, weil und soweit sie selbstreferentiell geschlossen operieren. Offenheit beruht auf Geschlossenheit" (N.Luhmann, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie, Merkur 4/1988, p292-300; p294-5). Wo aber und vorallem wie geschieht eindringendes Hineinsehen (etwa eines Systems in ein anderes), wenn systemtheoretisch jegliches Hineinsehen, jeglicher Kontakt mit dem Draußen verunmöglicht wird? Wie kann Ego, das im Verhältnis zum alter außen ist, von sich aus ins alter, das im Verhältnis zum Ego ebenfalls außen ist, einsehen und durchs einsehen eindringen, wenn jeder Außenkontakt eines Systems bereits schon als Kognition gilt, also als Eigenkontakt (H.Maturana, Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985)? Es ist an dieser Stelle der Versackgassung hilfreich, auf die Dimension des Sehens zu rekurrieren, die beim Hineinsehen statt hat.

Die Entwicklung der Selbstbilder innerhalb der Geschichte okzidentaler Selbstvergewisserungen durch die Philosophie kann man zu rekonstruieren suchen an der Rolle, die das Auge bekommen hat. U.Sonnemann spricht hier von einer Raum-Auge-Präokkupation, die mit der Neuzeit begann und heutzutage mit der gewalttätigen Über-Produktion nicht nur des Fernsehens ihr Endstadium zu erreichen scheint (in: F.Rötzer (Hg.), Denken, das an der Zeit ist, FFM 1987, p276). Diese "okulare Tyrannis" des Auges über andere Formen der Erkenntnisleistungen der Sinne (und deren apparativer Umsetzung) dehnte sich auch aus im semantischen Klären dessen, was der Fall ist: Metaphorik der Sprache ist und bleibt vorerst ausschließlich dem Bilde verpflichtet (bzw. neuderdings in Ansätzen dem Filme und der Komputation). Und auch "okulare Theoretisierung" (U.Sonnemann) setzte sich durch (etwa gegen die sokratische Sprech- und Hörphilosophie oder der Präferenz des Ohrs im Judentum). Wenn es stimmt, daß die Unnennbarkeit des Einen in der christlich-neuplatonischen Tradition die Bilder hervortrieb (neben der dem Sehen eigenen Realitätsgewißheit), dann hatten die Bilder über Welt als Auszugsgestalten die Aufgabe, in einer Art Umzingelung des unausgebildeten Einen ebendiesem nahe zu kommen; je mehr ausgebildet (dargestellt) würde, desto mehr konvergierten die Vorstellungen auf das eingebildete Eine (den Grund, Gott, das Wesen, die Wahrheit). Sprache, Erkenntnis, Bewußtsein (und Arbeit) schienen die passenden Medien zu sein, mit deren Hilfe sich das geborgen werden müssende Eine im Bilde einfangen ließe: das Bild vom Spiegel als Ab-Bild des Unausbildbaren war geboren. Und ebenfalls war geboren das Dispositiv eines Symmetriemodells, in dem sich im Rahmen des Cartesianismus vielfältige Ansätze der Verknüpfung von Wirklichkeit und Weltbild bildeten, die von der Erkenn-, Wiss- und Kontrollierbarkeit der Innen- und Außenwirklichkeit von Welt ausgingen, d.h.: ausgingen von der Aufgehobenheit des Besonderen in einem sicher durch Erkenntnis erreichbaren Allgemeinen.

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Die Augen selbstverständlicher Welt sind die Gewissheiten. Sie öffnen ihren Lidschlag dann, wenn der Seher erkennt, daß die unendlichen Gewußtheiten, auf denen sie sich bilden, bloß eingebildet sind. Der Chock dieses Erkennens ist umso größer, je klarer wird, wie komplex die Gewissheiten der Welt aus keinem einzigen Kontakt mit der Welt ausgebildet wurden, sondern innere Konstruktionen sind. Das ist kein Plädoyer für den radikalen Konstruktivismus Varelas und Maturanas, sondern schlicht das Eingeständnis, daß der gesellschaftliche Mensch dieser nur ist, wenn er - blind und taub wie er ist - sich eine Welt schafft, die seine Blindheit und Taubheit zur Voraussetzung ihres Wirklichkeitsniveaus hat. Die bisher tätige Übersetzungsmaschine, die die Wirklichkeit des Welt-Seins an der Referenz des Blind-und-taub-in-der-Welt-Seins des gesellschaftlichen Menschen ausrichtete, wurde Bewußtsein genannt. Je radikaler die autistische, anästhetische, die blinde und taube "Gründlichkeit" des menschen nicht mehr erkannt wurde, desto bewußter schien das Sein. Man gab diesem `Je weniger ich sehe, wie wenig ich sehe, umso leichter wird es zu wissen, was ich noch nicht sah, umso leichter wird es zu glauben, immer mehr zu sehen, was vorher unerkannt' viele Namen; einer war der Name Fortschritt, ein anderer war repräsentierende Erkenntnis. Je weiter wir vordringen ins Fremde, desto schneller streifen wir alle noch naturalen Bedingtheiten menschlichen Seins ab. Je weiter wir von uns sind im Fremden, desto mehr sind wir bei uns. Je entfremdeter das Fremde, in das wir dringen, desto fremder unser naturales Geworfensein in der selbstverständlichen, also unentscheidbaren Welt, desto näher das Wissen, anders zu sein als geworfen, desto mehr Sich-selbst-sein, je entworfener die Welt, in der man sich mit sich begibt. Man sieht, dieser Fortschritt hatte gute Schmiermittel: Dialektik und Entfremdung, Bewußtsein und.. tja... und ...

Es mehren sich die Zeichen dafür, daß diese "Rahmenrichtliniengeber" für die Selbstvergewisserung menschlicher Erkenntnis und seiner `Mundanität' in den dafür spezialisierten Diskursen der Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt ihrer Unhaltbarkeit thematisiert werden. Zu Klärung der Frage, wie weit diese Unhaltbarkeitsdiskurse selbst unhaltbar sind, möchte diese Arbeit beitragen.

6.

Die Verknüpfung von Weltwirklichkeit und der Wirklichkeit (Wahrheit, Richtigkeit, Praktikabilität) des Weltbildes mittels der Werkzeuge okularen Feststellens zum Zwecke der Optimierung eigener Selbsterhaltung und -behauptung wurde im Laufe der naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Rationalisierung auch für die Bereiche menschlich-gesellschaftlicher Bedürfnisse in Anspruch genommen, in denen es nicht darum geht, etwa einen Hobbes'schen Begriff des Erkennens zur Geltung zu bringen, nach dem `etwas erkennen' übersetzt wird in `wissen, was man damit machen kann, wenn man es hat', sondern darum, ein Selbstverständnis aufzubauen, das dem Getrenntsein und dem Teilsein des Menschen von Welt und Natur nicht bloß zählend, sondern erzählend Rechnung trägt, indem es als Bild vom Menschen den Menschen im Ausgebildeten bestimmt.

Mit dieser Produktionsweise der Selbst-Bestimmung via `des-Sich-einbindens/einbildens-im-Ausgebildeten' räumt systemtheoretisch inspirierte Theorie auf, die sich mit Mensch-Mensch- und Mensch-Welt-Beziehungen beschäftigt. An einer Stelle systemtheoretischer Beschreibungskandidaten, dem sozialen System, wird deutlich, wie stark die Bildung von Bildern (Spiegelbildern) für die Bestimmung der Bestimmbarkeit einer (Sozial-)Beziehung an Potenz verloren hat, nichtsdestotrotz aber an ihr in Gestalt der Beobachtung (und Beobachtung von Beobachtung) festgehalten wird, um wenigstens am Klarsehen der Intransparenz Ordnung sich kristallisieren zu lassen (N.Luhmann, a.a.O., p153-154):

"Vor allem müssen wir uns von der traditionellen Behandlungsweise ablösen, die das Problem der doppelten Kontingenz (auch wenn sie es nicht so nannte) mit Begriffen wie "Wechselwirkung", "Spiegelung", "Reziprozizät der Perspektiven" oder gar Reziprozität der Leistungen zu lösen suchte. Die gesuchte Einheit [generell: von Subjekt und Objekt; B.T.] wurde damit in einer Art symmetrischer Verklammerung des Verschiedenen gesehen. Das Soziale wurde dementsprechend als Beziehung zwischen Individuen gedacht, und dabei hatte man mitzudenken, daß die Individuen nicht entfallen können, ohne daß die Beziehung entfällt. Diese Vorstellung ist langsam und fast unmerklich inadäquat geworden, und zwar dadurch, daß die Eigenselektivität der Perspektiven und die Unerfaßbarkeit des Gegenüber mehr und mehr betont werden. Letztlich zerbricht jedes Symmetriemodell dieser Art am Problem der Komplexität und der notwendig-selektiven Komplexitätsreduktion, die jeweils systemintern-selbstreferentiell gesteuert wird.

Spricht man von Spiegelung, dann mag man in gewissem Umfange noch einrechnen, daß die Spiegel, die sich wechselseitig spiegeln, vergrößern oder verkleinern oder sonstwie verzerren, eine "subjektive" Komponente mit ins Spiel bringen. Die Metapher wird jedoch in dem Maße inadäquat, als die selbstbezügliche Selektion zunimmt; und sie wird vor allem dann inadäquat, wenn man bedenkt, daß der Zerrspiegel die Verzerrung des anderen Spiegels nicht miterfaßt. Das heißt: wenn man diese Metapher auf die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferentiell operierenden Systemen übernimmt [und diese Ebene ist nach der Systemtheorie die Ebene; B.T.], dann löst sie sich auf. Die Spiegel zerbrechen. (...) Kurz: es wird fragwürdig, wie man überhaupt noch die Einheit einer Beziehung denken kann [wenn sie schon nicht mehr beobachtbar ist; B.T.], die eine Mehrheit selbstreferentieller Systeme liiert. Die Beziehung wird selbst zur Reduktion von Komplexität. Das aber heißt: sie muß als emergentes System begriffen werden. (...) Soziale Systeme entstehen... dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. Das ist mit dem Grundbegriff der Handlung nicht zu fassen."

Trotz der strikt anti-emanativen, also emergenten Grundierung der System- und Einheitsbildung miteinander sich verhaltender "Systeme" bleibt diese Sichtweise (auf die Trinität der sozialen, objektiven und subjektiven Welt) metaphorisch beschreibbar mit dem Bild von zwei sich frontal spiegelnden One-side-windows, hinter denen sich jeweils das System verschanzt und im Sich-im-Spiegel-des-anderen-Spiegeln zu beobachten sucht, wie das andere System, das sich im gegenüberstehenden Spiegel spiegelt, zu beobachten sucht, wie es beobachtet wird (und retour). Das Problem könnte aber auch daran liegen, daß eine theoretische Weltbeschreibung, die mit Hilfe der Leitdifferenz Figur-Hintergrund Erkenntnisformen nur als Figuren vor einem bestimmten Hintergrund beobachten kann, nicht mehr weiter kommt, wenn sich das Verhältnis von beiden umdreht und Figuren nunmehr nur aus dem Hintergrund heraus zu konstruieren sind: Beobachtung als einsehende Herausschau, fern jeder Anschauung.

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Dieses anschauungsferne Beobachten der Welt, die ihre Selbstverständlichkeit abstreift (im philosophischen Terrain etwa dadurch, daß ihr jede Repräsentabilität abgesprochen wird;im kultursoziologischen dadurch, daß ihr jegliche Universalität verweigert wird usw.), dieses Anschauungsferne also ist anfangs gepaart mit dem Wegsehen, dem Sich-entfernen-wollen von ihr; auf dem Wege der Introspektion bzw. dem der Introversion. Letztere haben jedoch nur statt, wenn das unproduktive Weg-Sehen, das Subjekt und Objekt nur in der Abstoßung miteinander verbindet, modellierbar wird zu einem Hinsehen und, je nach Dauer und Intensität, zu einem Hineinsehen. Dieses Hineinsehen ist zu verstehen als in Opposition stehend zum sich des Objekts durch funktional zugerichtetes Erkennen Bemächtigen, als auch zum Verdrängen des Objekts (wodurch es erst im Subjekt invasiv wirkt). Das in die Fremdheit der Welt Einsehen akzeptiert die Unwiderruflichkeit der Scheidung von Subjekt und Objekt, die Unmöglichkeit einer Versöhnung, einer Verschmelzung; es erweist der tatsächlichen Distanz zwischen beiden durch eine eigene Geste der Distanz Reverenz, indem es von draußen aus drinnen sieht; es beugt sich vor, um der Gestaltwerdung zweier anderen Subjekt-Objekt-Beziehungen vorzubeugen, die die Moderne in ihrer Normalität und ihrer (immanenten?) Exzentrik präg(t)en: dem Kniefall (extremste Erscheinung: Verinnerlichung von Unterdrückung) und dem Einverleiben (die extremste Erscheinung hier: Faschismus). Eine Mischform dieser beiden Kultur- und Barbareipraktiken, die die systemische und die soziale Integration von Leben und Gesellschaft leisten, ist die Verdrängung. Sie übernimmt (im psychoanalytischen Diskurs bzw. im Freudschen und Lacanschen) im Rahmen psychoanalytischer Trieblehre die Objektivationsform von "Komplexen", welche als Organisatoren der psychischen Entwicklung zu begreifen sind (Manfred Pohlen: Die Vernichtung des Individuellen in einer 'befriedeten` Gesellschaft; in: R.Kahle/ R.Menzner/ G.Vinnai (Hg.): Haß - Die Macht eines unerwünschten Gefühls, Reinbek 1985, p238-282, hier: p266ff). Sie ist also für die psysische Integration zuständig, zwar nach eigenen Maßstäblichkeiten, aber doch innerhalb der selben Koordinaten wie die soziale und die systemische Integration: nämlich über Devianz bzw. Differenz. Aus diesem Bestandteil der Integrationstrinität möchte ich als Beispiel für invasive Introspektion eine Passage zitieren, die sich mit der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt über den Modus des Begehrens beschäftigt und dort von der Annahme ausgeht, daß alle Versuche psychischer Entwicklung fehlschlagen, die die fundamentale Trennung zwischen alter und ego, zwischen unteren und oberen Stockwerken des eigenen Ich-Hauses, zwischen Begehrversprechen und Begehrentsagung in eine bloße Verschiedenheit überführen, um diese dann kommunikativ auf den langen Pfad der Konvergenz zu bringen; also eine Annahme, die (im weiten Rahmen) davon ausgeht, daß die Konstituierung des Subjekts und seines Begehrens nicht durchs Zur-Sprache-Kommen, sondern durch unkontrollierbares Hineinreden (bzw. durch "interdire"), durch Negation von Erfüllung maßgeblich angereichert wird; man also mit den eigenen Leidenschaften, die anerkannt (und nicht pathologisiert) werden als "unzivilisierbare" Gründlichkeit des Menschen, nur durch der Entfernung Rechnung tragendes Hineinsehen (und nicht Ausgrenzen, Herausnehmen, Zurichten) Verbindung aufnehmen kann; anderenfalls mutiert die nichterkannte Ent-scheidung von Ich und meinen Leidenschaften zu einer Ab-scheidung: die Folgen sind in jeder etablierten Normalität hochkomplexer Gesellschaften zu besichtigen. Doch zum Zitat (M.Pohlen, a.a.O., p267ff):
"Das Begehren ist immer schon eines des Anderen und situiert sich am und durch den Anderen. Im skandierenden Rhythmus von Präsenz und Absenz des begehrten Objekts (der Lust) konstituiert sich das Subjekt in der Dialektik der Wollust als einer des Mangels, die in der Erfüllung der Liebe die Zerstörung des Objekts erfährt. Die Erfüllung ist die Bedingung der Absenz, und die Absenz ist die Bedingung der Präsenz des begehrten Objekts der Lust. Das heißt: die Herstellung der Symbiose ist ihre Aufhebung (durch die Befriedigung von Mutter und Kind), und die Aufhebung der Symbiose ist ihre Herstellung. In der Dialektik zwischen Präsenz und Absenz des begehrten Objekts (der Lust) konstituiert sich das Subjekt in der Präsens der Identifikation mit dem Anderen und in der Absenz der Re-Präsentation des fehlenden Anderen: Re-Präsentation des Absenten ist das Präsentisch-Werden des Verschiedenen (Anderen), der in seiner Ab-Sonderung für das Kind gestorben ist. (...) Beide Prinzipien [Vaterprinzip der Verneinung, Mutterprinzip der Affirmation; B.T.] als strukturierende Elemente der Subjektwerdung konstituieren die Dialektik zwischen Einheit und Verschiedenheit des Subjekts: im Akt der An-Gleichung (der Herstellung von Ganzheit) vollzieht sich die Vereinheitlichung, die Homogenisierung des Subjekts; im Akt der Un-Gleichung, Nicht-Gleichung, vollzieht sich die Verschiedenheit des Subjekts, die Trennung - das ist die Heterogenisierung. Gleichheit und Ungleichheit bilden sich als Akte von Verschmelzung und Vereinzelung; als Akte, die den (lautlosen) inwendigen Tod, den unbewußten Tod der Verschmelzung konstituieren und als Akte der Vereinzelung (Absonderung), die den aus-wendigen Tod, den bewußten Tod konstituieren. Beide Akte sind sich gegenseitig bestimmende Momente, die Bewußtsein und Unbewußtsein gegeneinander einrichten. Es ist die Alteration, die durch die Einführung des "alter" - des erschreckend Anderen - als dem dritten Element die Ab-Änderung bedingt: die Alteration konstituiert das Subjekt von Grund auf als ein entfremdetes. Und diese Alienation ist die Ver-Äußerlichung, die Entfremdung in ein Innen und Außen, in ein Homogenes und Heterogenes."
 
 

7.

Bei den theoretischen Bemühungen der Systemtheorie, der "cognitive science" und den praktischen Evidenzen der Kulturindustrie "geht" es also darum, noch im freien Fall zu wissen, wo man "steht"; darum, Neues neu zu sagen, was Jahrhunderte in tausenden, millionen Seiten Papier zu umschreiben suchten und doch nicht fassten, sei es in Begriffen, in Metaphern oder im Unsagbares-Schreiben; darum, die Welt vorliegen zu haben als ganze ohne Vorlage, sondern mit dem Wissen, für Komplexität Reduktion finden zu können, die nicht Komplexes reduziert, sondern die Reduktion komplex hält, Zugriff hält auf all die Universen, die zu greifen nicht machbar ist: das Unbeschreib- und Unbestimmbare scheint die Luft zum theoretischen Atmen zu sein; begriffliche Atemwege sind dicht, so könnte man schlußfolgern, wenn sie es nicht schaffen, auf der Ebene der Relationierung von Relationen ihren begrifflichen Sauerstoff zu beziehen.
 

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Ein dem adäquates Beschreiben von Welt-Mensch-Beziehungen zeigte sich darin, den beschriebenen Welten so nahe als nur möglich zu kommen und doch an jeder Stelle dem Leser und auch noch den Welten Gelegenheit zu geben, den größtmöglichen Abstand einzunehmen: zu sich, zu der beschriebenen Welt, zu den geschriebenen Seiten. Der Eigenwert der Welt der Beschreibung erhöht sich dabei in dem Maße, wie die Sätze das Beschriebene als eigenes in eigener Welt zum sprechen bringen. Die Sätze lösen sich auf in der Welt der Aussagen, deren Mundwerk sie sind und doch zugleich ihr Knebel. Die Welt des Ausgesagten bleibt umso näher dran am Prozeß des immer wieder Werdens (durch Lesen), je weiter die sie hervorbringende Sprache sich zurück zieht hinter die Linie, auf der in rohster Form der Kampf zwischen Gesagtem und Gemeintem sich ausnimmt wie der zwischen den Windmühlen und Don Quichotte.
Nun gut. Solange Zwecke niemals aufgehen werden in Funktionen (wenngleich in Utilitarismen, wie es J.Rawls Utilitarisierung der Gerechtigkeit vorführt), da ihnen genuin eine Binnenspannung zwischen ihrer Beabsichtigung und ihrer Realisierung eigen ist, können Funktionen niemals nicht von einer sie in Zweckzusammenhänge bringenden Sicht geortet werden, die als Möglichkeit ihres Sichtens darauf fußt, daß die Zwecke nicht in eine Vergleichsaustauschsrelation hineingezerrt und dann ihrerseits einem Nihilismus der Vergegenständlichung überantwortet werden. Glück, Solidarität, Freiheit und Herrschaftsfreiheit sind Zwecke, die nicht beliebig destruierbar sind, wenngleich scheinbar beliebig inhibier- und negierbar.

Es mag scheinen, daß das theoretische Festhalten an diesen Zwecken und deren möglicher Begründbarkeit zur Zeit verkommt zu einer säkularisierten religiösen Praxis, welche nun neben dem Zweck der Liebe obengenannte Zwecke mit ins Programm aufnimmt. Aber ganz so ist es eben doch nicht. Wie ist es dann aber? Und vorallem: Wie beschreibbar?

Ganz so scheint es nun doch nicht zu sein, vielleicht sogar genau umgedreht: Die Wirklichkeit der Welten ist ja doch vordringlich eine sprachliche, eine in Rede, Gespräch, Antwort und Zuhören eingehende, also für viele längst losgelöst von eigner Erfahrung; für manche schon losgelöst von Erfahrung überhaupt (womit die Blindheit der meisten Menschen evident wäre, folgte man Adornos Diktum, daß "die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis die Erfahrung ist, nicht die Form" (GS, Bd.10/2, FFM 1977, p752).
 

8.

Es fällt auf, daß beim bisher mehr oder weniger ausführlich Andeuten dessen, was in der Überschrift als invasive Introspektion gefasst wird, Kritik schwerfällt, die es sich nicht leicht machen will. Leicht gemachte Kritik der Modelle systemtheoretischer und kognitivistischer Weltbilder würde zurückgreifen auf die Topoi Solipsismus, Irrationalismus, instrumentelle Vernunft, Selbsterhaltung, um diese mit Hilfe der Vokabularien materialistischer Dialektik, Kritischer Theorie, Bewußtseinsphilosophie und einer praxisphilosophischen Phänomenologie, vor allem aber mit Hilfe des Vokabulars der Theorie des kommunikativen Handelns als untauglich, wenn nicht gefährlich für den Aufbau von Selbstbildern des Menschen zum Zwecke seiner Selbstvergewisserung zu kritisieren. Das im Thema angeführte Vorhaben, totalitäre Vernunft in den zu behandelnden "Modellen" aufzusuchen, scheint diesen Kritikweg einzuschlagen. Es geht aber um einen anderen Weg, dessen Richtung noch nicht ganz klar ist; die hier verfolgte Kritik möchte in einem ersten Schritt der Abstraktion eine Polarität der Weltbilder annehmen, die auf der einen Seite durch das schwarze Loch der Identität bzw. des Identisch-Machens gekennzeichnet ist (Stichworte: transzendentale Einheit, Universalismus, anthropologisches Substrat und Revolution), und auf der anderen Seite sich dartut als blinder Fleck der Differenz bzw. des nicht zu entfernenden Entfernens (Stichworte hier: Inkommensurabilität, Nichtdarstellbarkeit, Fraktales, Fragmentarisches, Entropisches). Zu fragen ist dann, ob eine naturalistisch und kybernetisch gewendete Differenzphilosophie als Rationalisierung all dessen, was unter der Identitätsphilosophie abgespalten, ignoriert, übersehen und deformiert wurde, dem gattungsgeschichtlich und dem gesellschaftlich Unabgegoltenen eine nicht nur theoretische Bergung widerfahren läßt (vergleichbar der Romantik im anderen Zusammenhang), oder ob sie - wie im Titel bereits präjudiziert - dem "Identitismus" bloß die avancierteste Hülle umhängt, um in sich immmer schneller wandelnden und gleichzeitig sich verfestigenden Welten weiterhin ein "gutes Ende" behaupten zu können, das Leben kostet.
 
 

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St. Just: (...) Ich frage nun: soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Spähre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht. (...) Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen; hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem kommen?
(Georg Büchner, Dantons Tod, Stuttgart 1989, p44)
Die hier verfolgte Kritik fragt also danach, ob mit invasiven Introspektionmodellen die "world without ground"-Vorstellung nicht zu einem funktionalem Äquivalent wird bezogen auf die Zerstörungs- und Machbarkeitspotenz von Seins- und Weltgründen, welche von invasiven Extraversionsmodellen unterstellt und für unzählige Futurisierungsprojekte verbraucht wurden. Also kurz: Nach dem Totalitarismus der Einheit nun der Totalitarismus der Vielheit, nach dem der Begründung nun der der "Vergrundlosung"? Was aber, wenn diese Fragestellung plausibel ist, wäre dann Totalitarismus? Was brächte ihn in die Lage, sich seine Objektivationen quasi auszusuchen, was dazu, sich alles anzuverwandeln und einzuverleiben (etwa so wie die fast philosophische Film"figur" alien in den Filmen Ridley Scotts, die sich in jeden fremden Leib einverleiben kann)?

Diese Frage leitet über zu einem anderen Pfad der versuchten Kritik an den Introspektionsmodellen, nämlich dem Suchen nach Spuren von Inversionen philosophischer Weltbilder. Nimmt man "die" Moderne als Referenz der Suche, wird man - so gegenwärtig Mehrheitsmeinung - schnell fündig: Modelle oder foci imaginarii invertieren dann, wenn sie realisiert werden oder, was wesentlich anderes sagt, wenn sie sich realisieren. Im ersten Fall wäre es noch möglich, ihnen eine "Unschuld" theoretisch anzudienen, sie also als nicht im Strom der Geschichte, an den sie weiterhin anschließbar seien, untergegangene Modelle zu retten (siehe etwa Marxismus). Im zweiten Fall ist die Exklusion perfekt (etwa "der" Triebe aus dem Reich der Zivilisierung/Modernisierung; siehe M.Pohlen, a.a.O.). Im Falle der Introspektionsmodelle, etwa des Konnektionismus Varelas, könnte Inversion statthaben, wenn sich die (durch neuronale Netzwerke technisch möglich werdende) Anthropomorphisierung von Computern ausnähme wie John Camerons "Terminator"; oder im Falle der Systemtheorie dadurch, daß rechtzeitig zum endgütigen Umkippen der zigtausend Ökosysteme eine lückenlose systemtheoretische Beschreibungarchitektur des Untergangs vorliegt (verstanden als endgültiges Transgredieren dessen, was Nationalsozialisten mit ihrer Organisation des Tötens in die Welt brachten).

Wie dem auch sei: Die Kritik invasiver Introspektion baut darauf, sich beim Verfertigen und Aneignen des zu Kritisierenden mitaufzubauen (wenngleich nicht immer präzise angebbar ist, auf welcher Ebene Argumente überhaupt noch ausgetauscht werden): vielleicht als simultaner Abbau dessen, was sich im Verstehen aufbaut, vielleicht als erfolgloser Versuch, Abstand zu gewinnen.

Auf jeden Fall aber mit der Gewißheit, nicht aufzugehen in der Operation Kritik.
 

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Versuch, das Beginnen eines Kontaktes mit "der" Welt sich vorzustellen als freien Fall, in dem man begriffen ist. Im Fallen der Versuch rauszubekommen, worum es geht: darum, noch in demselben zu wissen, wo man steht; darum zu wissen, warum man fiel. Zu wissen, wohin man fällt und als was man liegenbleibt oder aufgehoben sein wird. Oder geht er darum zu wissen, was der Raum, die Zeit und das Erkennen ist, durch den und die ich falle? Die sucht, Wiedererkennbares zu erkennen, steigt in dem Maße, wie der freie Fall sich immer mehr entpuppt als einer, der nicht mich schwindeln/schwindelig macht, sondern alle Konstanten der Welt mit sich reißt, während ich weiter immobil in meinem konstantenorientierten Denken fest sitze (wie der Reisende im Zug, der meint, sich in Bewegung zu setzen angesichts eines tatsächlich losfahrenden Zuges auf dem Nebengleis). Die daraus erwachsende ängstliche Zwangshandlung, Bewegung und Fall bloß noch zum stehen, nicht mehr zum verstehen zu bringen/springen (indem ich Namen und Begriffe erfinde, die erfundene Beziehungen und vermeintliche Kausalitäten durch Gewöhnung als gefundene ausweisen), führt dazu, das Sich-einrichten im Fall zu verwechseln mit dem Fall als Einrichtung, zu der Abstand gewinnen ein leichtes scheint. Und schon sitzt man in seiner Sprachhöhle und sondiert die Begriffsbeute nach Essbarem, in der Hoffnung, durch Lernen bald so weit zu sein, nur noch Essbares aus der Welt da draußen zu selektieren/delektieren. Je weitgehender diese Selektion gelingt, so die Angst überwinden wollende Hoffnung, desto erkannter die Welt, desto konvergenter die Welt des "Ich-und-die-Welt".

So sah das alte Programm des klärenden Denkens aus: Schaffung von Ordnung in einer fallenden Welt durch die Erkenntnis, daß alles fällt: exakt dies sei der Fall, und zwar feststellbar.

Literatur