Lob den Idioten
Nicht nur der etwas alt gewordene Teufel, auch das kleine Glück steckt im Detail, in der kleinen Geste, in der kleinen Abweichung. Führt man eine eher insulare bis isolierte städische Existenz, hüpft also zwischen Arbeitplatz, Supermarkt, Museum, Kinobesuch und Wohnung hin und her und durchquert dafür den städtischen Raum eher inkaufnehmend denn flanierend, eher schnell hinter sich lassend denn verweilend, dann bleiben einem nicht mehr viele Möglichkeiten, der Unwirtlichkeit des städtischen Raumes ein erheiterndes Moment, vielleicht gar eine Freundlichkeit abzutrotzen, die das Erlebnis eines guten Filmes, einer guten Ausstellung, eines guten Kneipenabends weit hinter sich läßt.
In den Großstädten, deren öffentliche Räume sich immer sichtbarer auffüllen mit Armut und Elend von Sozialhilfeempfängern, Flüchtlingen, Zeitungs-, Rosen- und sonstigen Verkäufern, die einen pro Abend bis zu zwanzig Mal auffordern zu bekennen, daß man nichts will und nichts zu geben bereit ist; in denselben Großstädten, in denen immer größere Areale genau vor dieser Sichtbarkeit geschützt werden (ekelhaftes Paradebeispiel: Postdamer Platz), bekommt der harmlose Idiot plötzlich seine Stunde. Der harmlose Idiot im öffentlichen Raum ist der einzig akzeptierbare Fall, wo die Intimität und das Private keinen Terror verursacht, sondern Freude, wenn nicht Kultur stiftet. Man muß bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück, um dem Idioten wieder das zu geben, was ihn einmal ohne jede Häme und Niedertracht auszeichnete: nämlich eigen zu sein, dabei nicht asozial auffallend, also artig, kurz: eigenartig. Wie beim Idiosynkratischen als einer eigentümlichen Mischung der Körpersäfte ist auch beim Idiotischen eher eine Mischung denn ein Zusammensatz für den Zusammenhalt verantwortlich, besonders bei Idioten in der Öffentlichkeit.
In Berlin etwa fährt ein junger Mann mit der U-Bahn nur, um die Ansage der nächsten Station und der Umsteigemöglichkeiten selbst mit lauter Stimme den Fahrgästen mitzuteilen; immer, wenn er seine Ansage bendet, hört man die exakt gleiche Information durch den Lautsprecher. Spätestens dann, wenn er die kaum noch vorhandenen U-Bahnabfertiger mit dem typischen Brüllen anstimmt ("Zurückbleiben, hab' ick jesagt!"; "Schneller einsteigen dahinten!"), verwandelt sich noch das letzte dumpfe Gesicht der Fahrgäste zu einem lächelnden. Hier passiert Kultur im öffentlichen Raum, und zwar vielschichtig: Die abgegessenen Städter bekommen eine psychohygienische Massage, sie tauchen für kurz ein in eine gemeinsame Stimmung der Heiterkeit; die Verkehrsbetriebe bekommen eine akustisch-szenische Rekonstruktion ausgestorbener typischer Stimmen der sanierten Abfertiger; und der junge Mann vielleicht das Gefühl, einer sinnvollen und akzeptierten Beschäftigung nachzugehen. Wofür mittlerweile Milliarden ausgegeben werden, nämlich gute Unterhaltung im Fernsehen, das passiert hier kostenlos und zudem genau da, wo einst das Konzept des versteckten und lebendigen Theaters ansetzte: im profanen öffentlichen Raum, der weiterhin durch Unwirtlichkeit glänzt.
Man kann diese kleinen Momente im zunehmend schrumpfenden öffentlichen Stadtraum nicht hoch genug einschätzen, fürs eigene Befinden ebenso wie für das Stimmungsklima in Räumen, durch die täglich Hundertausende müssen. Als vor Jahren das Schiller-Theater in Berlin geschlossen wurde, gab es überwältigende Reaktionen bis hin zu solchen, die darin den Tod der Kultur in der Stadt erkannten. Beim schleichenden Ausmerzen der Idioten im öffentlichen Raum wird man leider keinen Protest erwarten können.