Bernd Ternes

Zum Begriff der Wahrnehmung/Aisthesis


Bevor man sich diesem Begriff nähert, ist es ratsam, einige Unterschiede einzuziehen zwischen Aisthesis und dem Begriff Ästhetik. Nicht nur in der Alltagssprache scheinen beide in einer priviligierten Beziehung zueinander betrachtet und verwendet zu werden, so als bedingen ästhetische Sachverhalte ein besonders Maß an Aisthesis und Aisthesis ein besonders Maß ästhetisierter Durchdringung der Sachverhalte resp. Gegenstände. Dabei scheint der Gedanke, daß sich Ästhetik selbst auf die Wahrnehmung bezieht und nicht nur auf Werke, Gegenstände und Sachverhalte, scheint der Gedanke, daß es sich bei der Ästhetik eigentlich um eine ästhetisch werdende Wahrnehmung handelt, nur wenig Resonanz gefunden zu haben. Manche immerhin gehen, wenngleich in nur lockeren Assoziationen, soweit, die Kunst der Gesellschaft als riesige Projektion der Ontogenese des Kindes zu bedeuten, wenn es denn stimmt, daß in der kindlichen Ontogenese die Wahrnehmung die entscheidende Entfaltung erfährt in der Zurechnung auf Mitteilung, die informiert (Information durch Performanz, also durch Anwesenheit; siehe P. Fuchs 1998: p164).

Sich den Begriffen Ästhetik resp. Aisthesis zu nähern bedeutet, verschiedene Sorten von Unterscheidungen zu erwähnen. So ist das begriffliche Umfangsvolumen von Ästhetik abhängig davon,

Zudem ist es wichtig zu unterscheiden, von welcher institutionell-textuellen Ebene aus man 'der' Ästhetik ansichtig wird:
  1. Man kann ausgehen von den "klassischen" vernunftgeprägten Äußerungen über Ästhetik, die diese noch im Triumvirat Philosophie, Ethik und Ästhetik (dem Wahren, Guten, Schönen) verorteten – sowohl rational abwertend wie bei Kant oder Leibnitz (unteres Erkenntnisvermögen) oder rational aufwertend wie bei Baumgarten und Goethe (Vervollkommnung der Vernunft, "felix aestheticus");
  2. man kann den unterschiedlichen Einspannungen der Ästhetik in die Paare schön/wahr (Kant), schön/nützlich (Heidegger) und schön/gut (Nietzsche) nachgehen, also den Ästhetiken des Urteils, des Machens und des Lebens, und verfolgen, wie sich die Ästhetik von einer Diskursform der Rationalität des urteilenden Verhaltens zu schönen/nicht-schönen Gegenständen immer weiter ausbaut bis hin zu einer Ästhetik, die bis dato unberücksichtige soziale, kulturelle, lebendige "Gegenstände" mit in die ästhetische Diskursivierung einbezieht;
  3. man kann von dieser Transgression der Ästhetik hin zum Ästhetischen die weitere theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff und die Veränderung des Begriffs verfolgen (Adorno, Benjamin, Lukács, Welsch);
  4. man kann ausgehen von Äußerungen über Ästhetik von Künstlern, die in ihrer künstlerischen Praxis Theorien über Ästhetik haben einfliessen lassen (vorallem marxistische Künstler wie Eisenstein, Nono, Müller);
  5. desweiteren kann man Äußerungen über Ästhetik lokalisieren, wenn sie aus einer sogenannten akademischen Ästhetik heraus entstanden sind (etwa Haug, Jameson, Bürger); sowie ästhetische "Diskurse", die keine ästhetischen Diskurse mehr sein wollen (Dadaismus, Fluxus, Trash-Kultur).
Weitere Unterscheidungen, die an den Begriff angelegt werden können, sind: Alle diese Bemühungen, die Begriffe Ästhetik/Aisthesis von der Seite der Ästhetik aus zu differenzieren in begriffsgeschichtlicher, begriffslogischer und soziologischer Hinsicht, werden von drei Doppelfragestellungen 'unterspült', nämlich: Ist Ästhetik eine Diziplin der Philosophie bzw. ist die Aisthesis/Wahrnehmung eine Funktion des Bewußtseins?; hat Ästhetik einen privilegierten Zugang zu den Künsten, etwa zu Literatur, Musik, Malerei, Film, also zum kultus bzw. hat die Aisthesis einen priviligierten Zugang zur Wirklichkeit der (nicht von) Welt, also sowohl zum kultus und zur cura?; und, drittens: Ist Ästhetik Effekt der Form oder der Erfahrung bzw. ist Aisthesis etwas, was der Körper tut oder was doch nur "mentale Zustände" markiert?

Im Folgenden wird eine Entscheidung getroffen: Zu hören sein wird vordringlich die Aisthesis, verstanden in der begriffsgeschichtlich eher verschütteten Bedeutung als Wahrnehmen, Gewahrwerden, "war-nemen", und weniger die Ästhetik als Reflexionstheorie der Künste oder der Erkenntnis-und Wahrheitstheorie (siehe M. Franz 1990): Innerhalb der von Franz ausgemachten vier Grundpositionen in der Beziehung Ästhetik/Wahrheit, nämlich Wahrheitsbestreitung (Platon), Wahrheitsverzicht (Nietzsche), Wahrheitsverdopplung (Prodikos) und Wahrheitssuche (Aristoteles) könnte für den hier favorisierten Aisthesisbegriff keine Position in Frage kommen, da es ihm weder um Wahrheitsbestreitung noch um Wahrheitsverzicht geht und erst recht nicht um deren Verdopplung und deren Suche. Vielmehr wird Wahrnehmung verstanden als Schied, als eine Schnittstelle zwischen Sensation und Bedeutung, eine Art Haut des Erkenntnisapparates, die verhindert, daß Erfahrung in Gänze von der Form verdrängt werden kann, und damit die menschliche Natur nicht zu einem Monstrum werden läßt. Ästhetische Wahrnehmung wäre die Übersetzung einzelmenschlicher Erfahrung in Medien sinnlicher Vergegenwärtigung (Franz 1990: p420), allerdings ohne damit den Gestaltungsspielraum des Denkmöglichen mitaufzubauen, ohne ein irgend vorhandenes Allgemeines im Einzelnen/Besonderen zu entdecken resp. ohne Vermittlung des Einzelnen und des Allgemeinen zu leisten; also ohne all die Markierungen, die für Aristoteles den Geltungsanspruch einer Wahrheit der Ästhetik (Kohärenz künstlerischer Wahrheit) rechtfertigten.

Auch die Fassung der Wahrnehmung im Sinne des "Materials" für Wissenschaften, die das Erleben (und nicht etwa Handeln) analysieren und zunehmend Wahrnehmung naturalisieren (etwa in der Wahrnehmungspsychologie, in der Neurophysiologie, in den 'Kognitionswissenschaften'), entspricht nicht der hier verfolgten Linie einer Wahrnehmung, die eher ins "Reich"/"Fleisch" der Bedingungen zur Er- und Verunmöglichung von Reflexion, Analyse und Synthese zu (dis)placieren ist, und zwar als eine 'glaubhafte Unmöglichkeit' (Aristoteles), nämlich weder der sinnlichen noch der rationalen Kognition (Aistheta und Noeta) zugeschrieben werden zu können. – Dieser hier favorisierten und in Folge auszuarbeitenden Fassung der Aisthesis gingen jedoch begriffsgeschichtlich andere Fassungen voraus, Fassungen, die das Wahrnehmen mit Geschmack, mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit, mit subordinierter Sinnlichkeit konnektierten, aber auch Fassungen der Aisthesis, die auf den etymologischen "Grund" des Wahrnehmens zu rekurrieren suchten, und die nun in aller Kürze aufrißartig markiert werden sollen (ausgreifend und bei Kant beginnend siehe das zweibändige Werk Gerhard Plumpes 1993, das allerdings den Begriff Wahrnehmung nicht einmal im Register aufführt; zum Begriff Ästhetik siehe Ritter [Hg.] 1971: Sp. 555-580).
 


Aisthesis, als Lehre der sinnlichen, körperlichen Wahrnehmung und Empfindung durch Aristoteles und Platon richtiggehend theoretisiert, fand bei Parmenides wohl zum ersten Mal die bis heute prägende Relationierung, indem er sie in Kontrast setzte zur kognitiven, unkörperlichen, höheren Erkenntnis. Da für ihn Wahrnehmen wie Denken gleichsam Welt nur erfassen können auf Grundlage der körperlichen Zustände warm/kalt, scheint Parmenides von einer den beiden Modi nochmals untergelegten körperlichen bzw. leiblichen Weltaufnahme auszugehen, die Logos und Aisthesis überhaupt erst ermöglichen. Diese Architektur weist Ähnlichkeiten mit Heideggers Begriff des Phänomens auf, der von diesem innerhalb eines wahrheitsphilosophischen Zusammenhangs und mit der 'apophantischen' Logik ausgestattet als ein sich an sich selbst Zeigendes ausgewiesen wird, gegenüber dem das Erscheinen schon abkünftig ist. Heidegger rückt das Sich-Zeigen in die Nähe der griechischen Aisthesis und des griechischen Noein; beide ermöglichen ein Sehen des Sich-Zeigenden, das der Urteilsform wahr/falsch vorausliegt. Damit dieses Sehen wiederum ermöglicht wird, braucht es bestimmte Arten des Zugänglich-Werdens, wie etwa die der Phänomenologie. Je nach Zugangsart kann sich Seiendes von ihm selbst her zeigen, bei falschem Zugang kann sich falscher Schein einstellen. Aber die Zugangsart ist nicht die notwendige Bedingung der Möglichkeit für das Seiende, so Heidegger (Ströker/Janssen 1989: p215). – Auf die Art des Zugänglich-Werden des Seienden, also auf den spezifischen Modus des Weltkontaktes und der Weltaufnahme, verweisen auch, jetzt wieder im Bannkreis der Wahrnehmung, mit unterschiedlichen Konzepten Empedokles, Platon und Parmenides auf der einen und Heraklit sowie Anaxagoras auf der anderen Seite: Während die einen davon ausgehen, daß Wahrnehmung als von den Dingen ausgehenden Ausflüssen zustandekommende nur gelingt, wenn die Gleichartigkeit der Elemente der Aussenwelt mit den Elementen im wahrnehmenden Subjekt gewährleistet ist, sieht die andere Seite Sinneswahrnehmung durch den dem wahrgenommenen Objekt entgegengesetzten Stoff im wahrnehmenden Subjekt gewährleistet (Ritter [Hg.] 1971: p119); für Anaxagoras ein Grund mehr, an der Wahrheitserkenntnisfähigkeit des Wahrnehmens zu zweifeln. Bei Protagoras entfallen diese Zweifel dadurch, daß er Wahrnehmung als eine Art Zusammenstoß einer äusseren Bewegung des wahrgenommenen Objekts mit der inneren Bewegung des wahrnehmenden Subjekts konzipiert; statt hat zwar keine Identität von Wahrgenommenen und durch Wahrnehmung Genommenen, dafür jedoch reicht hier die Identifikation des Wahrgenommenen durch (nicht mit) die innere Bewegung des Wahrnehmenden aus, um wahre Erkenntnis in den Grenzen der Aisthesis zu konzipieren (Erkenntnisrelativismus). Platons Konzept erkennbarer wahrer Ideen auf der einen und wahrnehmbaren Körperdingen auf der anderen Seite zementiert schließlich ex negativo die Wahrnehmung als dasjenige multiversale Vermögen, das am ehesten der Weltkomplexität gerecht wird, indem er Sinneswahrnehmung ausschließlich für die Erfassung der sich stets in Fluktuation befindlichen Körperwelt reserviert, die nicht durch Sein und auch nicht durch Nicht-Sein, sondern durch das Werden bestimmt ist, sich durch Nicht-Identität auszeichnet und allenfalls Wahrscheinlichkeit der Bestimmung, nicht aber Wahrheit der Erkenntnis ermöglicht. Der Körper, als Instanz des Wahrnehmens, wird in dieser Fassung zu einem von der Seele zu bedienenden Instrument, als etwas, das Welt nur hetereonom mitteilt und mit teilt, aber nicht Welt in-formiert (Wesen = Form). Während Platon trennscharf zwischen Wahrnehmung (Körper) und Erkenntnis (Seele) scheidet, führt Aristoteles eine Art Sukzession des Immateriellwerdens der Wahrnehmungsgegenstände im Akt der Wahrnehmung ein: das in sich ungleiche Objekt wird wahrgenommen, bewirkt eine Veränderung des Wahrnehmungsaktes selbst, der auf eine Angleichung des wirklich Wahrgenommenen und der wirklichen Wahrnehmung gerichtet ist. Diese Angleichung passiert unter der Maßgabe der Abstraktion: die Materialität des Gegenstandes, die per se dem Wahrnehmenden nicht zugänglich ist, hat verlustig zu gehen und zugleich kompensiert zu werden durch die wahrnehmende Aufnahme der Form des Gegenstandes (siehe zu Aristoteles' "Schöpfung" der formalen Logik Krämer 1988: p73ff.).In der Wahrnehmung passiert also für Aristoteles eine Art Erstellung von Proto-Wissen, eine Art Trockenübung der Erkenntnis, die sich dadurch auszeichnet, völlig losgelöst von der zeiträumlichen Besonderheit des Wahrnehmungshorizonts das spezifisch Allgemeine auf den Begriff zu bringen. Anders als Aristoteles, der die Seele noch mit Erleidbarkeit und Bewegtheit ausstattet, sofern sie als mit dem Körper in Verbindung stehende in den Blick kommt, geht Plotin von einer prinzipiellen Erlebens- und Erleidensunfähigkeit der Seele aus. Plotin vermittelt komplexer die Pole Wahrnehmen und Erkennen, indem er das Wahrnehmen selbst als eine Art geistigen Akt der Seele auffasst, der wiederum nur die schon geistigen Formen der Sinnensgegenstände registriert. Die Sinneswahrnehmung korrespondierte also nicht mit einem wie auch immer gearteten "Kurzschluß" von Objekt und Subjekt, sondern spielte sich alleine ab zwischen den schon geistig modellierten Formen der Sinnesdaten und dem diese Formen 'Innewerden' der Seele. Die Sphäre der Sinne hat hier also nur noch Transmissionsfunktion, ist eine Art Bote von Informationen zwischen den Sinnendingen und der Seele, die selbst radikal von jeder körperlichen Sinnlichkeit getrennt ist (das findet sich, modifiziert, wieder im Topos der indifferenten Codierung des Gehirns; siehe z.B. Roth 1987: p229-255).

Die in der griechischen Naturphilosophie initiierte Problematisierung des Status der Wahrnehmung innerhalb der Kontexte Wahrheit vs. Meinung (Platon), Wesen/Form vs. Körperlichkeit/Sinne, sowie innerhalb des durch die Pole Empfindung auf der einen und Erfahrungsurteil resp. Vorstellung auf der anderen Seite aufgemachten Horizonts mündet mit der Neuzeit ein in die Fassung René Descartes, der eine bestimmte Spaltung im Begriff der Wahrnehmung zementiert. Gespalten wird die sogenannte Quellfunktion der Erfahrung in eine subjektiv-geistige und in eine objektiv-materielle Seite. Je nach erkenntnistheoretischer Richtung, etwa Rationalismus und Empirismus bzw. Sensualismus, erscheint dann jeweils die subjetive oder die objektive Seite des Verweisungszusammenhang Wahrnehmung als defizitär: da Wahrnehmungen nicht objektivierbar sind, wird entweder verstärkt auf Beobachtung und Experiment gesetzt, um eine erfahrungsunabhängige Wahrheit durch weitgehenden Verzicht auf die per se täuschbare Wahrnehmung zu gewährleisten, oder man versucht, durch Rückgang auf das als völlig konzeptions- und begriffslos gedachte unmittelbare Sinnesdatum der Wahrnehmung zu stossen (Empirismus), immer unter der theoretischen Prämisse, daß Irrtum, Falschheit, Täuschung etc. keine Eigenschaft der Welt resp. der Wahrnehmung, sondern Effekt der Reflexion, des Urteils, der gedanklichen Ordnung ist. Der Begriff Wahrnehmung wird nun seinerseits nochmals aufgespalten in Empfindungelemente und bewußte Gestalten; damit wiederholt sich das "makrologische" Verhältnisproblem zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein nun auch mikrologisch und führt u.a. zu einem Wechsel in der Zuschreibung der Attribute aktiv/passiv fürs Wahrnehmen. Zugleich entsteht hier der bis heute anhaltende Mangel empiristisch orientierter, auf Kausalität aufbauender (Natur-)Wissenschaft: nämlich kein sicheres Wissen anbieten zu können für all die Weltsachverhalte, die nicht mehr sinnlich wahrnehmbar sind. Eine Konsequenz daraus wäre, Wissen vollständig ohne ein sinnlich wahrnehmbares Wesen als Referenz zu denken (Luhmann 1990: p14). Die Konsequenz, die Kant aus seiner Rekonstruktion des Wahrnehmungsbegriffs zieht, ist eine diametral andere. Er setzt auf "das" Subjekt als die Vollformel richtigen Handelns, Erkennens und Erlebens und sieht in diesem die Garantie für die intersubjektive Verbindlichkeit des Wahrnehmens, das als "bewußte Anschauung" sowohl aus Momenten aktiver Poiesis als auch rezeptiver Sinnlichkeit besteht. Um zu verhindern, daß diese Komponentenmischung innerhalb des Wahrnehmens nicht als idiosynkratische zu verstehen ist und damit Wahrnehmung als ausschließliches Expressions- resp. Impressionsvermögen, setzt Kant in seiner Fassung der bewußten Anschauung auf intersubjektive Gültigkeit der wahrnehmenden Identifikationen und Unterscheidungen, womit die "passive Synthesis" in der Wahrnehmung sowie die durch Wahrnehmung mögliche "sinnliche Gewißheit" letztlich wieder auf wahrnehmungsfremde, sprich: soziale resp. kommunikativ-kognitive "Beine" gestellt wird: Die subjektive Poiesis ist schon intersubjektiv gerahmt, ebenso der Horizont des schlechthin sinnlich Gegebenen.

Die Spannungsfelder zwischen eher materialistischen und idealistischen Wahrnehmungskonzeptionen, zwischen phylogenetischen, historisch-sozialen und ontogentischen Ansätzen, zwischen den Erklärungsvolumina von Empfindungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Gestalttheorie gewissermaßen entspannt. Ihr Versuch, atomistische sowie elementaristische Theorien der Wahrnehmung durch ein ganzheitliches Modell der Gestaltwahrnehmung zu ersetzen, gipfelte in der Vorstellung, daß sich dynamische Selbstorganisationsprozesse auf molekularer, chemischer, physikalischer und neuronaler Ebene und Selbstorganisationsprozesse auf der Ebene der Wahrnehmung/Informationsverarbeitung innerhalb des Bewußtseins ähnlich beschreiben lassen; beiden Prozessen unterliege eine Ausrichtung auf das Erreichen eines sog. Endzustandes (Gestalt resp. Autopoiesis), und beide Prozesse seien als teleonomische zu charakterisieren. Mit dieser wenngleich philosophisch gerahmten Engführung des Wahrnehmungsbegriffs - schon beginnend bei Wundts Bewußtseinselementarismus und fortgeführt im Psychophysikalismus Helmholtzens - auf die Relation zwischen Physik, Neurologie und Psychologie setzte (Ausnahme: Phänomenologie) eine Depotenzierung von bestimmten Fragestellungen an den Begriff Wahrnehmung ein, von Fragestellungen, die sich der philosophischen, anthropologischen, der sozialen und existentialen Dimensionen des Wahrnehmens annehmen. Der Übergang schließlich einer am Subjekt-Objekt-Modell haftenden Vorstellung des quasi linearen Informationsflusses zwischen einer bewegten und aktiven Objekt-Welt und einem mehr oder weniger passiv rezipierendem Subjekt gegenüber der Welt (unter Ausschaltung der Bedeutung des Körpers als sowohl in und gegenüber Welt Seiendem) zu einer Vorstellung der Zirkularität, Rekursivität, wenn nicht Reziprozität des Wahrnehmens bedingte eine Zunahme systemtheoretischer und auch kybernetischer Modelle der Wahrnehmung, deren gemeinsamer Nenner ein wenngleich in sich differenzierter, jedoch epistemologisch angesetzter radikaler Konstruktivismus ist (Maturana 1985; von Foerster 1985; von Glasersfeld 1987), der ernst macht mit einer radikalen Verneinung einer Berührbarkeit, eines Affiziertseins, eines Konstituiertwerdens des Selbst (Systems) durch die Beschaffenheit der Außenwelt und der 'Anderen' in der Außenwelt jenseits energetisch-materialer Kontinua.


Für den eher philosophisch-literarischen und ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, für den ab 1750 mit der Veröffentlichung von Baumgartens Werk "Aesthetica" einsetzenden expliziten 'ästhetischen' Diskurs, scheint die Bedeutung der Wahrnehmung und der Sinne immer noch treffend in den folgenden Worten Kants aus dem Jahr 1798 wiedergegeben zu sein (Kant 1964: p449): "Der Sinn des Gesichts ist, wenn gleich nicht unentbehrlicher als der des Gehörs, doch der edelste; weil er sich unter allen am meisten von dem der Betastung, als der eingeschränktesten Bedingung der Wahrnehmungen, entfernt, und nicht allein die größte Sphäre derselben im Raume enthält, sondern auch sein Organ am wenigsten affiziert fühlt (weil es sonst nicht bloß Sehen sein würde), hiermit also einer reinen Anschauung (der unmittelbaren Vorstellung des gegebenen Objekts ohne beigemischte merkliche Empfindung) näher kommt." Diese Hierarchisierung oder auch Alphabetisierung der Sinne stand auch in der ästhetischen Kommunikation (wenngleich dort mit ausgebildeter Ambivalenz, etwa bei Karl Philipp Moritz) unter einem beherrschenden Zug, der darin bestand, die Sinne nur noch als Metaphern zu deuten, in denen sich die Ratio selbst als Instrument resp. als transmodales Zentrum der Sinneswerkzeuge feierte (Utz 1990: p25). Diese 'wahrnehmungsinterne' Hierarchie, die im Sehen, in den Augen eine "Okulartyrannei" über alle anderen Sinnemodalitäten errichtete, korrespondierte mit einer längst ausgemachten Sache, nämlich der, daß Erkenntnis keine Sache der Wahrnehmung sein könne, und wenn doch, dann nur nach Maßgabe vernünftiger Anleitung, rigiden Trainings und effektiver Ausnutzung ihrer noch zu koordinierenden Potentiale. Erst der sechste Sinn als Sitz der Aufsicht über den concours der Sinne gewährleiste sowohl den Erziehungsprozeß innerhalb der sich konkurrenzierenden Sinne als auch den Erziehungsprozeß der Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen: "Gemeinsinn" wird ein sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Begriff; offene, in sich plurale Wahrnehmung wird zu etwas Idiosynkratischem, das, Norbert Elias hat ausführlich darüber berichtet, nicht gesellschaftsfähig ist. Die Heilung des Blinden, so Utz (1990: p31), wird zur Urszene der Aufklärung, Erkenntnis wird zu einer eher ahistorischen Ganzheitserfahrung, die bloß einen Umweg macht über das zu Perfektionierende: Perfektibilität kann damit kein Ziel mehr sein, das durch die leistungsschwachen Sinne errechbar ist. Der Wahrnehmung, der sinnlichen Gewißheit wuchsen quasi im Zuge der aufkommenden Gesellschaftsmodernisierung, der verstärkten Sachnotwendigkeit, Dinge, Personen, Verkehre und Verhältnisse zu regeln, zu homogenisieren und zu vereinheitlichen, neue Defizite zu, ohne daß sie etwas dazutun musste. Erst die Romantik, verstanden im Ausschnitt eines reflektierten Traditionalismus, ramponierte das abstrakte Ideal einer aufklärerischen Erkenntnisutopie, die, wie Hegel richtig diagnostizierte, den Menschen in der modernen Gesellschaft Hören und Sehen austreibe. Gesucht wurden jetzt Modi des Wirklichkeitskontaktes, die sich nicht der mit Macht durchsetzenden Maxime, daß Welt auf den Menschen, auf das Subjekt konvergiere, beugten, sondern das Unvordenkliche, das Nichtkontruierbare, das "Andere" der Welt und Wirklichkeit aufspürten resp. deren Bedeutung in den Vordergrund stellten. So gewann zum Beispiel der Begriff der Ahnung schon in der Aufklärungszeit beim Jenaer Philosophen Hennings (1731-1815) an Kontur, um schließlich über Goethe, Schleiermacher und Novalis bei Hölderlin in Gestalt eines "mantischen Empirismus" eine grundlegende Kritik an der rationalen Kontruktion von Subjekt und Objekt zu leisten, ineins mit einer Kritik an der transzendentalphilosophischen Art, an eben diesem Verhältnis Kritik zu üben. Auf Hölderlin und Nietzsche aufbauend und von letzteren leicht abweichend, versucht schließlich Heidegger von der 'traditionellen' Konstellation des ersten Anfangs in der philosophischen Bestimmung von Welt wegzukommen (das Staunen auf Überraschungseffekte in bezug auf die vorhandene begriffliche Erwartungsausstattung; Hogrebe 1996: p96), und einen "anderen Anfang" des Weltseins, des In-der-Welt-Seins zu kreieren, einen Anfang, der durch Ahnung des Seins erfüllt ist, denn diese durchmißt und er-mißt jede Zeitlichkeit: den Zeit-Spiel-Raum des Da" (Heidegger 1989: p22). Heideggers alternative "Denksensibilität", sein bewußtes Ausscheren aus der argumentativen Diskurspraxis der Philosophie, sein Andersbedenken des Verhältnisses von Wahrnehmung, Leib, Welt und Zeit, überhaupt das Austarieren einer anderen Dosierung der Begriffe Leib, Wahrnehmung, Denken und Welt, nimmt zentral seinen Ausgang bei Nietzsche. Gab es in der Metaphysik eine priviligierte Beziehung zwischen Wesen und Form, so daß die in-formierte Welt zugleich zumindest approximativ etwas vom Wesen der Welt teilte, so gilt für Nietzsche (1988: Bd.12, p249), der den Anspruch der Metaphysik, mit nur einem "Leit-Code" die gesamten Weltinterpretationen zu bündeln, bekämpfte: "Die Welt ist nicht so und so: und die lebenden Wesen sehen sie, wie sie ihnen erscheint. Sondern: die Welt besteht aus solchen lebenden Wesen, und für jedes derselben giebt es einen kleinen Winkel, von dem aus es mißt, gewahr wird, sieht und nicht sieht. Das "Wesen" fehlt [...]." – Für die tätige Fähigkeit der Aisthesis (und für die erkennende Funktion des Denkens) sieht Nietzsche den Leib als das eigentliche Gebilde an. Den Leib versteht Nietzsche als eine Vielheit lebendiger und in perspektivischer Vielfalt interpretierender Wesen, deren Einheit und relative Beständigkeit sich keinem übergeordneten, vereinheitlichen Bewußtsein verdankt (Beckerhoff 1998: p18). Der Verkehr dieser Vielheiten wird wiederum geregelt durch eine Vielheit lebendiger Vermittler. "Leib" bedeute eine zusammengesetzte Pluralität aus Kampf- resp. Interpretationsgeschehnissen, durch die die Umwelt und die Objektwelt des Leibes überhaupt erst konstituiert wird. Somit können auch diese Welten per se nur vielfältige sein. Das Bewußtsein kann ob dieser Vielfältigkeit der Innen- und Außenwelt nicht auf eine andere, homogene Art der Beziehungsbildung zur Um- und Objektwelt ausweichen, da keine Welt "abseits" des leiblichen Interpretationsgeschehens zur Verfügung steht (Beckerhoff 1998: p19). Die zentrale Stoßrichtung jenseits einer blinden Subordination des erkennenden Wesens 'Mensch' unter die Impulsivität vitaler Lebendigkeit bei Nietzsche ist die, daß er daß Beziehungssyndrom 'Bewußtsein-Welt' als Derivat des Bezeihungssyndroms 'Bewußtsein-Leib' beschreibt. Die intelligible Welt, verstanden als in Wiederholung einteibare, als strukturierte, als vereinheitlichte, ist somit nicht Bedingung eines aisthetischen Prozesses des Leibes, sondern vielmehr das Ergebnis eines kämpfenden Geschehens leiblichen Erlebens. Sie ist nicht wirklicher, nicht realer, nicht wahrer ob ihrer Vereinheitlichungskapazität (in bezug auf das Material des Erlebens), sondern umso mehr eine "Verfälschung", je einheitlicher sie die Um-, Eigen- und Außenwelt interpretiert und zunehmend auch genuin konstruiert.

Merleau-Ponty hat den Gedanken einer "grundlegenden" Verzahnung zwischen Aisthesis und Leiblichkeit sowie den Gedanken einer immens größeren Abhängigkeit der Sinn-Welt-Konstruktionen von der Körperlichkeit des Wahrnehmens, als bisher in der philosophischen Tradition angenommen wurde, zum vielleicht prononciertsten Höhepunkt gebracht. Seine "Phänomenologie der Wahrnehmung" (fr. 1945) versteht sich zugleich als Phänomenologie des Leibes. Der nicht im Raum seiende Leib, sondern der dem Raum einwohnende Leib bedingt, daß äußere Wahrnehmung und Wahrnehmung des Leibes miteinander variieren, da sie "nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind (Merleau-Ponty 1974: p241). Und weiter (p242f.): "Die Theorie des Körperschemas ist impicite schon eine Theorie der Wahrnehmung [,...] da der Leib, mit dem wir wahrnehmen, gleichsam ein natürliches Ich und selbst das Subjekt der Wahrnehmung ist." In seinem Buch "Das Sichtbare und das Unsichbare" (1994: p191) fokussiert Merleau-Ponty den Leib am Begriff des Fleisches: ""Das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt, während er gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als berührbarer zu ihnen hinabsteigt und sie als berührender alle beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt". - Merleau-Pontys philosophische Grundlegung der nicht mehr zu unterbietenden Einsicht in die 'Eingetauchtheit' des Bewußtseins in Sinnlichkeit, seine phänomenologische Entfaltung unserer Unwissenheit über das, was wir Körper resp. Leib nennen, führt in neuerer Zeit zu theoretischen Auseinandersetzungen über Aisthesis, denen die bewußte Vermeidung einer rein philosophisch-abstrakten Erörterung und die Hinwendung zu einer "Aisthesis materialis" gemeinsam sind (siehe etwa Dotzler/Müller [Hg.] 1995). Es wird damit einer eng am Material, an konkreten Fallbeispielen orientierten Untersuchungsart von Wahrnehmungsfeldern das Wort gesprochen, die sowohl der Geschichtlichkeit der Wahrnehmung Raum gibt, als auch den Raum wieder zu öffen sucht, in dem Aisthesis nicht auf das System der Künste beschränkt werden kann.