bernd ternes

Hyperventilation der Gleichzeitigkeit


Von der Zeit zu Zeiten

"Zwei Ereignisse, die in einem Intertialsystem als gleichzeitig auftretend beobachtet werden, können in einem anderen Inertialsystem als nacheinander auftretend beobachtet werden. Dies heißt aber nichts anderes, als: Es gibt keine absolute Zeit." – Soweit die Einsicht der Physik, die Anlaß zur Beruhigung geben könnte, so man Objektivität abgelegt hat und sich daran erfreuen kann, daß andere eine andere Sichtweise, einen anderen Standpunkt, eine andere Zeit für sich haben. Gleichsam beruhigend könnte auch die Einsicht sein, daß es zeitlich betrachtet immer noch nicht möglich ist, daß ein soziales Ereignis für den einen schon in der Vergangenheit und für den anderen noch Gegenwart oder gar Zukunft ist.

Denoch: Zwischen diesen Polen hat sich einiges getan mit der Zeit, besonders im Umgang mit der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft, vorallem aber mit der Zeitlichkeit von Zeit selbst. – Was ist bloß mit Zeit los?

Nach all den Zertrümmerungen großer, einheitsstiftender Begriffe – die Natur, der Mensch, die Geschichte, die Realität, die Sprache – und der Inthronisierung der einen großen Universalie namens Kapital scheint es nur noch eine Universalie zu geben, in der man nachdenkend Zuflucht suchen könnte: die Zeit. Doch spätestens mit der (system)theoretischen Veredelung dessen, was man timing nennt – nicht das Subjekt, sondern die in Ereignisse aufgelöste Zeit gibt der Handlung ihre Identität –, zerfällt auch Zeit in tausend kleine Stückchen. Was bei der Fragmentierung des Vernunft- und Kulturbegriffs noch halbwegs funktionierte – die Berücksichtigung verschiedener Rationalitäten, verschiedener Kulturkontexte, kurz: Pluralismus –, das stellt das Denken und das soziale Handeln bei der Temporalisierung von Zeit vor erhebliche Schwierigkeiten: Wie soll Verläßlichkeit, Nachvollziehbarkeit, Gebundenheit noch erreicht werden, wenn nun auch noch die jeweilige zeitliche Verfassung sozialer Komponenten berücksichtigt wird? Man denke nur an die Schwierigkeiten im Umgang mit launischen, volatilen Menschen, um zu ermessen, welche Komplexität ensteht, berücksichtigt man die jeweilige Eigenzeit der jeweiligen Welt des jeweils anderen (Systems). Eugen Rosenstock-Huessy wußte von der Schwierigkeit, wenn die Zeiten zu viele und zu schnell werden für die konventionelle Distinktion in vorher und nachher: "Und der ehrt die Götter, der die Zeiten unterscheidet. Denn nur dann kann jede Zeit hervorgehen, nachdem sich die andere Zeit verhüllt hat. [..] Denn nur, was aufhört, gewesen zu sein, kann gegenwärtig werden. Nur was aufhört, gegenwärtig zu sein, kann zukünftig werden."
 

Zeit des Bewußtseins

Eine Zukunft, so scheint es, die Zeit noch verweben könnte zu etwas, was man 'gewollte zukünftige Gegenwart' nennen kann, gibt es nicht mehr. Zukunftszeit ist zurückgefloßen in die gegenwärtige und verstopft hier, in der unmöglichen Gegenwart, die noch vorhandenen Öffnungen, durch die ausgeschieden wurde und abfliessen konnte, was sich Homogenisierung, Serialität, Synchronizität und zeitlicher Einordnung nicht fügte, mit Gleichzeitigkeit. Mit einer Gleichzeitigkeit, die vom Selbst eine permanente Gegenwärtigkeitproduktion seiner selbst verlangt, und die jedes Jetzt unter Verdacht zu stellen hat, ein maskiertes Ich zu sein. Gleichzeitig ist, bezogen aufs Selbstverlangen und Selbstbewußtsein, ein kontraintuitives und -faktisches Wissen aufgebrochen: Der Holismus und die Homogenität des phänomenalen Bewußtseins, so sagt dies Wissen, "sind eine Illusion, die durch einen niedrigen zeitlichen Auflösungsgrad derjenigen Funktionen bedingt ist, die mentale Repräsentate zu bewußten machen"; und eigentlich sind sie nicht mal Bestandteile einer Ich-Illusion, weil diese Illusion "niemandes Illusion ist." Wie dem auch sein: dies Wissen ist aufgebrochen und eingebrochen in eine kaum mehr richtig sagbare Evidenzgewißheit darüber, daß dieser niedrige zeitliche Auflösungsgrad kein Konstituierendes mehr ist, weil das Wuchern hoher zeitlicher Auflösungsgrade eine neue Zeitlichkeitsrelation erzwingt, die seine Funktionsstelle verwaist. Je schneller und je mehr Zeitgestalten wir aufnehmen und auszuhalten haben, desto weiter entfernt sich das Selbstbewußtsein, das eh nur Effekt ist einer trägen Verzeitlichung von Zeit.
 

Zeit der Gesellschaft

Das schnellere Operationalisieren vormals großflächiger (Zeit)Einheiten in zeitlich diskrete kleinere Einheiten; das vorübergehend auf vorübergehende Zustände vorüber-gehende Reagieren zeigt sich gesellschaftspenetrierend in der Ökonomie, die in den letzten 10 Jahren eine weitere Konsolidierung des alten Marxschen Satzes, daß alle Ökonomie letztlich Ökonomie der Zeit sein, durchführte (die sog. just in time-production). Aber auch an den Begriffen wie Kontaktgesellschaft (versus Kontrakt-gesellschaft), Pointcasting (versus Broadcasting), Erleb-nisgesellschaft (versus Arbeitsgesellschaft), und an der Auflösung eher statischer Bindungen (der Arbeitszeit, der Intimbeziehungen, der Wohnorte) und organisierter Einheiten (Gewerkschaften, Parteien, Überzeugungen) ist ablesbar, daß vormals stabile, verläßliche Strukturen ihr resistentes Verhältnis gegenüber Zeitlichkeit auflösen und man sich immer mehr von Fall zu Fall, von Ereignis zu Ereignis, von Zeit zu Zeit, von Kombination, Auflösung und Rekombination, von momentaner Gebundenheit statt kollektiver, allgemeiner Verbundenheit über die Zeit rettet.

Man kann davon ausgehen, daß ein Strukturwandels der Organisation von Zeit in der Gesellschaft stattfindet. Anzunehmen ist, daß eine der Abstraktifizierung und Homogenisierung von Gesellschaft adäquate synchroni-sierte Zeit des Verkehrs, des Verbindens, des Anschließens und Ausschließens abgelöst zu werden beginnt durch eine organisierte Gleichzeitigkeit verschiedener, sektoral synchronisierter Zeiten. Als Ausgangslage, Weltbild, Denkungsart oder als Kontext scheinen Welt, Gesellschaft und Mensch begriffen als durchdrungen vom kapitalistischen "Prinzip" der Produktion, Reproduktion und Destruktion von Materie, Energie, Informationen und Menschen. D.h.: Das kapitalistische, vor Verwertungshunger rasend gewordene System beginnt am eigenen Fleisch zu fressen; die Zeit zur Ökonomie ist übergegangen in eine Ökonomie der Zeit, diese wird übergehen in eine Ökoanomie der Gleichzeitigkeit; Schritt für Schritt "breiten sich Armut, Verelendung und Verwahrlosung gleichmässig über den gesamten negativ gleichzeitig gemachten Erdball aus": "Am Ende wird es in allen Ländern gleichzeitig Erste Welt (Produktivitäts- und Beschäftigungsinseln), Zweite Welt (staatsterroristische Notstandsverwaltung) und Dritte Welt (Verslumung der Mehrheit) geben." Zugleich wird mit der virtuell bereitgestellten Welt bzw. mit den in ihr gleichzeitig passierenden Vorgängen ein Versuch gestartet, die von der Lebenszeit unmöglich erreichbare Weltzeit über den Umweg der Gleichzeitigkeit der Lebenszeit zugänglich zu machen, allerdings um den Preis der Digitalität und einer Sekundenkultur.
 

Zeit des Einzelnen

Das Sich-Einfinden in die Formen der Sekundenkultur ist das Sich-Aufgeben in der Zeit durch Aufgabe der Zeit, die über das Jetzt hinausgeht. Sich dem Rhythmus des Hip-Hop, des Films, der Clip-Schnitte hinzugeben - den müden Ekstatismen des belanglosen Zeitschriften-Lesens, des Fernbedienens, des maschinengleichen Stampf-Tanzens, des Lallens und auch des Fickens - all das ist ein kleiner Tod, hat zumindest Nähe zu ihm: er strahlt die nötige Hitze ab, die das Sich-Aufgeben braucht, um außer 'Ich' zu sein, also sich gut zu fühlen ohne Ich oder sich. Rausch hat es geschafft, institutionalisiert, technisch in den Alltag implementiert und doch weiterhin wirksam zu sein als Entgrenzung desselben, quasi in light-Version, ohne Initiation, (noch) ohne leid- und blutvolle rituelle Begleiterscheinungen (außer der, nicht mehr an seine eigenen Schmerzpunkte zu kommen), ohne Brimborium und doch weiterhin wesentlich - aber nur noch für Sekunden. In dieser Sekundenkultur oder gar -welt, die als solche keine mehr ist, sondern einfach nur noch warmer Tüll, der einen nicht fallen läßt, wenn man (im Rausch) umfällt, in dieser also kann man sich gefangen nehmen lassen wollen. Das tun sehr viele zur Zeit, die radikal von der Perspektive einer langen Zeitachse (Utopie) runter zur Zeit der homöostatischen Zeitlosigkeit des Hin und Her, des Bum-Bum, des Finger-Schnippens, des joy of repetition geschaltet haben. Die Einsicht, daß mit der Zeit, in der wir leben, etwas los ist, und nicht nur bloß in ihr, dämmert vielen: Sie ziehen sich zurück in sie, um nicht mehr mit ihr zu kollidieren. Die diskret und chronologisch gewordene Zeit zelebriert unter Atemnot Reste indiskreten Lebens. Es ist ein Abschied vom nichtflüchtenden Leben.
 

Zeit der Geschichte

Wir nehmen jahrzehntelang Abschied von Geschichten, die noch ohne archäologische Methode auskommen, um erzählt werden zu können; wir erzählen Geschichten der Unerreichbarkeit, stories, die das Nichtzustandekommen von story als funktionierende story erzählen, schreiben Bücher, die davon handeln, daß sie nicht geschrieben wurden; wir unterrichten uns über Art, Umfang und Struktur des Unterrichtens vergangener Generationen mit funktionierender Geschichte, um nicht jetzt schon flächendeckend beginnen zu müssen, für die Zukunft eine Geschichte zu schreiben, die gar nichts mehr aus der historischen Zeit beinhaltet, sondern nur noch ihren eigenen Bemühungen historische Aufmerksamkeit widmet, die darin bestehen, nicht mehr Handlung, Gesellschaften, Subjekte, Zwecke und Kommunikation als notwendige Ingredienzien zur Rekonstruktion von Geschichte zu analysieren, sondern die Abwesenheit und Transformation ebendieser Ingredienzien als eigenständige Ingredienzien historisch zu bedeuten. Geschichte hat aufgehört, Sonderfall der Zeit zu sein.

Bis dahin aber sind wir gezwungen mitzuerleben, wie gravierend Erinnerungsverlust der Menschen für die Stabilität von Herrschaft ist, vorallem für die Herrschaft, Begriffe, also Erinnerungen, zu besetzen. Wir sind weiterhin gezwungen mitzuerleben, wie Ereignisse, Krisen, Katastrophen als künstliche Gebilde der Geschichte die Besetzung von Geschichte "unter Hypnose" (Baudrillard) garantieren.

Sinn und Funktion (Produktivität) sind die wackligen Hängebrücken, die einzig erlauben, nicht in der neu entstehenden Gleichzeitigkeit der Welt zu versinken, sondern ebendiese zu überschreiten (im nichttrans-zendenten Sinne). Das meine ich in einem zutiefst nichtaffirmativen Sinne. Es gibt zwar noch einige zeitliche Verkopplungsgestalten, die nicht oder nur in minimaler Form der Variations- und Analysegabe des Menschen subordiniert werden können (zumindest beim jetzigen Stand der Bio-Technik), etwa die Zeit der Schwangerschaft, die (maximale) Zeit des biologischen Lebenkönnens, die Zeit der Wachheit, die Zeit ohne Energieaufnahme, vielleicht auch die Zeit der kognitiven Konzentration und die des Vergessens. Die anderen Verkopplungsgestalten von Formen und Inhalten aber sind 'geschichtlich kapitalistisch', d.h.: Sie sind nicht anthropologisch verifizierbar, nicht einmal anthropolo-gisch falsifizierbar, sondern entweder machbar und dann erfolgreich haltbar, oder machbar, aber unhaltbar, oder aber, der wahrscheinlichste Fall: machbar, aber unhaltbar, aber trotzdem auf Dauer gehalten. D.h.: die geistig-kulturelle Lebeweise, die wissenschaftlich-technische Zivilisation kann von sich aus keinen Maßstab angeben, ob eine zeitliche Weise, Art, Gestalt und Verkopplung eines Inhalts und einer Form richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist (deshalb sind Funktion und Sinn die weltfremdesten und zugleich negativ-anthropozentrisch-sten Säulen, die das Gehäuse des Menschen abstützen).

War Zeit einmal das Atmen im Vacuum Raum, so werden die gleichzeitigen Zeiten nur noch eins sein: Hyperventilation. Das wußte auch schon St. Just, als er die französische Revolution rechtfertigte: "Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher wird, auch mehr Menschen außer Atem kommen?"