Anthropologie, was nun?
unter der gegenbegrifflichkeit anthropologie vs. sozialwissenschaften lassen sich vielleicht plausibel folgende gegensatz- bzw. bedingungspaare gruppieren, die mitmarkieren sollen, was es heißt, weiterhin sätze oder theorien über gesellschaft und menschen zu produzieren; die mitmarkieren sollen, welcher art von entscheidung oder entscheidungsunfähigkeit man wird begegnen können, läßt man sich auf eine denkungsart ein, die mehr als nur wandel von grundlagen behauptet, sondern gar grundlegenden wandel des wandels von grundlagen. in bloßer aufzählung sind es folgende spannen:
a) machen um jeden preis vs. unterlassen nicht um jeden preis: effekt: strukturelle ambivalenz, unreine theorie.
b) systematische theorie haben vs. theorie haben übers haben/nichthaben von theorie vs. keine theorie haben, sondern ein bildendes gespräch. effekt: garantieverluste fürs verstehen und für intersubjektivität.
c) initiierende wissenschaft vs. reaktive wissenschaft. effekt: parasitärer status.
d) wahrheit vs. beschreibungsverhalten. effekt: verschiebung des verhältnisses von erkennen und gegenstand, das eine klarere sicht aufs klarer werdende birgt, hin zu einer klaren sicht aufs struktuell verschwommene und schließlich zur verschwommenen sicht aufs verschwommene als bedingung für den absprung von der okularen erkenntnisweise.
e) wissenschaft als universitas vs. wissenschaft als societas. effekt: gradwanderung zwischen notwendiger enthypostasierung von wissenschaft und privatistischer erzählung.
f) reflexion auf die bedingungen der möglichkeit von erfahrung (erkennntistheorie) vs. reflexion auf die bedingungen der objektivität der erfahrung (transzendentalphilosophie) vs. reflexion auf die erfahrungen als bedingung von möglichen/unmöglichen erkenntnissen. effekt: einsicht in blindheit.
die große frage, die man heutzutage vielleicht nicht mehr allzugerne stellt, ist für mich immer noch: was ist zu folgern, wenn man zu betrachten versucht, wie der Mensch in die Natur, wie die Gesellschaft zwischen Natur und Mensch gestellt wird?; und wie und was darf geschlußfolgert werden, wenn man sich die Objektivationen der Beziehungen und Kontakte zwischen ihnen anschaut? Die Frage zugespitzt lautet: Schafft es die Form Gesellschaft, Verläßlichkeit so weit zu vergesellschaften, daß nicht mehr erkennbar ist (und wer weiß: vielleicht auch einmal biologisch nicht mehr rekonstruierbar ist), in welch gigantischem Maße ebendiese Verläßlichkeit hilflose (wenngleich funktionierende) Reaktion auf die anthropologische Verlassenheit des Menschen ist ("kulturelle Nulllage"; G.Dux oder auch als seinsvergessenheit bezeichnet), oder hat es Gesellschaft als Form nur dann geschafft, Eigenwert zugesprochen zu bekommen, wenn sie alle historisch und kulturell zu Gestalt gekommenen Verläßlichkeitsbildungen inklusive der eigenen immer wieder als ein immer-wieder-Anrennen gegen eben diesen "Agenskern" namens Verlassenheit zu begreifen lernt und damit, also mit der Einsicht ins zentral Unhistorische und Unhistorisierbare (das unendliche und das nichts), erst Gesellschaftsgeschichte als konstitutiv experimentelle, als niemals zu Ende gehen könnende entwirft, die freilich nur einen Halt hat: daß es keinen Halt gibt? Schreitet Gesellschaft also fort und verliert jeglichen Anhalt herauszubekommen, auf welche Probleme hin sie die Lösung ist, also was gelöst wurde durch Gesellschaftlichkeit, oder bleibt sie, egal wie fortgeschritten, immer im Bannkreis der Nichtbeantwortbarkeit der Frage, auf welche Frage sie (die Gesellschaft) die Antwort ist? ist letztlich gesellschaft nichts anderes als eine antwort, die ihre frage in der zukünftigen zeit hat suchen müssen (zeitinversion, perfektion, später perfektibilität)? oder doch eine emanation auf der suche nach dem einen agens (absolutistische logik)? oder, schließlich, einfach ein fall unter vielen fällen von evolution?
die größe der frage, wenn sie denn schon als frage und sei es nur latent beunruhigte, ließ wohl der religion zu beginn der menschlichen geschichte keine andere wahl, als auszuweichen. der zustand des nichtseins sei angesichts der tatsache, daß wir so viele billionen von jahrtausenden in ihm verbringen, der natürliche zustand für den menschen; das leben und das menschliche leben sei nichts anderes als unnatürliches flimmern auf dem bildschirm der ewigkeit. - diesem rahmen sind, grobschlächtig gesprochen, die religionen nachgehangen, soweit sie ein konzept des jenseits besaßen und dies eindeutig als wahres sein auszeichneten. es ergab sich aber, daß der protestantische anschluß des subordinären diesseits ans jenseits, daß die aufwertung des diesseits als auffüllbares himmelskonto auf erden zu verwicklungen führte, die den status des jammertals als vorübergehende hölle mit punktebonussystem verrückte und schließlich aus dem horizont eines jenseits hinauskatapultierte. die exploxion der moderne begann mit einer wortwörtlichen katastrophe, also mit der wendung der ausrichtung; man schaute nicht mehr gen himmel, sondern beobachtete sterne, und wurde: helliozentrisch. das ausweichen gelang nicht und wurde zur katastrophe, die sich zeit ließ, jenseits zu verdiesseitigen. grobschlächtig kann man zusammenfassen: Der Reichtum westlicher Welt ist Eigentum des Todeskultes (säkularisation). Auf jede Errungenschaft okzidentaler, konkurrenzökonomischer und technischer Rationalität kommt ein Universum verstümmelter Leiber, verbrauchter Zeit und fertiggemachter Geschichte. Der Sprung einiger weniger Herrscher religiöser, machtpolitischer und warenproduzierender Provenienz in die Einsamkeit des Menschen in der Natur versprach einmal in der Sprache der Dialektik eine Resurrektion der Begegnung zwischen Menschen und Natur in einem Dritten, der Gesellschaft, verbrach jedoch den jetzt endgültig in seinem Ausmaß aufschließbaren Absturz der Masse Mensch in die Täler, in denen nur noch eine Frage Wirklichkeit antreibt: Wer frißt wen zuerst? Gegen Ende des 2ten Jahrtausends versuchten einige wenige, aus einer Hyperreduktion der menschlichen Geschichte zu "eat me, feed me, help me, hurt me" noch Kapital zu schlagen, um dem Niveau der radikalen Veränderungsnotwendigkeiten wenigstens mit Beispielen, Andeutungen von Veränderungsmöglichkeiten hinterherzulaufen: wohl vergebens. - eingedenk der nationalsozialistischen tat, die am brutalsten sichtbar machte, daß es keine unanstastbare grundlage sozialer vergemeinschaftung gibt, die nicht auch fertiggemacht werden kann, ist es sinvoll, heutzutage davon auszugehen, daß der mensch, daß menschen, daß menschwürde- und rechte keine limits, nicht mal limitionalität vertreten, daß sie keine form, das sie kein medium für die gesellschaft darstellen, um - wie es heißt - kontingenz zu unterbrechen. und doch bleibt uns nichts anderes übrig, als zuzustimmen, wenn der amerikanische hauptankläger in nürnberg, robert h.jackson, im namen aller zivilisierten menschen seine anklage behauptet, oder wenn das rote kreuz mit dem satz zur blutspende animieren will, daß kein menschenleben mit geld bezahlt werden kann. auch wenn wir nicht wissen, was die einheit des/eines menschen ist, es eigentlich schon vor knapp zweihundert jahren nicht wussten, als die philosophische anthropologie sich exakt dieses problems annahm. daß in der theorie erst in den letzten jahrzehnten unseres jahrhunderts abschied genommen wird vom begriff des menschen, kann man als fahrlässiges ignorien staatlicher sozial- und ordnungpolitik interpretieren (vielleicht eine altlast des deutschen idealismus), da eine dezentrierung des menschen zu einem anthropologischen datenpool schon vor ca. 200 jahren einsetzte. es wird wohl so gewesen sein, daß mit der clusterung, der hochrechenbarkeit, der aggregierung, der verdatung und merkmalszerschneidung von zu ordnenden menschen das bedürfnis auftrat, doch einen davon unberührbaren essenzenkosmos, ein wesenskern des menschen zu behaupten. es hat auch viel pausibilität für sich, die um 1600 entstandene philosophische anthropologie (andere sagen: 1800) als eine art schulleute-weltkenntnis zu identifizieren, die der denkungsart einer weltleute-weltkenntnis, wie sie die moralistik eines montesquieu, eines montaigne u.a., entgegenstand und nicht zu akzeptieren bereit war, daß menschen doch vordringlich aus ihren sitten, usancen und üblichkeiten zu verstehen sind, so odo marquard (habermas und karl otto apel als letzte große gegner mit ihrem verweis auf die notwendigkeit regulativer prinzipien). wie dem auch sei: da die existenz gottes im 17 jahrhundert von der rationalitätsform notwendigkeit übergesetzt wurde in die form der wahrscheinlichkeit, so manfred schneider, schloß man wetten ab auf die existenz gottes. pascals frage, was gewinn-, was verlierbar ist, wenn an gottes existenz geglaubt wird, verknüpfte die notwendigkeit einer unbeobachtbaren autorität an einen intrinsischen kalkül: unterwerfung funktioniert, das war die these, nicht mehr unabhängig vom entscheidungsstratum des sich-unterwerfenden. gott tritt ein in die wahrscheinlichkeit, notwendigkeit in die unwahrscheinlichkeit, der mensch in die zeitlichkeit. ihn ereilt spätestens mit goethes faust das gleiche schicksal, objekt einer wette zu werden. nun wetten gott und teufel auf den menschen. gibt es ihn? und wenn ja: gibt es ihn als sich selbst intervenierende variable, oder ist er nichts anderes als die verlegenheitslösung für eine staatsmachttechnische reform von sozialer ordnung, die sich nicht mehr auf eine imaginäre macht gottes stützen kann? ist die promotete selbstliebe der menschen, verstanden als unerträgliche reaktion auf die unerträgliche erbsünde des menschen, nämlich sich selbst unerträglich und zur unruhe verdammt zu sein, nichts anderes als notwendiges epiphänomen einer zu beginn der neuzeit entstanden lage, in der gottesfurcht und gottesliebe nicht mehr ohne weiteres von kirche und staat vertreten werden konnten?; in der, so luhmann, die gesellschaftliche umstrukturierung neue funktionsanschlüsse nötig machte fürs soziale ordnen? und ist hier der punkt auszumachen, von dem aus eine gewaltige linie bis in die gegenwart hinein gezogen wurde, nämlich: daß herrschaft, zucht und ordnung letztlich beinahe telisch auf selbstherrschaft, selbstzucht und selbstordnung hinauslaufen?; daß selbständigkeit, selbstbehauptung und selbstbestimmung vollkommen haltlos in die bresche traten, als es darum ging, beschränkungen einzuführen, wo die natur von sich aus keine mehr gab? und: darf man noch hoffen, daß in dieser gewalttätigen rationalitätstransgression eine kulturelle rationalität mitausgetreten ist, in der sozialisation, persönlichkeit und lebenswelt, in der menschliche eigenschaft und gesellschaftstypisches merkmal, in der determination und freiheit ein nichtgewaltsames ende des menschen bedingen, wie habermas nicht müde wird zu begründen?
wie dem auch sei: die unfassbarkeit des menschen wird immer greifbarer, nicht zuletzt deswegen, weil das repertoir an asymmetriebegriffen ausgereizt scheint (also: mensch vs. gott, tier, unmensch, gesellschaft, maschine) der vorerst letzte erinnerungsposten an den menschen ist das rekonstruieren seins verschwundenseins.
man darf wohl gegen ende des 2. christlichen jahrtausend davon ausgehen, daß es dem menschen in seiner jetzigen fassung unmöglich ist zu verstehen, was er ist, von was er ist, wohin er geht, und was er in der zwischenzeit macht (von daher sind alle kognitions-, gen- und neurowissenschaftler gefährliche abenteuerer, also in der tradition der moderne stehend). was kann ich wissen, was muß ich tun, was darf ich hoffen - diese fragen können zwar weiterhin gestellt werden, und neuerdings werden sie gar schon auf plakaten kundgetan, aber: jede ernsthaft gemeinte antwortsuche muß sich eingestehen, daß kein subjekt mehr da ist, das zur antwort fähig, das ansprechbar oder gar noch verantwortbar ist. auch der derzeit herrschende sachliche kommunismus gibt keine antworten auf dei frage, was der konsumierende mensch ist. dies festzustellen ist keine noch so geschickte reaktivierung des mißverstehens eines noli altum sapere, mit dem paulus im brief an die römer (11, 20) diese moralisch dazu ermahnte, nicht hochmütig zu sein gegenüber den juden; in der folge wurde aus dieser moralischen verurteilung des hochmuts eine mißbilligung intellektueller neugierde, so carlo ginzburg. suche nicht die hohen dinge zu wissen, oder: es sei sinnvoller, das zukünftige zu fürchten, als es erkennen zu wollen, hieß das motto der kirche, die um ihre verwaltungsmonopolstellung betreffs der geheimnisse der natur, gottes und der macht zu recht und dann auch vergebens besorgt war. 'was über uns ist, darum dürfen wir uns nicht kümmern' - diese eine fassung des mißverstehens paulus' bedeutet also heutzutage, bezogen auf die frage nach der menschlichen natur, nicht, vom sapere aude zu lassen, ein ausspruch horaz', der ursprünglich ebenfalls moralisch aufgeladen war ("sei verständig") und später dann kognitiviert wurde ("wage zu erkennen"). es bedeutet vielmehr zu akzeptieren (vergleichbar der anweisung freuds für das, was unter uns ist), nur noch wenn überhaupt vage erkennen zu können, und zwar nicht mehr ein transzendetales etwas à la durkheims gesellschaft, eine gesetzgebende instanz außerhalb des geistig-kulturellen daseins, ein wesen, einen pardoxie-und tautologieresistenten wert, eine bioanthropologische konstante, ein geworfenes an sich oder schlechthin, sondern all die bemühungen des erkennenwollens selbst. es bedeutet einzusehen, daß einsteins nur für mathematische sätze konturierte diktum, nämlich: solange sie sich auf die wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf wirklichkeit, natürlich für den gesamten epistemischen radius des denkenden und kulturellen menschen gilt: episteme des menschen meint nicht mehr als der erfolgreiche versuch, natur bis auf weiteres überredet zu haben, nicht einzugreifen in den bau einer welt der arbitrarietät, der kontingenz, der langandauernden non-vialbilität, in der es möglich ist, abzusehen vom nichtbezug zur wirklichkeit. da hier wirklichkeit/natur letzlich nur noch den reflexionswert zweiwertiger logik innehat (den negativen natürlich, den wert der störung, des fehlers, der katastrophe), mußte die positivität der semantischen, maschinellen, logischen und synthetischen setzungen unterderhand eine art erinnerungsposten fürs negative wirkliche einrichten (man kann das auch am gebrauchswert durchziehen). die marginalisierung, ephemerisierung von wirklichkeit als basis für die zeit- und raumresistenz der abstrakten realität wurde und wird immer noch gebrochen erinnert in der virtualität von gegenständen, objekten und positivitäten abstrakter realität. das konstituierende absehen vom bezug zur wirklichkeit/natur wiederholt sich in der dadurch möglichen selbstbezüglichen welt der abstraktion in gestalt des absehens vom bezug einer positiven position zur matrix der positionsrelationierung (struktur, funktion, system). das gleiche gilt wohl auch für die sprache; nicht nur besteht nirgends irgend notwendiger bestimmtheitsbezug zwischen signifikat und signifikant, noch zwischen signifikant und denotat. der erinnerungsposten wäre hier die qua metakommunikation niemals zu tilgende einsicht in die unnotwendigkeit der bestimmtheit einer versprachlichungsweise mit dem zu versprachlichenden. zum glück und pech hat sich an die stelle der metakommunikation der alltag eingerichtet und invisibilisiert die kontingenz (ob notwendig, so habermas, oder ebenfalls kontingent, so luhmann, sei dahingestellt). das erinnerbare opfer der funktionierenden bezeichnung von etwas ist die einsicht in die unbelebbarkeit der zeichen selbst, seien die zeichen auch ästhetischer art. jeder grad an abstraktion von realität zeigt in seinem bemühen, der unnotwendigkeit von zeichen und welt mit der expansion von unbelebten zeichen zu entsprechen ("im falschen dem falschen richtige beziehungen abzutrotzen"), ein wissen?, eine ahnung?, einen nieendenden impuls? an, das/die/der versucht, daß geräusch zu halten, das entstand, als der riß des menschen aus der organischen natur den geist/das lernen als aggregat auf den plan riefen ließ, dessen einzige bemühung darin besteht/bestand, den riß-aus als emanation des agens natur zu bedeuten, den riß-aus als beginn von ontischer emergenz zu bedeuten, oder schlicht als aus-riß eines gestaltexemplars von natur aus natur, um dem polyversum seine formel, seinen begriff zu liefern, auf das eine neue art der evolution, eine evolution, die sich in den grundlagen des wandelns des evolvierenden erneuert, evoliert. diese einzige bemühung, die sich etwa 3 tausend jahre zeit gegeben hat herauszubekommen, warum der mensch in der komischen hockestellung zu leben gezwungen wurde (einerseits körper, anderseits geschichte, beiderseits technik, umfänglich sterblichkeit); diese bemühung (letztlich: sorgenvernichtungsbemühung), deren letzte gestalt des objektiven, schon leicht anökologisierten geistes die kunst hätte sein können, müsste nun gelassen werden, um einen anderen modus operandi zu kultivieren, der nicht mehr auf irgend dimensioniertes opfer seine konstituierung gründet.
ist eine anthropologie und eine soziologie, die den menschen und die gesellschaft nicht mehr feststellen wollen, nicht fahrlässig und verantwortungslos, wenn sie keine alternativen mehr anbietet gegenüber mensch- und weltbildern, die die naturwissenschaften inclusive gen- kybernetik nicht nur in semantischer, sondern auch praktisch-technischer fassung auf den selbstbeschreibungsmarkt werfen? nein. kompensations-, heimats- oder gewißheitsangebote zu machen oder rückspiegel zu plazieren, in denen sich europa auf dem technikstier bei höchster geschwindigkeit noch zu gesicht bekommen kann, verbietet, um es widersprüchlich zu sagen, der stand verläßlichen wissens. angst, ratlosigkeit und orientierungserrosion nähren sich vom sich ausbreitenden wissen, daß der mensch erstens nicht im okzidentalen zu sich kommt und zweitens nicht erst seit der abschaffung der metaphysik obdachlos in die welt gestellt ist, sondern es schon immer war: obdachlos und unfähig, mit irgend einer anderen lebenden spezie zu sprechen (nachdem das eingebildete, für manche gar eingebrannte gespräch mit gott unwiederruflich dahin ist, und darüber hinaus wohl auch nicht mehr vermutet werden kann, daß irgendwer dem menschen erklärt, was er bedeutet, ein verhältnis gegenüber natur kultiviert zu haben). nicht umsonst wurde das konzept der selbstliebe zu beginn der neuzeitlichen anthropologien ersatzhalt für die ausfransung der gottesliebe, die dem menschen eigentlich nur eine tätigkeit ließ: nämlich zu sündigen, strafe zu erwarten oder gnade zu erhoffen. heute muß man feststellen, daß alle anstrengungen, alle überlegungen, alle kontextierungen, die den riß-aus der menschlichen natur aus der natur, also das nachträglich sich als obdachlosigkeit aufdrängende, rekonstruierbar machen wollten, die obdach sind. die fähigkeit, bedeutungen sich zuschreiben zu können, so klaus eder, mache denn auch das spezifikum der menschlichen natur aus; daß selbstbeschreibungen passieren, nicht, was selbstbeschreibungen konstruieren, komme überhaupt noch in die reflexive nähe eines begriffs vom menschen, dem würde zugestanden werden muß. insofern ist jede anthropologie, nimmt man gesagtes ernst, gezwungenermassen historische anthropologie. eine solche ist gezwungen zu oszillieren. einerseits muß sie sich begreifen als eine, die den menschen als falsches objekt der humanwissenschaft entlarvt und demgemäß ihr objekt zu wechseln hat, ohne dabei allzusehr auf die naturwissenschaften zu schielen (paul veyne). andrerseits muß ihr blick in die unmenschlichkeit der zukunft, demnach in die unmöglichkeit des menschen, weiterhin interesse haben an eine form des nicht-menschen, der den exzessen der unmenschlichkeit standhalten könnte, damit dieser nicht-mensch vielleicht noch interesse wird entwickeln können an den menschen, die wir jetzt noch sind (guido ceronetti).
ich komme zum abbrechen verdecken wollenden schluß:
machte es 1997 noch irgend sinn, das von kopernikus um 1510 initierte und von kepler, newton weiterentwickelte und bestätigte heliozentrische weltbild zu verteidigen gegen das ca. 1360 jahre ältere ptolemäische? ist es heute noch wichtig, argumente fürs heliozentrische und argumente gegen das geozentrische bild der welt im kosmos zu sammeln? oder anders: muß die evidente einsicht, daß etwa die kontinuität einer geschichte maßgebend durch erzählung konstituiert wird, diese erzählte kontinuität sich ihrerseits auf einheitstiftende lebenszusammenhänge stützt, die ihre einheitstiftende wirkung wiederum aus erzählten konstruktionen von kontinuität bezieht, die ihrerseits usw.; muß also diese einsicht in die zirkularität von subjekt und objekt, von erkenner und erkanntem immer noch plausibiliert werden gegenüber einer sichtweise, die das welt-menschverhältnis, das horizont-gegenstandverhältnis, das erkenntnis-erkenntnisgegenstandverhältnis immer noch vom archimedischen punkt namens "unter sonst gleichen umständen" aus in den griff und begriff zu bekommen versucht? oder, nochmals anders: muß man heute immer noch auf einer wesentlichen trennung bestehen zwischen historischer und soziologischer betrachtungsweise von zeiten (tenbruck contra wehler), zwischen geschichtlicher und evolutionärer theorie von gesellschaft (habermas contra luhmann), zwischen verstehen und erklären (hermeneutik und positivismus), zwischen moderne und postmoderne (kommunitarismus und dekonstruktivismus)? oder, ein letztes: sollte man weiterhin, aus welchen motiven auch immer, festhalten am ontischen, ontologischen, dialektischen, handlungstheoretischen, subjekttheoretischen denken und das diese denkzeit in gänze abschließende denken, nämlich das der kybernetik, verwerfen, weil mit diesem denken der mensch in eine matrix eingewoben wird, die nie wieder zuläßt, vom menschen als dieser oder dieses, als dieser und nicht das, als subjekt und nicht objekt, als objekt und nicht subjekt, als identitäres und nicht diverses zu sprechen? (wenngleich gotthard günther das ziel der kybernetik als anthropologischwerdung bestimmt hat.) ich nenne diese vielleicht wirklich überholten debatten theoretischer, methodologischer und philosophischer standpunkte, um - mit ein wenig rorty im rücken - zu behaupten, daß von solchen diskurs- und dissensformen heute vielleicht ohne große fahrlässigkeit abgesehen werden kann, um sich neuen, wenigstens anderen dimensionierungen von fassungen der mensch-welt-verhältnisse zu widmen. auszugehen ist fürs hiesige themenfeld demnach von folgendem:
1) die in der griechischen philosophie bemerkte entstellung des menschen in seiner natur (physis/nomos/polis) eröffnete ein vakuum im selbstverständnis des menschen, das bis heute nicht gefüllt wurde und genau darin ihre erfüllung findet, und es eröffnete den bis heute unabgeschlossenen drang zur feststellung der natur. der prozeß der ephemerisierung von polis darf wohl verschränkt gedacht werden zum prozeß der konstantierung einer nun nicht nur veränderbaren, sondern als per se veränderlichen natur gedachten physis. je größer die einblicke ins nichtdauernde des sozialen wurden, desto größer die anstrengungen, wesen oder anwesen aufzubringen, die der verzeitlichung wiederstanden (angelus silesius' "mensch, werde wesentlich!"). der bruch blieb und bleibt irreversibel; die vermeintliche fassung des differenten in begriffen der beziehung, der relation, des prozesses franst zunehmend aus; an steht, nach der überwindung des im anwesen fundierten denkens durchs im abwesen fundierte, der übergang ins unwesen-denken, ins unwesentliche, ins paragranische.
2) Gesellschaftssysteme sind, so lautet eine einprägsame fassung, deswegen in der Lage, sich gegenüber der äußeren Natur mittels instrumenteller Handlungen und gegenüber der inneren Natur mittels kommunikativer Handlungen zu erhalten, also sich von der naturgeschichte zu emanzipieren, "weil auf soziokultureller Entwicklungsstufe tierisches Verhalten unter Imperativen von Geltungsansprüchen reorganisiert wird". zugleich und deswegen gilt, daß zur durchbrechung eines reiz-reaktionsmechanismus, der das unmittelbare stillen von bedürfnissen will, herrschaft notwendig war, die erst verselbständigung von menschlicher geschichte ermöglichte. denn nun mußte die herrschaft sich unabhängig machen vom natürlichen verfall der herrschenden, wollte sie nicht durchs sterben der herrschenden einen rückfall in den naturzustand riskieren. tradierung des herrschaftsprinzips als bedingung eigener geschichte wurde zugleich beginn einer naturalisierung des beherrschens: äußere gewalt wurde zur verinnerlichten gewalt, und diese wurde bedingung einer ihrer selbst bewußten subjektivität, die ihrerseits voraussetzte: allgemeinheit des prinzips herrschaft, eine allgemeinheit oder besser abstraktion, die die heteronomie der formen, in denen sich herrschaft vermittelte, auflöste zugunsten der unterwerfung unter das eine prinzip. - diese dialektik der anthropogenese darf im denken nicht unterschritten werden.
3) es ist weiterhin nicht sinnlos davon auszugehen, daß die bestimmung von objektivität sich nicht darin erschöpft zu behaupten, daß alles subjektiv ist, daß es individuen gibt, daß subjektivität objektiv sei. auch muß die grausame erfahrung, die wir mit theorien und weltbildern gemacht haben, die den menschen oder bestimmte menschenbilder vor augen hatten, nicht dazu führen, mensch nur noch als nebenkläger oder nebenangeklagter zuzulassen. vielleicht ist es sinnreich, davon auszugehen, daß es nicht nur verschiedene exemplare der gattung mensch gibt, sondern auch verschiedene soziale (und nicht ethnische, rassische usw.) exemplargattungen des menschen. sozialität und technik wären nicht mehr nur beschreibbar als applikate, als ornamente, als zutat zu einem unterliegenden (also subjektiven) menschen, sondern der mensch geht ein in die jeweilige geschichtliche, kulturelle, machtformative und auch biographische situation. das wäre das endgültige ende einer kantianischen moral. dann wäre allerdings zu fragen, was am menschen nichtsozial resp. sozialapriori-apriori ist, das berechtigt, weiterhin im begriff mensch zu sprechen. es könnte der körper sein, wenn man ihn in der marxradikalisierenden fassung hans f.geyers versteht, dem der geist das ist, was der körper aus ihm macht, und damit eine tiefere verstrickung meint einleiten zu können, als es marx mit seinem sein-bestimmt-bewußtsein-satz gelang. wenn es stimmen sollte, daß die bisherigen focii der menschfassungen, nämlich der antike leib, die mittelalterliche seele und der moderne geist, nicht durch die kybernetik abgeschlossen werden, dann könnte sich der körper als weiterer oder gar letzter focus erweisen, die seit der neuzeit andauernde provisorische leibliche existenz darf man sagen: aufzuheben.
4) und letztens: mit dem einzug des sinns in die evolution des menschen-in-gesellschaft-mit-sprachlicher-kommunikation,
mit der mitteilbarkeit von welt ohne notwendige erfahrung, also mit der
einholbarkeit von welt in zeichen begann der immer noch unfassbare prozeß,
welt tautologisch machen zu wollen und sie dadurch paradoxer zu machen.
naturalisierungen des sinnvermögens oder matthematisierung von lebensverhältnissen
haben nichts daran geändert, daß tautologisches wie auch virtualisierte
paradoxie keinen einlaß finden ins genuin menschliche leben: dies
scheint auch weiterhin nur dem geborenwerden und dem tod vorbehalten. zu
sagen, die würde des menschen ist angetastet, solange er nicht weiß,
was er als konstrukteur von wirklichkeit ist, als auch zu sagen, die würde
des menschen bleibt hypostasie, solange er nicht erfährt, was er als
konstruiertes und gemachtes nicht sich selbst verdankt, bleibt defizitär
bezogen auf die frage, was der mensch gewordenen ist und werden wird. vielleicht
hilft hier die jahrhunderte vernachlässigte leiblichkeit des menschen
weiter, wenn es auch sicher sei wird, daß die weltlichkeit des leibes
das bezeichnen, bedeuten und verstehen auf die schwerste probe stellen
wird.
literatur: