Bernd Ternes

Sozialverträglich Amok laufen


Der Vorteil einer in Krise befindlichen Gesellschaft gegenüber einem Menschen in ähnlicher Situation ist der, daß sie sich nicht umbringen kann, sondern nur umbauen. Glaubt ihre politische Öffentlichkeit noch an die Zuschreibung Krise und nicht etwa an Katastrophe, dann auch daran, im Laufe der Zeit am miserablen Zustand, etwa der desintegrierenden Arbeitslosigkeit von 6 Millionen Menschen, etwas zu ändern. Ihr stehen für das Ummodeln sogenannter struktureller Krisen in Chancen mindestens 3 Generationen zur Verfügung; der einzelne Mensch hingegen muß sich sehr schnell wieder auf die Reihe bringen, um nicht in Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Sozialhilfe, Psychiatrie oder Suizid zu fallen. Um das zu verhindern stehen ihm, wenn die Lebenspartner, Freundschaften und Leidenschaften nicht ausreichend das gesellschaftliche Überflüssigsein ausgleichen können, noch externe Hilfen zur Verfügung, von Therapie über Flucht in die Krankheit bis hin zur Psychoanalyse. Diese Möglichkeiten besitzt eine in Turbulenz geratene Gesellschaft nicht. An wen könnte sie sich auch wenden, wenn sie für Millionen von Menschen, denen sie den Stempel der Überflüssigkeit aufdrückt, selbst egal geworden ist?

Einer bekannten Gesellschaftstheorie zufolge sind nun Recht und protestierende soziale Bewegungen für die Gesellschaft das, was das Immunsystem für den Körper und Emotionen für das Bewußtsein sind. Recht soll Erwartungen auch dann noch realisierbar halten, wenn faktisch alles dagegen spricht; Protest sozialer Bewegungen soll etwas faktisch werden lassen, was so nicht zu erwarten war. Was, von der Rückseite betrachtet, dem Körper Autoimmunkrankheit und dem Bewußtsein blinder Affekt ist, das war der Gesellschaft hingegen die Revolution gewesen. Diese, ganz wie die Töchter des Pelias, zerstücke die Menschheit, um sie zu verjüngen, so St.Just in seiner großen Verteidigungsrede fürs Blutgericht gegen Danton. Was passiert nun aber, wenn Revolutionen nicht einmal mehr als Lokomotiven der Weltgeschichte dienen, sondern sich ins Reservat der Technologie zurückgezogen haben? (— vorausgesetzt natürlich, Technologie und Geschichte sind nicht ein und das selbe.) Was passiert, wenn nicht einmal mehr Reformen die Gesellschaft an ihren wunden Gelenken zu packen vermögen und nur noch das Gerede vom Reformstau die Illusion wachhält, Reform sei noch politisch gestaltbar? Was passiert, wenn die letzte bemerkenswerte und bedrohliche soziale Bewegung, die neofaschistische, Statthalter geworden ist für das, was man die Systemfrage nannte? Kurz: Was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, die keine soziale Bewegung vernünftiger Gestalt erzeugt? Zeitigt die Abwesenheit gesellschaftlichen Tumults Stauungen unterhalb der Decke noch funktionierender Normierungen des Geldes und sozialen Drucks?; oder soll man die modern-bürgerliche Kompromißkultur, das Sensations- und Spektakellose der Konsensfindungsprozeduren (sic!) gerne als Preis dafür bezahlen, nicht mehr in gesellschaftliche Kämpfe eingespannt zu sein, die Gewalt anders definieren als die Staatstheorie?

In den Hochzeiten des Rheinischen Kapitalismus galt die Abwesenheit unruhestiftender Bewegungen als Garant für eine im Kern stabile, komatöse Gesellschaft. Mit der Rote Armee Fraktion gab es in den 70er Jahren ein Aus-dem-Schlafen-Reißen, das die gesellschaftliche Befindlichkeit bloß auf der spiegelbildlich anderen Seite zum Ausdruck brachte: theoretisch begründeter, aber sozial unverträglicher Amok. Wenn Pierre Bourdieus Diagnose nun stimmt, daß Europa am Beginn einer neuen Dimension gesellschaftlicher Auseinandersetzungen steht: wäre dann nichts dringender zu erlernen als sozialverträglich Amok zu laufen?

Die bundesdeutschen Studentenproteste ebenso wie die ersten Besetzungsversuche der Arbeitslosen haben zumindest nicht nur gezeigt, daß wir lieber von den USA als von Frankreich lernen, sondern auch deutlich gemacht, daß mit den bewährten Bewegungsdemonstrationen keine "Verjüngung" der Gesellschaft zu machen ist: Solange es noch von allen Seiten Zustimmung hagelt, muß man an der Ernsthaftigkeit des Protestes zweifeln.