Bernd Ternes

Geist? Geist!


Die offensichtliche Hartnäckigkeit, mit der die bildungspolitische und gesellschaftliche Bedeutung sowie institutionelle Verbreitung der Sozial- und Geisteswissenschaften eingezogen wird, läßt vermuten, daß man ihnen ex negativo ein Gewicht anmaßt, das sie schon spätestens nach Hegel nicht mehr mit Stoff und Fleisch haben glaubhaft darstellen können (eingedenk 1968). Aber auch eine anders motivierte Attacke auf die Geisteswissenschaften, die davon ausgeht, daß ihnen bloß intermediärer historischer Status zuzuschreiben sei und also in dem Moment, in dem die Geschichte der Auffassungen menschlicher Selbst- und Naturerkenntnis vermindert von Geisteswissenschaftlern und verstärkt von Naturwissenschaftlern geschrieben wird, die Geisteswissenschaften den Stab der Wissensproduktion weiterzugeben haben, ruht falschen Unterstellungen auf.

Umgekehrt analog zu Adornos Satz, nach dem umso mehr von Individualismus die Rede ist, je weniger es dieses Individuum gesellschaftlich überhaupt noch gibt, kann man im Falle der Geisteswissenschaften feststellen: Je überzeugender die Obsoletheit derjenigen Wissenschaften, die sich reflexiv auf gesellschaftliche Zusammenhänge spezialisierten, proklamiert wird und anstelle dessen einem mehr oder weniger theorielosem Zusammenhang der Spezialisierungen das Wort geredet wird, desto zwingender wirken Zusammenhänge, desto blinder werden pragmatisch-technologische Weltentwürfe, desto notwendiger Geisteswissenschaft.

Dem nicht zu folgen heißt anzuerkennen, daß es keinen Unterschied mehr macht, ob Gesellschaften sich selbst als Gesellschaften beschreiben oder eben nicht. Auch innerhalb der betreffenden Fakultäten gibt es Stimmen, die auf den Begriff Gesellschaft gerne verzichten. Es hat fast den Anschein, als ob sich nicht nur innerhalb von Gesellschaften Privatisierungen von sozialen Tatsachen vollziehen (qua Universalisierung der Steuerungs- und Kommunikationsmedien), sondern sich die Gesellschaft selbst privatisierte (M. Thatchers Schlachruf war bekanntlich: "There is no such thing like society").

Aber auch hier wieder Adorno: Je abstrakter die Gesellschaft und komplexer die Vermittlungen in ihr, desto unmittelbarer ebendiese Vermittlung. Je vollständiger gesellschaftliches Leben abhängt von den Praxen sozialer Unterscheidungen und den Wirkungen der "Verlautbarungswelt", desto größer das Bedürfnis, genau diese bis ins Extrem getriebene Vergesellschaftung zu leugnen. Der Wechsel von der Abstraktion vom Realen (An- und Enteignung von Welt) hin zur Realisierung des Abstrakten verlängert die Macht der Verblendung solange, wie nicht eingesehen wird, daß diese Realisation das abstrakteste ist, das in den modernen Gesellschaften passiert. Allerdings schiebt sich mit immer größerer Macht die Technik dazwischen (technologische Zivilisation) und erwirkt ein konkretistisches Denken, das sich anschickt, allgemein zu werden. Die Interaktion, oder besser: die Kultur der Gesellschaft schrumpfte damit wieder auf die Funktion der Kompensation von Lebensweltsubstitutionen zusammen. - Man fragt sich bei solchen Gedanken immer wieder, was den Menschen dazu treibt, sich Welten zu schaffen, in denen er inmitten all der sozial- und technologischen Hochzüchtungen immer nur als überlebensgroß obsolete, Expression emittierende Kreatur wegkommt. Was treibt ihn dazu, sich nicht mehr nachkommen zu können? Es ist ersichtlich, daß der gesellschaftliche Bedarf nach solcherart Fragestellung mehr und mehr schrumpft. Mag sein, daß sich Geisteswissenschaften denjenigen Fragen stellen, für die nur noch im Sterben Liegende sich interessieren. Solange aber die Menschen sterblich sind, haben sie das Recht, schmerzhaft daran erinnert zu werden: und dies bewerkstelligen modern nur, wie es aussieht, die Sozial- und Geisteswissenschaften.