Man darf
Post post, Kameraden. Massiv greifen sie an, die zurückgekehrten Alt-Modernisten. Die harten 90er Jahre, nach denen man sich im nächsten Jahrhundert noch die Finger lecken wird, lassen die 80er Jahre, in denen die Postmoderne ihre breiteste Verdrängung erreichte, als etwas erscheinen, was Günter Gaus mit bezug auf die sozialliberale Regierungszeit historische Pause nannte.
In der letzten Doppelnummer des Merkur wird sie abgefeiert, die Postmoderne; nicht hämisch, nicht revanchistisch, sondern mit einer arroganten Sachlichkeit, die weismachen will, daß die intellektuelle und ethische Verunsicherung postmoderner Auffassungen bloß die überspannte Reaktionen enttäuschter Modernisten war. Jetzt gehe es wieder ums Bestehen, nicht mehr ums Bestreiten: "Die Welt hat nur durch das Extreme Wert und durch das Mittelmaß Bestand", so Paul Valéry.
Eine fulminante Bewährungsprobe des wiedererwachten Selbstbewußtseins, daß die Welt auch ohne Extreme Wert hat, folgte denn auch auf dem Fuße. Jörg Lau ging in der ZEIT (Nr. 39) unter dem Titel "Ein fast perfekter Schmerz" der sogenannten Affäre um Binjamin Wilkomirski nach und stellte die alles entscheidende Frage: Darf man Erinnerungen an den Holocaust erfinden?
Recherchen der Züricher Weltwoche zufolge sollen die Holocaust-Erinnerungen, die Wilkomirski in seinem Buch "Bruckstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948" festhält, nicht aus eigener Erfahrung, sondern allenfalls aus eigener Phantasie stammen, die zudem noch psychotherapeutisch getunt worden sei. Und schon wird alles aufgefahren, was sich einzig in Bewegung setzt, um der Wahrheit zu dienen: Es sei eine künstlerische und moralische Bankrotterklärung des Autors, so Lau, wenn dieser es den Lesern freistellt, seine Erinnerungen als Literatur oder als persönliches Dokument aufzufassen; es würden die Zeugnisse, Dokumente und Texte "wirklicher Opfer" schaden nehmen, wenn Wilkomirski den Status seines Textes nicht eindeutig mache; es sei eine Bestärkung der zynischen Position moderner Revisionisten, die ihre Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben; es sei schließlich ein Verlust der Wahrheit, den er mitbetreibe; zwischen Realität und Fiktion müsse eine klare Grenze gezogen bleiben, wie unwirklich und unfassbar auch immer die Realität sei.
Genau hier also, beim zentralen Topos und Verdacht "der Postmoderne", daß eben diese Grenzziehung zwischen Realität und Imagination selbst imaginär ist, soll es wieder klare Sicht geben; soll es wieder eine Hierachie der Textsorten geben: Wahrheit der Wissenschaft, Wahrhaftigkeit der wirklichen Erfahrung, Einbildungskraft der Literatur. Der Schweizer Autor Daniel Ganzfried hat den Suhrkamp Verlag in der Schweizer Weltwoche aufgefordert, das in die Kritik geratene Buch vorläufig vom Markt zu nehmen. Der Verlag solle überlegen, ob das Buch als Roman statt als Biographie neu aufgelegt werden könne (siehe FR vom 10.9.98); Andreas Breitenstein bricht in der Neuen Züricher Zeitung (09.09.1998) unter dem Titel "Auschwitz als Therapie?" eine Lanze dafür, daß Auschwitz nicht als Medium veröffentlichter therapeutischer Selbstfindung mißbraucht werden dürfe, denn es gehe um historische Wahrheit und der darin enthaltenen moralischen Reserve; und auch Jörg Lau geht wie selbstverständlich davon aus, daß "wir uns der historischen Wahrheit vergewissern wollen".
Eine Wahrheit ist: Wenn Vergangenheit nur in der Gegenwart präsent ist, dann gibt es ab den Moment, in dem niemand mehr der Wahrheit glaubt, daß in Auschwitz Millionen von Menschen getötet wurden, keine Auschwitz-Getöteten mehr. Eine andere Wahrheit ist aber auch, daß dieser Moment nur mit größter Unwahrscheinlichkeit sich einstellt. Aber möglich ist es. Und es wird umso wahrscheinlicher, je stärker auf eine Wahrheit (der Geschichte), auf eine Geschichte abgehoben wird.
Darf man Einnerungen an den Holocaust erfinden? Ja, man darf. Vielleicht muß man.