Bernd Ternes

Hörfleisch


"Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie." Adornos Gedanke aus seiner Ästhetische Theorie, heutzutage tausendfach falsch ernstgenommen durch körperverletztende Popmusik und geistkrankmachendes Fernsehen, hatte jüngst wieder einmal das Glück, richtig ernstgenommen zu werden: Doch heraus kam nur Falsches.

Die Rede ist von der fünfstündigen Aufführung des String Quartet II Morton Feldmans, sicher ein Höhepunkt der noch laufenden Musik-Biennale für zeitgenössische Musik in Berlin. Die Rede ist nicht von der musikalischen Qualität des interpretierenden Vogler Quartetts: die war superb. Was vielmehr in den Leib fuhr, das ist das wie selbstverständlich hingenommene krasse Mißverhältnis zwischen avancierter Musik und hinterwälderischem Arrangement des Zuhörens. Wieviel Körperverachtung muß noch zelebriert werden, um dem letzten klar zu machen, daß man keine 5 Stunden einer tatsächlich eindringlichen Musik lauschen kann, wenn man wie festgenagelt auf seinem Stuhl sitzt? Man ist fast gezwungen, in den Aufführungsritualen moderner bürgerlicher Musikrezeption die letzte Gestalt einer archaischen Thron-Kultur zu sehen. Es gehörte früher zum strengen Ritual, daß die Priesterkönige, die zuerst in den Thron gesetzt wurden, vor ihrer Inthronisierung gemartet und oft auch verkrüppelt wurden. Man zwang sie auf den Thron und verbat ihnen, Kopf, Füsse, Augen und Hände zu bewegen. Sie mußten oft auch im Thron schlafen. Noch bei den Bengalen des 15. Jahrhunderts war es so: Der thronende König, der durch Bezwingung seines Leibes die spirituelle Kraft erhalten sollte, um die Götter geneigt zu stimmen. Der Thron als schöpferisches Zentrum, das den Kosmos zusammenhält. Könige als Gesetz und als die Gesetzten, also leiblich eingeschränkten. Verfehlungen des Fleisches führten sofort zum Tod. – Die Verfehlung des heutigen sitzenden Zuhörers, nämlich sein Aufstehen und Rausgehen, wird nicht mit dem Tod bestraft, aber dafür mit der Aufmerksamkeit des ganzen Publikums, das den Abtrünnigen bis zum Ausgang in den Augen behält: gestört oder neidisch.

Dabei begann die Quälerei mit einer unprätentiösen Provokation: Das in den Jahren 1892/93 komponierte Werk Vexations (Quälereien) von Eric Satie besteht aus zwei Notenzeilen, die 840 Mal wiederholt werden sollen. Die bekannteste Vorführung, von John Cage organisiert, dauerte 18 Stunden und 40 Minuten; vor zwei Jahren probierten sich noch Freiburger Musikstudenten an diesem Fest fürs Sitzfleisch. Satie persönlich vermerkte, daß sich der Musiker im voraus in der größten Stille und durch ernsthafte Unbeweglichkeit vorzubereiten habe. Zu Lebzeiten des Komponisten und Musikers Satie wagte sich niemand, jedenfalls nicht öffentlich, an diese schwierige Aufgabe heran. Es war aber auch Satie, so wird kolportiert, der bei der Uraufführung seiner Musique d'ameublement (1920) den anwesenden stillen und unbeweglichen Zuhörern zurief, sie sollen endlich anfangen zu reden und herumzugehen.

Daß Feldman mit seinem String Quartet II sich bewußt vom Publikum verabschieden wollte, ehrt ihn. Daß das intellektuelle Publikum gerade diese Absicht Feldmans über alle Maße ignoriert, also Hörfleisch dem Sitzfleisch opfert, rückt ebendieses Publikum in die Nähe des Masochismus. Und der ist Ausdruck falscher Inhumanität.