bernd ternes

"Ahnung, Erkenntnis, Diskurs, Rationalität"


Texte im Hintergrund: Kuno Lorenz: Die irreführende Gleichsetzung von Begründungen und Argumentationen, in: C.F.Gethmann (Hg.), Logik und Pragmatik, FFM 1982, p78-91; Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis, FFM 1996; Edward Craig: Was wir wissen können, FFM 1993; Wofgang Krohn, Günter Küppers: Die Selbstorganisation der Wissenschaft, FFM 1989; Jürgen Habermas: TdkH, FFM 1981, Bd.1, p15-71; Maturana: Was ist Erkennen?, München 1994, p25-108
 

I

Edward Craigs pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff (1993: p41) gehen von der Feststellung aus, "wie wenig uns in der Praxis an logisch notwendigen und hinreichenden Bedingungen gelegen ist". Ich schließe mich dem an, mit dem Zusatz, daß es auch weiterhin erlaubt ist, ebendiese Bedingungen in ceteris paribus-Zeiträumen für unerlässlich zu halten. Für Zeiträume, die dies Attribut nicht ihr eigen nennen, gibt Craig ein Beispiel wieder (p58-59), das zeigt, wie fahrlässig das Beharren auf einer kausalen Analyse sein kann (auf den impliziten Subjekt- und Intentionalismusbegriff dieses Beispiels sei nicht eingegangen): "Der Buchhalter der Firma ist heute deprimiert. Weil er deprimiert ist, stellt er die finanzielle Lage der Firma ziemlich pessimistisch dar. Der Chef glaubt, weil er diesen pessimistischen Bericht hört, die Firma gerate in Schwierigkeiten. Weil er das glaubt, wird auch er deprimiert. Nun hat er die Eigenart, zu finden, alle seine Angestellten seien in gleicher Laune, wie er selbst. Also hält er den Buchhalter für deprimiert. Er hat recht: der Buchhalter ist in der Tat deprimiert. Und zwar ist seine Meinung, daß der Buchhalter deprimiert ist, gerade durch das Faktum verursacht, wodurch sie wahr wird: die Depression des Buchhalters. Alle Bedingungen der kausalen Analyse sind erfüllt, und doch ist es jedem klar: der Chef weiß nicht, daß der Buchhalter deprimiert ist. Eine wahre Meinung, die man auf diese Weise erlangt, ist kein Wissen." - Auch Kuno Lorenz legt im Rahmen einer Kritik an der dialogischen Logik Wert auf die Differenz zwischen der Argumentation als Performanz und der dabei produzierten Begründung von Wahrheit einer Proposition. Mittels der analytischen Begriffe Partieebene und Strategieebene (bezogen auf die dialogische Logik) ergibt sich "die Möglichkeit, eine begriffliche Differenzierung zwischen Sinnbestimmung und Geltungssicherung für Aussagen vorzunehmen, die traditionell ausgeschlossen war, weil der Sinn einer Aussage, d.i. der von ihr dargestellte Sachverhalt, sich grundsätzlich nicht anders erklären ließ als durch die Angabe der Wahrheitsbedingungen für diese Aussage." (Lorenz 1982: p79) (verweis auf Wittgensteins TLP, Satz 4.024 u. 4.063). Auf jeden Fall unterscheiden sich die semantischen und die pragmatischen Bedingungen für Wahrheit derart, daß Argumentationsmöglichkeiten (um eine Aussage) und Begründungsmöglichkeiten (für eine Aussage) auseinandergehalten werden müssen.

Meinung und Wissen, oder auch: Dogma und Skepsis bzw. Erfahrung, Ahnung und Erkenntnis, Diskursivität und Kritizismus, rational motivierte Intersubjektivität und ästhetisch stimmige Expressivität: man kann noch mehr solcher Paarunterscheidungen aufzählen, deren interne Asymmetrie den Sinn hat, sich für einen der Begriffe zu entscheiden, mit allen Folgerungen und Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind (dies dann meist wieder mit anderen Theorie- und Begriffwerkzeugen, für die das gleiche gilt; bis man bei der Unterscheidung techne - episteme angelangt ist). Die Frage hier ist, welcher Begriffe sich die Sozialwissenschaft tunlichst zu bedienen und welche sie gewiß auszusortieren hat, will sie denn ihren Status als Wissenschaft auch in Methode, Programmatik der Diskursivität und Theorie praktizieren und nicht nur als Etikett für Fremdwahrnehmung wahrnehmen. Es tut sich dem entsprechend einiges innerhalb der Sozialwissenschaft, das sich vielleicht so in zwei Teile schneiden läßt: a) Die eine Seite vertritt den Standpunkt, es ließe sich mit Gewißheit sagen, daß die innerhalb der vier Generationen von Sozialwissenschaftlern ausprobierten und praktizierten Formen (Programme) methodischer, methodologischer und evaluations- und intersubjektivitätstheoretischer Art weiterhin mit Erfahrung der Wirklichkeiten und Gesellschaften zu tun haben und wie sonst keine anderen Programme des Kurzschliessens von Worten und Dingen das Erleben organisieren und auch weiterhin organisieren sollten. Veränderungen, Einbrüche, grundlegende schleichende Wechsel verschiedenster Dosierungen sachlicher, sozialer und zeitlicher Aggregate finden auf der Objektseite statt, nicht auf der Beobachterseite; diese Seite kann sich nochmals absichern durch interne Reflexion folgender Fragen: 1. Mit welchen grundlegenden Annahmen über den Sachverhalt Gesellschaft trifft der wiss. Beobachter seine Vorentscheidungen? 2. Aus welchem Kriterien-Kontext und mit welchen Kriterien wird die begriffliche Strukturierung des Sachverhalts vorgenommen? 3. Welche Methoden und warum diese? 4. Welche Interpretationen sind zulässig und welche nicht (Referenz: Wissenschaft)? 5. Inwieweit ist der Einfluß wissenschaftsexterner Faktoren im Procedere der wiss. Auseinandersetzung einseh- und benennbar? b) Die andere Seite vertritt innerhalb der Wissenschaft etwa folgendes: Um als Wissenschaft weiterhin mit gesellschaftlichem Erleben zu tun zu haben und dies erkenntnisorientiert zu verarbeiten, sei es nicht mehr ausreichend, innerhalb der Struktur gewordenen Selektionen von Formen, Programmen und Codes den Variationsspielraum zu nutzen, sondern man müsse nun auch an die Variation der Selektionen anschliessen. Man könne also nicht mehr davon ausgehen, daß es weiterhin stabile Formen gibt (Funktionssysteme wie Wissenschaft; Gattungsformen wie Comic oder Roman; Versorgungsysteme wie Rente; Codes wie Unterhaltung oder Information), und man sich nur innerhalb dieser festen Gehäuse um Devianzen, Verschiebungen, Erfahrungen und Erkenntnissen zu kümmern hat. Sondern man müsse intellektuell dieses gesellschafts-infrastrukturelle Ensemble der Ordnung und Orientierung von Semantik und Handeln selbst als in einem Prozeß der Änderung befindlich ansehen (Bild: Man kann nicht mehr nur auf den Swimming-Pool schauen, ohne zu ignorieren, daß dieser bloß auf Deck eines Schiffes sich befindet, das selbst im Wasser schwimmt). - Diese Einschätzung hat Folgen für die Art und Weise, wie weiterhin innerhalb der Sozialwissenschaft das Erleben und das Interpretieren von Zusammenhängen zwischen Begriff und Wirklichkeit (Theorien und Dingen; W.V.O. Quine) zu organisieren sei. Geöffnet wird zumindest die Ordonanz, in der sich die Begriffe Anschauung, Wahrnehmung, Imagination, Erfahrung und Begriff zueinander verhalten haben (siehe auch Hegels Rangfolge 1. Erscheinungen des Wissens, 2. Erscheinungen des Bewußtseins und 3. Erfahrungen des Bewußtseins; "Phänomenologie", FFM 1970, p82-107). Geöffnet werden die Modi der Organisation von Erleben, in der Hoffnung, in den noch weitgehend unbekannten Dimensionen dessen, was da heißt "Sinne", Spuren zu legen, die den Menschen erlauben sollen, besser zu verstehen, was das ist: Mensch, Natur, Gesellschaft, Wissen. Getragen wird diese zweite Seite, um es zu spitzen, von der Annahme, daß die zur Verfügung stehenden empirischen und intellektuellen Mitteln der Sozialwissenschaft nicht mehr, wie noch Adorno randständig vermutete, zu einer Kritik ihrer Grundlagen des Abstraktifizierens, Kategorisierens gelangen und tatsächliches Erkennen prozessieren, sondern Agentenstatus bekommen haben; Agenten subjektloser geschichtlicher Strukturen mit der Aufgabe, durch die Arbeit im Begriff so zu tun, als ob es um Erkenntnis ginge, wenngleich es nur darum geht, durch ebendiese Arbeit Erkenntnis immer unabhängiger zu machen von Erfahrungen, die sich nicht der begrifflichen Rasterung beugen (Ziel: Autopoiesis). Am Ende, so die schon spruchreife Äußerung von Krohn und Küppers (p25), ist Wissenschaft nur noch etwas, in dem Erkenntnistheoretiker über das Reden über Wissenschaft reden. Um dem zu entgehen, sei es notwendig, metatheoretisch die Selbstorganisationstheorie nicht mehr als aus der Differenzierungstheorie ableitbar zu denken.
 

II

Wolfram Hogrebe läßt sich, wie abgemildert auch immer, in dieser zweiten Schnittmenge hinsetzen. Ich möchte ihn nicht referieren, sondern nur die für mich wichtigen Aussagen herausnehmen. Sein Buch "Ahnung und Erkenntnis" macht sich auf die Suche nach Modi und Medien des Erkennens, die bis dato in der Erkenntnistheorie des 20 Jahrh. nichts zu suchen hatten; seine skizzierte Erkenntnistheorie des natürliche Wissens möchte zur Aufklärung "unserer durchaus situationsabhängigen epistemischen Verfassung" beitragen, für die es "charakteristisch ist, daß sie in der Regel abhängigg ist von normativen Valeurs, die sich aus unseren Befindlichkeiten und Absichten, unseren kooperativen Bedürfnissen ebenso wie aus unseren kompetitiven Obsessionen speisen" (Hogrebe: p8). (Eine prominente Vorläuferuntersuchung ist Karin Knorr-Cetinas "Die Fabrikation von Erkenntnis", in der manch Vorstellung von aseptisch-logisch-rationaler Konstruktion des Wissens als Illusion entkleidet wurde; allerdings ohne so weit zu gehen und zu behaupten, es mache etwas aus, wann man sagt: 3 + 4 sind 7.) Hogrebe sieht in der Ahnung, differenzierbar in Präsens-Ahnung, diagnostische, explanatorische, kontextuelle und Ereignis-Ahnung, einen notwendigen Schritt dafür, überhaupt an einem Sichtbaren etwas Unsichtbares angedeutet zu bemerken, also aus einem res ein signum werden zu lassen; er möchte 'Skizzen zu einer Theorie des natürlichen Erkennens' anbieten, so der Untertitel, der bereits in zweifacher Hinsicht aufmerksam macht. Einmal zeigt die Verwendung Erkennen anstatt Erkenntnis an, daß hier die Performanz, das Tätige, das in der Zeit Stattfindende des Weltbezugs hervorgehoben wird anstelle des Konstativen und Propositionalen einer Erkenntnis, die sich nur noch auf den Informationswert der mitgeteilten Information, nicht mehr aber auf die Information des Mitteilens selbst bezieht. Hier gibt es Andockstellen zu Maturanas Meditationen über die Verkörperung der Wirklichkeit beim Erkennensprozeß, etwa wenn Maturana unter der epistemologischen Etage namens Beobachter eine tieferliegende ausmacht, in der das Verhalten eines Systems und seine Physiologie zwei vollständig getrennte Phänomenbereiche sind, die eben nur durch einen Beobachter zusammengebracht werden (das Erkennen selbst hat nichts Priviligiertes mit der Erkenntnis zu tun). Maturana geht soweit zu sagen, daß Erklärungen nur noch dann erklären, wenn sie Aussagen über Vorgänge und Mechanismen treffen, aus denen die zu erklärenden Erfahrungen resultieren könnten (Maturana 1994: p41). Aber es gibt auch Andockstellen oder Äquivalente zur systemtheoretischen Fassung temporalisierter Verfasstheit einer System-Umwelt-Beziehung. Zum zweiten aber ist das Adjektiv 'natürlich' problematisch und sehr mißverständlich. Gemeinsam ist beiden Richtungen ein striktes Abgehen vom Erklärungspfad der Objektivität, d.h. der Evakuierung von Aussagen über Objekte aus dem Prozeß der Performanz und Ablagerung in die Sache selbst hinein. Ausprobiert wird dagegen die Annahme, daß kognitive Weltbezüge nicht zu unterscheiden vermögen zwischen den Bedingungen des Vorhandenseins der Erkenntnisgegenstände und den Bedingungen ihrer Erkenntnis. - Was für eine Relevanz haben diese eher epistemischen Sätze aufs normale Procedere innerhalb der Wissenschaft?

Hogrebe versucht trotz dieser Nähe zu Auffassungnen, die besagen, daß nichts unabhängig von den Unterscheidungen eines Beobachters existiert, eine Promotion des Vorrangs eines bestimmten Objekts vor der subjektiven Form des Erkennnens und Erklärens; und zwar über den Begriff der Ahnung.

Dabei wird das unter diesem Begriff Gefasste überspannt mit den Polen "Objektivität der Geltung" und "Objektivität des Seins". Letztere steht in Kontrast zur Subjektivität des Seins, die all das fasst, was in den Produktions-, Konstruktions- und Handlungsbereich menschlicher Vermögen fällt. Da es Hogrebe nicht bloß um Evidenz des Erkennens von Ahnungen, sondern auch um die mögliche Objektivität der Geltung von Ahnungserkenntnissen geht, steht er vor der Aufgabe, die Analyse des Geltungssinns ahnender Erkenntnis soweit zu treiben, daß das Erkenntnissubjekt als in die Natur einbettetes gedacht werden kann; dies nicht, um naturalistisch ebendiese Erkenntnis zu begründen, sondern "um das Subjekt als in einen flow of information hineingestellt zu denken, den es nicht selbst produziert, sondern durch den es sich selbst in seinem Sein protosemantisch getönt erfährt. Registraturen dieser protosemantischen Tönung sind eben Anmutungen, Stimmungen, Gefühle, alle Facetten unserer Befindlichkeitsregistratur. Hier gab es schon, bevor es noch Worte gab, Winke. [Das Orakel von Delphi; weder spricht es, noch schweigt es: es gibt einen Wink] Und für diese benötigen wir einen Empirismus, der tiefer reicht und reicher ist als ein Empirismus der Beobachtungen oder der Sätze, was wir hier benötigen, ist ein mantischer Empirismus." (Hogrebe 1996: p109f.) Hogrebe fogt der Kritik Hölderlins an der Transzendentalphilosophie, die in ihrer Rekonstruktion und Rechtfertigung von Geltungsansprüchen alleine innerhalb des Universums propositionaler Sätze logisch ignorieren muß, daß wir in einer subsemantischen Tönung aufs Ganze gesehen durch die uns umgebende Natur gedeutet werden (Hogrebe 1996: p11). - Es geht also um das, was nicht mehr als Nicht-Ich vom Ich gesetzt zu werden vermag, also um ein nicht setzendes Objektverhältnis, in das wir immer schon gesetzt sind (milde Variante des Geworfenseins), das auf eine nicht abschätzbare Weise in unserem Erkennen mitführt, und für das wir allenfalls hinweisende, aber keine begreifenden Worte besitzen. Mit dem Begriff der freien Objektwahl als notwendige Form, sich zu erkennen, weil uns erkennen an sich oder durch uns selbst unmöglich ist (p119), sei eine Position erreicht, so Hogrebe, in der wir schon auf der Ebene der Sinne einer Einigung mit der Natur fähig sind, wie sie die transzendentale Refelxion nur auf der Ebene eines setzenden Ich begreiflich machen kann (p121). Oder kurz: Gewahrung geht Wahrheit vorher (knowledge by acquaintance [Bekanntschaft] vor knowledge by description (Russell)). Oder auch: Anmutungen vor Vermutungen. - Das Entscheidende geschieht schon im Gegenwärtigen, soweit es nur reich genug erfahren wird. Bei Michel Polanyi (Implizites Wissen, FFM 1985) wird dieser Sachverhalt mit eingestandem Bezug zu Diltheys Begriff der Einfühlung und mit einer kleinen Verschiebung des Erkennntnisinteresses auf das Subjekt, als unterschwellige Wahrnehmung (subception) bzw. als impliztes Wissen ausgewiesen: Im Akt der Mitteilung selbst offenbart sich ein Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen. Oder: Wir registrieren die Beziehung zwischen zwei Ereignissen, von denen beiden wir Kenntnis haben, aber nur eines in Worte fassen können. Oder, so die funktionale Beziehung der sog. Terme des impliziten Wissens formulierend: "Wir kennen den ersten Term nur, insofern wir uns auf unser Gewahrwerden dieses ersten Terms verlassen, um den zweiten zu erwarten" (Polanyi 1985: p18). Bei einen Akt impliziten Wissens verschieben wir unsere Aufmerksamkeit vom ersten Term (den proximalen Term) auf den zweiten Term (den distalen Term). Der erste Term, also die erste Aufmerksamkeit, die wir nicht mehr bemerken, um durch Aufmerksamkeit den zweiten Term zu bemerken, scheint in größerer Nähe zu uns zu sein denn der zweite. Dieses schwieriger semanitisierbare Näher-am-Subjekt-sein bezeichnet nun Hogrebe mit Ahnung (Siehe auch Paralellen mit subysmbolischen Konnektionismus Varelas u.a.; siehe generell: Performanz-Mode zur Zeit).
 

III

Wie und wo könnte solcherart Fokussieren auf eine eher propositions-spröde Art des Erkennens innerhalb der Diskurse, Methoden und Geltungsbedingungen der Wissenschaft Platz greifen? Wie wäre es möglich, nicht nur metatheoretisch die Kapazität der Ahnung als Zeigendes und die Abhängigkeit der normalen epistemischen Erkenntnisproduktion von diesem nichtsagenden Zeigenden auszusprechen, sondern sich des Zeigens der Ahnung zu bedienen fürs Sagen von Propositionen? Spricht man für denjenigen Bereich von Wissenschaft, der empirisch-analytisch arbeitet, dann scheint die Frage nach dieser Möglichkeit nicht ganz absurd, da der dort auch vorhandene 'context of discovery' recht viele Sonden zuläßt, soweit sie sich operationalisieren/parametrisieren lassen. Für den Bereich von Sozialwissenschaft, der es eher mit dem 'context of validation oder description-redescription' zu tun hat, ist nicht ganz einzusehen, wie sich Ahnung operational/diskursiv im Prozeß der wissenschaftlichen Kommunikation einfinden kann. Die folgende, wohl weithin noch gültige Ordnung von Diskursen und deren Geltungsdimensionen (als Bestandteil einer Festlegung der formalen Bedingungen rationalen Erkennens und Kommunizierens) zeigt vielleicht, warum dies so ist und bleibt, solange die Ordnung bleibt.

Äußerungen werden, gleich ob sie sich auf Wahrheit (etwas hat statt) oder Wirksamkeit (etwas soll statthaben) verpflichten, in ihrer Rationalität daran bemessen, inwieweit die mit ihnen verbundenen Ansprüche begründet werden können. Die Rationalität der Begründung bemißt sich an der internen Kohärenz des Bedeutungsgehalts, der Gültigkeitsbedingungen und der Gründe, die angeführt werden, um im Falle von Kritik die Gültigkeit und Wahrheit der Aussage bzw. die Wirksamkeit der Handlung darzulegen. In der Soziologie geht es eher um die Kritik und Begründungsrationalität von Äußerungen denn um Wirksamkeit der Handlungen. Die dafür ausgewiesene formale Prozedur wird als Argumentation bezeichnet. Habermas geht soweit zu sagen, daß der Begriff der kommunikativen Rationalität, der mit universalen Geltungsansprüchen zu tun hat, gar durch eine Theorie der Argumentation erklärt zu werden hat (Habermas: p38). - Die Einlösung von Geltungsansprüchen von Aussagen und Äußerungen im und durch Diskurs mittels Argumentation ist also der mehrheitlich genutzte Weg, darüber zu befinden, wie und warum Propositionen wahr oder unwahr werden können. Wahrheit ist ein Produkt, kein Gegebenes. Diejenigen, die sich argumentativ rational verhalten wollen im kommunikativen Diskurs, müssen sich selber eine objektive Welt voraussetzen (die Welt ist hier nicht das, was der Fall ist, sondern wird erst idealtypisch zu einer für eine bestimmte Gemeinschaft ein und dieselbe geltende Welt); schon hier stößt die Form der Ahnung auf eine harte Grenze.

Die argumentative Produktion von Wahrheit von Äußerungen im Rahmen kommunikativer Rationalität unterscheidet sich, was den Aspekt der Rationalität anbelangt, nicht von normativen, expressiven, evaluativen, praktischen Produktionen der Gesolltheit, der Stimmigkeit, der Wertigkeit und Richtigkeit von Äußerungen und Handlungen; normative Richtgkeit, subjektive Wahrhaftigkeit, propositionale Wahrheit, expressive Stimmigkeit sind in gleicher Weise kritisierbar. Nur sind die Geltungsbedingungen für die Einlösung der jeweiligen Rationalitätsform andere sowie der Zuschnitt der zu unterstellenden Kommunikationsgemeinschaft, in der die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche zu erfolgen hat. Zudem sei das Konzept der Begründung mit dem Konzept des Lernes verbunden, also mit der generellen Verbesserungsfähigkeit von Begründungen durch Fehlereinsicht. Habermas (1988: p45) hat folgende Argumentationstypen zusammengefasst:

  1. Die Form des theoretischen Diskurses bedient sich der kognitiv-instrumentellen Äußerungen; der Geltungsanspruch umfasst die Wahrheit von Propositionen (bzw. die Wirksamkeit teleologischer Handlungen). Hier werden kontroverse Wahrheitsansprüche verhandelt. Die verhandelnden sind Beobachter.
  2. Die Form des praktischen Diskurses bedient sich der moralisch-praktischen Äußerungen; der Geltungsanspruch umfasst die Richtigkeit von Entscheidungs- u. Handlungsnormen. Hier werden Ansprüche auf normative Richtgkeit zum Thema gemacht. Die Thematisierer sind Betroffene und Beobachter zugleich.
  3. Die dritte Argumentationsform ist kein Diskurs, sondern hat die Form der Kritik: die ästhetische Kritik bedient sich der evaluativen Äußerungen; sie umfasst den Geltungsanspruch der Angemessenheit/Stimmigkeit von Wertstandards. Habermas (p41): "Rationale nennen wir eine Person, die ihre Bedürfnisnatur im Lichte kulturell eingespielter Wertstandards deutet; aber erst recht dann, wenn sie eine reflexive Einstellung zu den bedürfnisinterpretierenden Wertstandards einnehmen kann. Kulturelle Werte treten nicht [..] mit Allgemeinheitsanspruch auf. [...] Der Hof intersubjektiver Anerkennung, der sich um kulturelle Werte bildet, bedeutet noch keineswegs einen Anspruch auf kulturell allgemine oder gar universale Zustimmungsfähigkeit. Daher erfüllen Argumentationen, die der Rechtfertigung von Wertstandards dienen, nicht die Bedingungen von Diskursen." (siehe auch p42.)
  4. Das gleiche gilt für die therapeutische Kritik; sie bedient sich der expressiven Äußerungen und umfasst den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit von Expressionen. Im analytischen Gespräch sind die Rollen asymmetrisch verteilt, Arzt und Patient verhalten sich nicht wie Proponent und Opponent. Die Voraussetzungen eines Diskurses können erst erfüllt werden nach erfolgter erfolgreicher Therapie. Die therapeutische Argumentation dient der Aufklärung systematischer Selbsttäuschungen.
  5. Der explikative Diskurs schließlich bedient sich keiner spezifischen Äußerungen und umfasst als Geltungsanspruch die Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit symbolischer Konstrukte. Rational ist hier eine argumentierende Person, die sich verständigungsbereit verhält und auf Störungen der Kommunikation in der Weise reagiert, daß sie auf die sprachlichen Regeln und Ausführungen der Regeln reflektiert.
Allen Typen (also: Erkenntnissen, Einsichten, Bewertungen) gemeinsam sei, so Habermas, daß sie jeweilige rationale Äußerungen einer objektiven Beurteilung zugänglich machen. Jede explizite Überprüfung von kontroversen Geltungsansprüchen verlange die anspruchsvolle Form einer Kommunikation, welche die Voraussetzungen der Argumentation erfüllt. Auch hier wieder die Frage: Ließe sich in diese Ordnung auf Ahnung, Wahrnehmung, Imagination, Empfindung, Intuition sich stützende Äußerungen unterbringen, zumal unterbringen im Typ theoretischer Argumentation, der ja in den Sozialwissenschaften den Reflexionsrahmen stellt? Nüchtern betrachtet scheint es sogar ausgeschlossen, ebendiese Äußerungen in der ästhetischen Kritik unterzubringen.
 

IV

Ein letzter Blick auf die Argumentation soll deutlich machen, inwieweit Ahnung, Wahrnehmung u.a. und die Ordnung wissenschaftlicher Kommunikation zueinander bzw. gegeneinander stehen. Und zwar im Rahmen einer Argumentationstheorie, die sich nicht mehr aristotelisch auf die Beziehungen semantischer Einheiten (Sätze) bezieht, sondern auf pragmatischen Beziehungen (Sprechhandlungen), und die die Geltung von Äußerungen weder absolutistisch noch relativistisch zu begründen sucht. Es geht also um die Klärung der Frage, wie der zwanglose Zwang eines bestimmten besseren Arguments zustandekommt und welche Geltungsbereiche es abzudecken vermag mit rational motiviertem Einverständnis.

Man kann das Argumentieren unterscheiden in drei Ebenen: Prozeß des Argumentierens, Prozedur des Argumentierens, und Produktion von Argumenten. Für den Prozeß kann man die Rhetorik, für die Prozedur die Dialektik und für die Produktion die Logik als jeweilige Diziplin zuordnen. In jeder Ebene spielen bestimmte Strukturen eine vordringliche Rolle: im ersten Fall sind es Strukturen einer Sprechsituation, im zweiten Strukturen eines geregelten Wettbewerbs, die dritten Strukturen des Aufbaus und des Verhältnisses von Argumenten zueinander.

Der Prozeßcharakter hat als Focus ein universelles Auditorium, das es zu überzeugen gilt; der Prozedurcharakter hat als Focus ein rational motiviertes Einverständnis der Wettbewerber am Ende des Disputs; der Produktionscharakter hat als Focus die Begründung und Einlösung eines Geltungsanspruchs mit Argumenten. - Egal nun, welche Abstraktionsebene man wählt (Habermas verlangt für die Argumentationstheorie die Verschränktheit aller drei Ebenen und verwirft Selektion), um das Argumentieren theoretisch zu binden: es ist nicht abzusehen, inwieweit das kommunikative Verhandeln/Argumentieren von Ahnungen Einlaß finden könnte. Allenfalls in der Argumentation als Prozeß gibt es auch wissenschafttheoretische Einlaßungen, aber meist peripher und mit verschämter Gewichtung (siehe Hogrebes Verweis auf A.Einstein und K.R.Popper; p7). Die Bedeutung und das Gewicht von Ahnungen können nicht eingehen in die Formen wissenschaftlicher Diskursen, weil sich, wie mir scheint, die Ahnung eine Unkontrolliert- und Ungesetztheit der Objekte leistet, die für den Diskurs, und sei es auch ein um die Dimension der Formalpragmatik erweiterter Diskurs, nicht hinnehmbar ist, will er weiterhin die Zustimmung eines universalen Auditoriums, die Erzielung eines rational motivierten Einverständnisses und die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen als foci aufrechterhalten.

Für den Bereich der evaluativen Äußerungen, also von Äußerungen der Art, die die rechtfertigende Kraft kultureller Werte benutzen, heißt es denn auch: "Wer sich in seinen Einstellungen und Bewertungen so privatistisch verhält, daß sie durch die Appelle an Wertstandards nicht erklärt und plausibel gemacht werden können, der verhält sich nicht rational" (Habermas 1988: p37). Dieses 'nicht rational' liesse sich durchdeklinieren für alle anderen Formen der Argumentation. Und natürlich wäre der Wunsch, gelinde gesagt: dem Code der Ästhetik subordinierte Formen der Einsicht/Bewertung/Erkenntnis im Terrain der theoretischen Diskurse unterzubringen, vom Fleck weg als Formfehler und, da mit Absicht gewählt, gar als irrational zu bezeichnen.

Was hat sich nun in der Wissenschaft zu ändern? Was kann Wissenschaft, was Rationalität, was Diskursivität und was Ahnung (als Stellvertreter für alle Formen "subsemantischen, impliziten Erkennens) sein?