Aristoteles und Basedow
oder
Fragmente
über
bei den
Alten und
Neuern
von
Professor des Friedrichswerderschen Gymnasiums zu Berlin
Berlin und Leipzig,
bei George Jacob Decker 1779
Unter Mitarbeit von Corinna
Preuss und Antonia Wenzel
in digitaler Form wortgetreu neu herausgegeben von
Andreas Fritsch
Freie Universität Berlin 2004
Inhaltsverzeichnis
Erste Abtheilung: Uebersetzungen.
1. Aristoteles Gedanken über die Erziehung. (S. 1-13)
2. Platons Gedanken über die Erziehung.
(Aus dem 7ten Buch der Schrift von den Gesetzen). (S. 14-48)
3. Quinktilians Gedanken über die Erziehung.
(Aus dem ersten Buche seiner Anweisung zur Beredsamkeit.) (S. 49-83)
4. Pädagogischer Brief der Theano, der Frau des Pythagoras, an die Eubula. (S. 84-86)
Ueber das Ammenhalten. Ermahnung an eine
Frau vom
Stande,
ihre Kinder selbst zu säugen. (Noct. att. lib. XII. c. I.) (S. 87-92)
Zweite Abtheilung: Eigne Aufsätze
1. Vom Lesenlernen und andern verwandten Materien. (S. 93-132)
2. Vom Sprachstudium überhaupt. (S. 133-156)
3. Von der lateinischen Sprache. (S. 157-206)
4. Von der griechischen Sprache. (S. 207-236)
5. Allgemeine Erfordernisse zur Verbesserung des Schulwesens. (S. 237-264)
6. Woher der allgemeine Fond zur Schulverbesserung. (S. 265-280)
7. Basedow eine Ode. (S. 281-284)
[Widmung]
Sr. Hochfreiherrlichen
Exzellenz
dem
königlichen würklichen geheimen Etatsminister
Karl Abraham
Freiherrn von
Zedlitz
dem unermüdetthätigen
Beförderer der
Schulverbesserung.
[S. V]
Hochgeborner Freiherr,
Höchstgebietender Herr Etatsminister,
Das ganze aufmerksame Publikum erkennt mit Dankbarkeit die wolthätigen Verdienste, die Ew. Hochfreiherrliche Erzellenz sich vorzüglich auch um die fortschreitende Verbesserung der Erziehung und Schulverfassung durch Denken und Würken erwerben. Wenn über lang oder kurz auch in dem Reiche der Pädagogik endlich Wahrheit und Natur über das Heer verjährter Vorurtheile siegen, so wird auf den ewigen Monumenten dieses Siegs Mitwelt und Nachwelt den Namen Zedlitz mit unter den ersten Erfechtern desselbigen lesen. Jedem Patrioten, der den Werth und Einfluß einer der allgemeinen und besondern Bestimmung jedes Menschen gemäßen Erziehung kennt, schwillt die Brust bei solchen Aussichten, und er sieht mit Entzükken und Sehnsucht | [S. VI] die herrliche Ernte heranreifen. – Und nur der Schulmann sollte stumm und fühllos sein? – Verzeihen Ew. Exzellenz, daß grade ich es wage, Ihnen öffentlich das aufrichtigste Opfer der Ehrfurcht und Dankbarkeit darzubringen. Schwerlich hätt’ ich indessen den Muth dazu gehabt, wenn mir nicht Ewr. Erzellenz gnädige Gesinnung die Hofnung gemacht hätte, daß Sie auch auf die vielleicht unerreichte gute Absicht mit Ihrer gewöhnlichen aufmunternden Leutseligkeit herabsehen würden.
Mit der tiefsten Ehrfurcht bin ich
Ewr.
hochherrlichen
Exzellenz
Berlin,
den 24sten August
1778
unterthänigster
Diener
Friedrich Gedike.
[S. VII]
Vorrede.
Pädagogische Schriften waren seit jeher eine meiner Lieblingslekturen. Sehr natürlich fiel mir dabei einst die Frage ein: wie? sollt’ es denn unter den Alten, in deren Gesellschaft du so manche frohe Stunde hinlebst, gar keinen Erziehungsphilosophen gegeben haben, gar keinen Basedow oder Kampe? – Am ersten muste mir freilich Plutarchs Schrift von der Erziehung | [S. VIII] beifallen. Ich hatte sie vor langer Zeit gelesen; ich las sie noch einmal, und fand – daß sie eins der schalsten, flachsten Räsonnements wäre, das immer ohne Schaden hätte verloren gehen können. Ich forschte weiter, und fand, was ich hier übersetzt liefre. Ich hätte mehr finden können, wenn es mir nicht um zusammenhägendes Räsonnement und Theorie zu thun gewesen wäre.
Ich übersetzte diese Fragmente in der Erwartung, daß es andern eben so interessant wie mir sein würde, die Gedanken jener unsterblichen Weisen des Alterthums über einen itzt so vorzüglich bearbeiteten Gegenstand zu lesen; und dabei zu sehen, wie die Denker vor zweitausend Jahren zum Theil auf demselben Wege schon gingen, den die besten unsrer heutigen Erziehungstheoretiker | [S. IX] gehn. Freilich wird man eben darum nicht lauter neue Gedanken in diesen Aufsätzen finden. Aber ich weiß nicht, ob es in dem Punkt andern eben so geht wie mir, daß sie sich im Geiste zurüksetzen in jene Zeiten, und einen Denker des grauen Alterthums auch über itzt allgemein bekannte und schon oft durchgedachte Wahrheiten mit Vergnügen räsonniren hören. Und würklich wird man doch auch in den hier übersetzten Fragmenten manche unerwartete und noch itzt neue Bemerkung antreffen.
Daß ich bei diesen Uebersetzungen manches zu sehr temporelle und lokale, so viel es ohne sonderliche Zerreißung des Zusammenhangs geschehen konnte, wegschnitt, wird mir hoffentlich keiner verdenken. Auch erwart’ ich Verzeihung für die hie und da angehängten | [S. X] kritischen Anmerkungen. Sie sollten bloß zur Rechtfertigung meiner Uebersetzung dienen. Von den beim Platon angenommenen eignen Lesarten und Erklärungen leg’ ich den Kritikern meine Gründe nächstens in Herrn D. Stosch Museum crit. genauer vor.
Wenn man viel über eine und dieselbe Sache nicht bloß maschinenmäßig sondern mitdenkend gelesen, so kann es nicht fehlen, man muß manche alte Idee von einer noch unbemerkten Seite zu sehen bekommen, ja man muß hie und da auf neue Ideen stoßen, wenigstens solche, die man dafür hält, und eben darum näher geprüft zu sehen wünschte. So ging es mir, und so entstand die zweite aus eignen Aufsätzen bestehende Abtheilung meiner Schrift. Freilich wird man auch hier lange nicht alles neu finden. Aber wo ist die Schrift, | [S. XI] die, ohne einen Kandidaten des Tollhauses zum Verfasser zu haben, lauter noch ganz neue und unerhörte Dinge enthielte? In dem weiten Bezirke der Pädagogik giebt es überdis so manches Feld, das mehr als einmal überpflügt werden muß, eh man hoffen kann, daß der Same aufkeimt und Frucht trägt. Dis gilt besonders von manchen hier hingeworfnen Projekten.
Es ist freilich immer eine sehr mißliche Sache, Vorschläge zur Verbesserung irgend einer Sache von Wichtigkeit zu thun. Man ist gar zu geneigt, von den Vorschlägen selbst auf den, der sie thut, abzuspringen, und jene immer nur in Rüksicht auf diesen zu beurtheilen. Ich werde mir dasselbe Schiksal gefallen lassen müssen. Doch werd’ ich mich auch hinlänglich belohnt halten, wenn ich irgend einem | [S. XII] unpartheiischen Denker auch nur entfernten Anlaß gebe, weiter nachzudenken, und – wofern er kann und darf – das Resultat seiner Prüfung zur würklichen Ausübung zu bringen. – Wem ich über diese und jene Materie nicht vollständig genug scheine, der bedenke, daß ich nur Fragmente schreiben wollte.
Vielleicht erwartet mancher, dem Titel zufolge ein weitläuftiges Räsonnement über Basedow und sein Philantropin. Dis war in der That anfänglich meine Absicht. Allein ich vernichtete meinen angefangnen Aufsatz – aus der natürlichsten Ursache von der Welt – um nicht nach bloßem Hören und Lesen über eine Sache zu urtheilen, die, um richtig beurtheilt zu werden, gesehen sein will. Doch Eine Anmerkung wenigstens kann ich nicht | [S. XIII] zurückhalten. Ich begreife noch immer nicht recht, was die Famulanten beim Philantropin sollen. Basedow sagt: um einmal in großen Häusern mit zur Erziehung gebraucht zu werden. Allein ich muß frei gestehen, ein Bedienter, der Erzieher ist, scheint mir ein eben so widersprechender Begrif als – ein Erzieher, der Bedienter ist. Besser, dünkt mich, wär’s, wenn das Philantropin seine Famulanten zu künftigen Schullehrern auf dem Lande und in kleinen Städten bildete. Aber alsdann frag’ ich wieder: wozu müssen sie Latein lernen, und gar Lateinsprechen? Wer das kann, dünkt sich immer ein Stük vom Gelehrten – und so einer ist zum Schulmeister schlechterdings verdorben.
Immer bleibt indessen Basedow der Mann, dem unsre Zeiten eine Ehrensäule | [S. XIV] schuldig sind. Die überall rege Aufmerksamkeit auf Erziehungs – und Schulverbesserung ist sein Werk. Er wekte die schlummernden Arbeiter auf. Er machte Bahn. Aber sicherlich verdenkt er’s auch keinem, der zu einerlei Ziel hinstrebend sich hie und da einen andern Nebenweg wählt.
[S. XV- XVI: Inhaltsverzeichnis, s.o.]
[S. 1]
Des
Aristoteles Gedanken über die Erziehung.
(Aus dem 7ten und 8ten Buche der Politik.)
Die Beschaffenheit der Nahrung hat bei Kindern ungemein großen Einfluß auf ihre körperliche Ausbildung. Nach den Thieren zu schließen, und nach den Völkern, die nur darauf ausgehen, Kriegsfertigkeiten hervorzubringen, scheint offenbar die volle Nahrung der Milch dem Körper am angemeßensten. Aber die Säugerin muß dabei keinen Wein trinken, wegen der daraus für den Säugling besorglichen Krankheiten. | [S. 2]
Ferner ist es sehr nützlich, dem Kinde gleich Bewegung zu verschaffen, so viel es nur immer sein Alter verträgt. Um die wegen der Zartheit der Gliedmaßen sehr leicht mögliche Verzerrung derselben zu verhüten, gebrauchen noch jetzt manche Völker gewisse künstliche Instrumente, die den Körper grad erhalten. Auch ist’s von großem Nutzen, das Kind gleich früh zur Ertragung der Kälte zu gewöhnen. Gesundheit und Kriegsgeschiklichkeit gewinnen außerordentlich dabei. Daher haben manche barbarische Nationen die Gewohnheit, die neugebornen Kinder in einen kalten Strom unterzutauchen; andre, z. E. die Gallier, sie nur sehr dünn und leicht zu bekleiden. Denn zu allem, wozu man sich nur gewöhnen kan, ist’s am besten, sich gleich in der Kindheit zu gewöhnen. Nur freilich muß das stuffenweis geschehen. Wegen der innern Wärme aber ist die Natur eines Kindes zur Erduldung des Frostes immer stark genug. Diese und ähnliche Regeln hätte man also für das allererste Alter zu beobachten.
Das folgende Alter bis zum 5ten Jahr muß noch zu keinem Lernen und überhaupt zu keinen nothwendigen Arbeiten angehalten werden, damit der Wachsthum nicht gehindert werde. Dafür desto mehr Bewegung zur Verhütung körperlicher Trägheit. Diese Bewegung verschaffe man den Kindern außer andern Mitteln vorzüglich durch Spiele, die nicht unanständig, nicht zu anstrengend, aber auch nicht zu schlaff sein müßen. | [S. 3]
Auch in Ansehung der Erzählungen und Mährchen, die kleine Kinder zu hören bekommen, sei der Erzieher wachsam. Denn alle dergleichen Dinge müssen den Weg bahnen zu der künftigen Sphäre ihrer Thätigkeit. Und eben darum müssen schon die Spiele mehrentheils Nachahmungen ihrer künftigen ernsthaften Geschäfte seyn.
Sehr unrecht verwehren manche das heftige angestrengte Schreien der Kinder. Dis befördert den Wachsthum, weil es eine Art von gymnastischer Uebung für den Körper ist. Das Ansichhalten des Othems giebt überhaupt dem Arbeitenden mehr Kraft, und eben dis widerfährt auch Kindern bei jeder heftigen Anstrengung der Stimme und Nerven.
Der Erzieher muß ferner unter andern ja dahin sehen, daß die Kinder so wenig als möglich mit den Dienstboten Verkehr haben. Denn freilich muß dis Alter bis so zum 7ten Jahre durchaus noch im elterlichen Hause seine Pflege bekommen. Sehr vernünftig ist’s also, schon in diesem Alter sein Kind von allen unanständigen Gegenständen des Gesichts und Gehörs möglichst entfernt zu halten. Zotenreißerei sollte überhaupt von einem Gesetzgeber so sehr als irgend etwas aus seinem Staate verbannt werden. Denn wem es erst leicht wird, irgend etwas garstiges zu reden, bei dem ist auch das Thun nicht mehr weit. Aber besonders sollte man über junge Leute wachen, daß sie doch ja nichts dergleichen entweder selbst vorbrächten, oder von andern zu hören bekämen. | [S. 4]
Wenn indes jemand dem Gesetz zuwider sich dergleichen Reden oder Handlungen zu Schulden kommen ließe, so müßt’ er, wenn’s ein freigeborner junger Mensch ist, der noch nicht zu öffentlichen Gastereien zugezogen wird, mit Schande, ja selbst mit Schlägen gezüchtiget werden; ist er über die Jahre hinaus, mit sklavenmäßigen Beschimpfungen, weil er sich als Sklave betrug. Wenn wir aber Reden von der Art verbannt wissen wollen, so versteht es sich von selbst, daß eben das auch von schmutzigen Gemälden und Romanen gilt. Jeder Regent mache es sich also zur angelegentlichen Sorge, keine Statue und kein Gemälde zu dulden, das dergleichen Dinge vorstellte. Höchstens etwa noch in den Tempeln einiger Götter der Art, bei deren Dienst das Gesetz einen gewissen Muthwillen verstattet. Aber eben dahin erlaubt denn auch das Gesetz nur dem Mann von gesetztem Alter zu gehen, um für sich und zugleich für Frau und Kinder diesen Göttern seine Ehrerbietung zu bezeigen. Jungen Leuten hingegen muß das Gesetz auf keine Weise verstatten, Zuschauer bei satyrischen Schauspielen und Komödien zu seyn, bevor sie nicht in dem Alter sind, wo sie an Gastereien Theil nehmen können. Und eben hier wird eine gute Erziehung sie vor Völlerei und vor allen sonstigen Verderbnissen bei dergleichen Zusammenkünften bewahren.[1] | [S. 5]
Soviel gleichsam nur im Vorbeigehen. Aber nachher müssen wir genau bestimmen und untersuchen, ob man überall sich um die Erziehung bekümmern müsse, und wie man’s müsse. Für itzt mußt ich’s wenigstens erwähnen. Denn vielleicht hatte der tragische Schauspieler Theodor keinen übeln Einfall. Keiner, auch nicht der elendeste Aktör, durfte eher als er selbst das Theater betreten, aus dem Grunde, weil sich die Zuschauer gar zu leicht von dem, den sie zuerst zu hören bekämen, gewinnen ließen. Eben das ist der Fall in unserm Umgang mit andern Menschen, und überhaupt bei unsrer gesammten Aufführung. Alles Erste lieben wir vorzüglich. Daher muß man ja jungen Leuten alles Schlechte fremd erhalten, vornehmlich, was zu Liederlichkeit oder zu einer gewissen Feindseligkeit des Karakters Anlaß sein könnte.
Nach Verlauf der ersten 5 Jahre müssen die Kinder die beiden folgenden Jahre bis zum 7ten hin schon Zuschauer von dem sein, was sie künftig selbst lernen sollen. Und nun muß man in der Erziehung durchaus zwei Zeitabschnitte machen, vom siebenten Jahre bis zur Mannbarkeit, und von da wieder bis zum 21sten Jahre; denn die, welche die verschiedenen Alter des menschlichen Lebens nach Perioden von 7 Jahren zertheilen, verfahren bei weiten nicht genau genug. Die Eintheilung muß der Natur folgen: denn aller Unterricht hat die Absicht, die Lükken der Natur auszufüllen. Zuerst müssen wir also sehen, ob man in Rüksicht auf die Erziehung | [S. 6] gewisse Anordnungen machen müsse; sodann, ob’s gut sei, die Erziehung als eine öffentliche Sache zu behandeln, oder sie jedem Partikulier selbst zu überlaßen, wie es heutzutage in den meisten Staaten Mode ist; und drittens endlich, wie sie beschaffen sein müsse.
Daß ein Gesetzgeber sich vorzüglich um die Erziehung der Kinder bekümmern müsse, wird wol niemand leicht in Zweifel ziehen. Die Vernachläßigung derselben schadet einem Staat außerordentlich. Man muß auf jeden Zweig des gemeinen Wesens bei Verwaltung desselben aufmerksam sein. Denn die eigenthümliche Form einer jeden Erziehungsart [2] pflegt nicht nur die einmalige Regierungsart zu bewahren, sondern sie war’s auch, die sie von Anfang an festsetzte. So entstanden demokratische, so aristokratische Verfassungen. Immer aber würkt beßre Art der Erziehung auch eine beßre Staatseinrichtung. Ueberdis giebt’s bei allen Fertigkeiten und Geschiklichkeiten gewisse Vorkenntnisse und Vorgewöhnungen zu den jedesmaligen Geschäften, und offenbar giebt’s dergleichen also auch in Ansehung der Tugend.
Weil aber der ganze Staat immer nur Einen Endzweck hat, so erhellt daraus von selbst, daß | [S. 7] auch die Erziehung nur Eine und dieselbe sein müßte, und daß die Sorge dafür keine Privatsache, sondern jedesmal die Sache des Staats sein sollte; wiewol itzt jeder sich nur um seine eigne Kinder bekümmert, und sie durch Privatunterricht, was ihm gut dünkt, lernen läßt. Da indessen die Kinder dem ganzen Staat gemein sind, so sollte auch ihre Bildung eine öffentliche Sache sein. Denn überhaupt muß kein Bürger glauben, er gehöre sich selbst zu, sondern alle gehören dem Staat, von dem ja ein jeder ein Theil ist. Und die Sorge für jeden einzlen Theil hat immer großen Einfluß aufs Ganze. Daher muß man hierin die Lacedämonier loben. Sie lassen sich die Erziehung ungemein angelegen seyn, und betreiben sie als eine öffentliche Sache. Kurz es ist wol sehr augenscheinlich, daß man über die Erziehung Gesetze geben, und sie als eine Angelegenheit des ganzen Staats behandeln müsse.
Was Erziehung sei, und wie sie beschaffen sein müsse – darum sollte sich billig jeder Mensch bekümmern. Aber heut zu Tage ist man über die Objekte derselben uneins. Denn nicht alle halten einerlei für nöthig zum jugendlichen Unterricht, weder in Ansehung der Tugend, noch in Ansehung der vernünftigen Anordnung seiner Lebensart. Auch streitet man, ob man mehr auf die Bildung des Verstandes oder des Herzens sehn müsse. Noch verwirrter wird die Untersuchung, sobald man auf die itzt gewöhnlichen Erziehungsmethoden sieht. Man scheint selbst nicht recht zu wissen, ob man | [S. 8] mehr das für’s gemeine Leben Nutzbare, oder das was Beziehung auf die Tugend hat, oder die sogenannten galanten Studia treiben müsse. Denn alle diese verschiednen Grundsätze finden ihre Vertheidiger. Besonders ist man über die moralische Bildung uneinig. Denn der eine giebt dieser, der andere jener Tugend den Vorzug, so daß sie denn sehr natürlich auch über die Ausübung derselben ganz verschiedne Grundsätze hegen.
Daß man aus dem ganzen Inbegrif des Nützlichen hauptsächlich das Nothwendige lernen müsse, kann niemand leugnen. Aber freilich nicht alles. Denn da ein Unterschied ist zwischen anständigen und unanständigen Beschäftigungen, so ist offenbar, daß man sich nur mit solchen nützlichen Beschäftigungen abgeben müsse, deren Betreibung uns nicht zum niedrigen Handwerker herabwürdigt.
Niedrig sind alle die Künste und Geschicklichkeiten, die den Körper eines freigebornen Menschen, oder seinen Karakter oder seinen Verstand zur geschäftigen Ausübung der Tugend ungeschikt machen. Daher nennen wir alle die Künste, die zur Verschlechterung der physischen Natur eines Menschen etwas beitragen, wie auch alle Lohnarbeiten niedrig. Denn sie lassen der Seele keine Ruhe, und drükken sie herunter. Doch ist’s nichts weniger als unanständig, sich auch in diesen niedrigen Künsten um einige Kenntnis zu bewerben[3]. Aber gar zu eifrig zur Vollkommenheit | [S. 9] darin zu streben, führt den schon angezeigten Nachtheil mit sich. Es macht indessen das einen großen Unterschied, zu welcher Absicht jemand etwas thut oder lernt. Um sein selbst willen, oder seiner Freunde, oder der Tugend wegen – ist nicht unanständig. Aber wer es bloß um andrer willen thut – der dürfte wenigstens öfters lohnsüchtig und sklavisch zu verfahren scheinen. Soviel ist klar, die Erziehungsart, die itzt gäng und gäbe ist, schwankt hin und her.
Vier Dinge ohngefähr sind’s, worinn man Kinder gewöhnlich unterrichten läßt – wissenschaftliche Kenntnisse, Leibesübungen, Musik, und, was einige noch hinzuthun, Zeichnen. Die ersten und dis letzte läßt man sie lernen, weil der Nutzen davon für’s tägliche Leben so sehr groß ist – und Leibesübungen, als ein Mittel zur Tapferkeit. In Ansehung der Musik endlich könnte man etwa noch zweifeln. Denn gegenwärtig erlernen die mehresten sie bloß des Vergnügens wegen. Unsere Vorfahren indessen machten sie zu einem Stück der | [S. 10] Erziehung, weil, wie oft gesagt ist, die Natur einen Trieb nicht nur zur regelmäßigen Geschäftigkeit, sondern auch zur anständigen Muße hat. Dis ist, um’s noch einmal zu sagen, ein Grundtrieb in der Seele. Freilich muß beides sein, Muße und Beschäftigung. Nur wünscht man sich immer lieber jene. Aber auch dann muß man sich selber fragen, was man während der Muße thun wolle. Spielen? – Bewahre! So wäre ja der Zwek des Lebens Spiel. Ist dis aber widersinnig, so muß man vielmehr umgekehrt bei Beschäftigungen sich zwischenher des Spiels bedienen. Denn jeder Mensch, der arbeitet, bedarf Erholung, und grade das ist die Bestimmung des Spiels. Jede Beschäftigung ist immer mit einer gewissen Mühe und Anstrengung verknüpft. Aus dieser Ursache also muß man Spiele einführen, aber beim Genuß derselben doch immer auf die Zeit Rüksicht nehmen, damit man sie nur als Arzeneimittel gebrauche. Denn die mit dem Spiel verbundne Bewegung des Geistes ist eine Art von Entspannung, und wegen des daraus entspringenden Vergnügens Erholung – –
Hieraus ist offenbar, daß man nanches lernen müsse, wovon man nur bei müßigen Stunden Gebrauch machen will. Dergleichen Kenntnisse und Geschiklichkeiten erwerben wir uns bloß um unsrer selbst willen; hingegen alle zum geschäftigen Leben abzwekkende Kenntnisse als nothwendig und um andrer willen. Darum nun haben unsre Vorfahren auch die Musik zu einem Stük der Erziehung | [S. 11] gemacht, nicht als wäre Kenntnis derselben unumgänglich nothwendig. Denn das ist sie auf keine Weise. Auch nicht, als wäre sie, wie die Wissenschaften, nützlich zum Erwerb, zur Oekonomie, zur Gelehrsamkeit, oder zu vielen politischen Geschäften – das Zeichnen scheint wenigstens dazu nützlich zu sein, um über Kunstwerke besser urtheilen zu können – oder wie die Gymnastik zur Gesundheit und Leibesstärke. Denn von alledem wird nichts durch die Musik erreicht und befördert. So bleibt denn also zum einzigen Nutzen die Ausfüllung der Muße übrig. Und eben dis scheint ihre ehemalige ursprüngliche Bestimmung gewesen zu sein. –
Ueberhaupt muß man von den eigentlich fürs gemeine Leben nützlichen Kenntnissen junge Leute manches lernen lassen, nicht bloß wegen dieses unmittelbaren Nutzens, wie etwa die Wissenschaften, sondern auch darum, weil soviel andre Kenntnisse uns dadurch ungemein erleichtert werden. Eben so das Zeichnen; nicht eben bloß, um uns beim Einkauf oder Verkauf von diesem oder jenem Hausgeräth vor Betrug zu sichern, sondern mehr darum, weil Geschiklichkeit darin uns in den Stand setzt, über körperliche Schönheit besser zu urtheilen. Ueberall nur auf das eigentlich Nützliche zu sehen, schikt sich nicht für ein edles freies Gemüth.
Weil aber augenscheinlich ist, daß die Erziehung durch Gewöhnung vor der durch Unterricht vorhergehe, und daß man erst den Körper, dann den Verstand ausbilden müsse, so folgt daraus | [S. 12] von selbst, daß man Kinder zu Leibesübungen anhalten muß. Aber bis zur Mannbarkeit müssen es nur leichtere Uebungen sein, ohne gewaltsame Beschränkung der Nahrung, und ohne eigentliche Zwangsarbeiten, damit nicht der Wachsthum gehindert werde. Ein deutlicher Beweis, daß dis davon herkommen kann, ist die Bemerkung, daß unter den Olympischen Siegern kaum 2 oder 3 sind, die beides in ihrem männlichen und jugendlichen Alter gesiegt hätten; aus der Ursache, weil sie durch zu angestrengte gymnastische Uebungen in der Jugend sich geschwächt haben. Wenn sie aber zur Mannbarkeit gekommen, und dann noch drei Jahre auf andre Geschiklichkeiten verwandt haben, dann ist’s gut, sie zu körperlichen Arbeiten mit Vorschreibung einer ordentlichen Diät anzuhalten. Denn Körper und Seele müssen nicht zu gleicher Zeit arbeiten. Sonst leidet sicherlich eins von beiden. Die Anstrengung des Körpers hält den Verstand auf, die der Seele den Körper.
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Die nun folgende weitläuftige Abhandlung über die Musik und deren zwekmäßige Erlernung laß’ ich unübersetzt, theils weil das Resultat davon schon vorhin dagewesen, theils weil alles zuviel Beziehung auf die griechische Musik und auf die bei den Griechen gewöhnlichen Instrumente hat. Uebrigens glaub’ ich, daß am Ende dieses Buchs der aristotelischen Politik eine große Lükke sei, worinn er von dem eigentlichen Wissenschaftlichen Unterricht | [S. 13] gehandelt haben muß. Denn unmöglich kann er’s bey dem Wenigen, was er vorher davon gesagt hat, haben bewenden lassen. Diesen Verlust bedaur’ ich grade am meisten, und hier war’s, wo ich den Erzieher Alexanders am liebsten zu hören wünschte. Denn ich muß es nur gestehen, dis ganze hier von mir übersetzte Räsonnement über die Erziehung ist – einige sehr gute Ideen ausgenommen – etwas allgenein und obenabgeschöpft. Ein deutlicher Beweis, daß man der subtilste Metaphysiker seyn, und doch über Gegenstände des gemeinen Lebens seicht räsonnieren kann. Ein Philosoph, der seine Seele immer fast nur auf Abstraktionen geheftet hat, ist selten im Stande, praktische Materien so zu behandeln, daß er nicht bloß beim Allgemeinen stehen bleibt, sondern in die individuellen Bestimmungen und Unterschiede eindringt. Platon verstand diese Kunst besser als Aristoteles. Meine Leser mögen selbst urtheilen.
Platons Gedanken
über die Erziehung.
(Aus dem 7ten Buch der Schrift von den Gesetzen.)
Redende Personen sind:
ein Athenischer Fremdling, oder vielmehr Platon selbst;
Klinias, ein Kreter;
und Megillus, ein Lazedämonier.
Athen.
Wir haben itzt die schiklichste Gelegenheit,[4] von der Ernährung und Erziehung der Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts zu reden. Ganz davon zu schweigen, ist platterdings unmöglich. Aber doch wird mein Vortrag darüber mehr das Ansehen von Anweisung und Rath, als von Gesetzen haben. Im Privatleben und im Innern der Familien fällt so manches vor, das an sich zwar Kleinigkeit ist, und nicht öffentlich bekannt wird; Dinge, bei denen man sich durch Verdruß oder Vergnügen, oder durch eine anderweitige Leidenschaft zu gesetzwidrigen Handlungen hinreißen läßt; die aber doch die Folge haben, daß die Sitten der Bürger so sehr abstechend und unähnlich unter einander werden. Dis ist für einen Staat ungemein nachtheilig. Denn weil’s so kleine und so häufig vorkommende Dinge sind, so will sich’s nicht recht schikken, Gesetze und Strafen darüber anzuordnen. Ja dis würde selbst die andern schriftlich verfaßten | [S. 15] Gesetze entkräften, weil man sich bei diesen kleinen und häufig vorkommenden Dingen allmälig gewöhnen würde, gesetzwidrig zu handeln. So geräth man also in Verlegenheit, ob man darüber was festsetzen soll; und doch kan man unmöglich ganz still davon schweigen. Doch ich muß versuchen, Euch meine Meinung durch Exempel deutlich zu machen und aufzuhellen. Denn itzt dürft’s Euch noch etwas dunkel erscheinen.
Klinias. Du hast wol Recht.
Athen. Mich dünkt, wir haben schon bei einer andern Gelegenheit den sehr richtigen Grundsatz angenommen, daß eine gute Erziehung der Seel und dem Körper die beste und vollkommenste Ausbildung zu geben im Stande sein müsse.
Klin. Sehr wahr.
Athen. Der schönste Körper aber, um es kurz zu sagen, ist, glaub’ ich, der, der gleich in der zartesten Kindheit die gradeste Form und Richtung bekommt.
Klin. Das ist gewis.
Athen. Wie aber? Wissen wir nicht, daß der erste Wachsthum bei allen lebenden Wesen bei weiten der merklichste und ansehnlichste ist; so daß sogar viele behaupten, daß die Größe, die der menschliche Körper vom 5ten bis 25ten Jahre bekommt, noch nicht das doppelte von der in den ersten fünf Jahren sei.
Klin. Richtig.
Athen. Weiter denn! Wenn der Mensch in den Jahren des größten Wachsthums nicht viel | [S. 16] angemessne Bewegung hat, so wissen wir ja, daß daraus tausenderlei Uebel für den Körper ensteht.
Klin. Wol wahr!
Athen. So muß denn also der Körper zu der Zeit, wenn er die meiste Nahrung bekommt, auch die meiste Bewegung bekommen.
Klin. Aber wie tausend, Fremdling? Wollen wir denn ganz junge, eben geborne Kinder schon so gewaltig anstrengen?
Athen. Nicht dann erst. Nein, früher schon, wenn sie noch ihre Nahrung im Mutterleibe erhalten.
Klin. Wie meinst du das, Freund? Du redest doch von Embryonen?
Athen. Freilich. Mich wunderts indessen nicht, daß Ihr Euch von den Leibesübungen eines Kindes in diesem Zustande keinen Begrif machen könnt. Doch so ungereimt die Sache Euch vorkommen mag, will ich’s Euch doch begreiflich zu machen suchen.
Klin. O ja, das thue!
Athen. Bei uns zu Lande ist die Sache begreiflicher, wegen gewisser Spiele, die da zum Theil fast zu sehr Mode sind. Junge, ja alte Leute füttern bei uns junge Vögel auf, die sie zum Gefecht gegen einander abrichten. Aber sie lassen’s nicht bei der Uebung und Bewegung bewenden, die sie ihnen durch das Abrichten zu den Wettkämpfen verschaffen. Sie thun mehr, sie nehmen die kleinen Vögel auf die Hand, die großen unter den Arm, und wandern auf die Art viel Stadien | [S. 17] weit mit ihnen herum, und dis nicht sowol ihrer eignen Gesundheit wegen, als vielmehr dazu, um dem Leibe der Vögel eine gewiße Festigkeit zu geben. Jeder, der nur einige Bemerkungsgabe hat, kann daraus deutlich einsehen, wie nützlich Erschütterung und Bewegung – ohne zu große Ermüdung versteht sich – jedem Körper ist; diese Bewegung mag übrigens durch des Körpers eigne Kraft, oder durch Schaukeln, oder durch eine Wasserreise, oder durch Fahren und Reiten, oder auf irgend eine andre Art hervorgebracht werden. Dergleichen Bewegung dient dazu, Speise und Trank mehr zu zerarbeiten, und giebt eben dadurch dem Körper Gesundheit und Stärke. Wie nun? Was sollen wir unter diesen Unständen thun? Sollen wir mit Gefahr, uns lächerlich zu machen etwa folgende Gesetze geben: die Schwangern sollen fleißig spazirengehn; sie sollen das neugeborne Kind wie Wachs formen, solang es weich ist, und 2 Jahr lang wikkeln. Sollen wir sogar die Wärterinnen durch gesetzliche Strafen nöthigen, daß sie die Kinder beständig aufs Land, oder zu Tempeln, oder zu ihren Verwandten hintragen, bis sie selbst Kraft genung haben, zu stehen; und daß sie auch dann noch, solange die Kinder sehr zart sind, sich in Acht nehmen, daß die Glieder durch zu scharfes Auftreten sich nicht verrenken, und sie daher lieber immer bis zum dritten Jahr hintragen? Sollen wir ferner verordnen, daß eben diese Wärterinnen starke Personen sein müssen, und daß man ihrer mehr als eine halten müsse? Sollen | [S. 18] wir endlich auf jeden einzelnen Uebertretungsfall in Ansehung dieser Verordnungen Strafen festsetzen? Oder seid ihr andrer Meinung? Denn wir mögten freilich nur zu oft das kurz vorher genannte Schiksal haben?
Klin. Welches?
Athen. Daß man ein lautes Gelächter über uns aufschlüge. Und überdis würden die Wärterinnen, als Weiber und als Sklaven, uns eben nicht sonderlich gehorchen wollen.
Klin. Weshalb sollt’ es denn also doch gesagt werden?
Athen. Darum. Vielleicht würde jeder freier Mann und Hausvater, wenn er dis hörte, zu der richtigen Einsicht kommen, daß man ohne gute häusliche Veranstaltungen sich vergeblich schmeichele, daß die öffentlichen Anordnungen von Bestand sein würden. Er würde alsdann unsre eben gethanen Vorschläge wie Gesetze gebrauchen, und, wenn er so mit richtiger Anwendung derselben Hauswesen und Staatsgeschäfte verwaltete, würd’ er sich wohl dabei befinden.
Klin. Das ist sehr wahr.
Athen. So wollen wir denn auch unsre Anordnungen von der Art noch nicht aufgeben, sondern nun auch noch die Uebungen der Seele bei zarten Kindern entwerfen, wie wir’s in Ansehung des Körpers gemacht haben.
Klin. Ich bin’s sehr zufrieden.
Athen. Wir können also gleich voraussetzen, daß die Grundlage der Bildung des Körpers und | [S. 19] der Seele bei jungen Kindern in der Säugung und Bewegung bestehe. Diese letztre muß Tag und Nacht durch fortgesetzt werden, weil sie zwar überhaupt für jedermann, hauptsächlich aber doch für Kinder von ungemein großem Nutzen ist. Sie müßten, wo möglich, gleichsam immer wie in einem Schiffe wohnen; wenigstens muß man es diesem Zustande so nah als möglich bringen[5]. Man | [S. 20] kann die Wahrheit hievon schon daraus schließen, daß die Kinderwärterinnen sowol, als die Weiber, die | [S. 21] zur Heilung wahnsinniger Personen die Kur der Korybanten gebrauchen, den Nutzen der Bewegung aus Erfahrung einsehen. Denn wenn die Mutter ein unruhiges Kind zur Ruhe bringen will – was thut sie? Sie läßt’s nicht ruhig liegen, sondern sie wiegt’s in ihren Armen hin und her, und dabei schweigt sie nicht still, sondern singt zugleich. Und so beruhigt sie das Kind auf eben die Art, wie man eine wütende Tollheit zu kuriren pflegt, nemlich durch Bewegung mit Tanz und Musik.
Klin. Wie das wol eigentlich zugehen mag?
Athen. Das ist eben so schwer nicht einzusehen.
Klin. Wie denn?
Athen. Beiderlei Zustand rührt aus gewissen schrekhaften Vorstellungen her, die aus einer Schwäche der Seele entstehen. Wenn nun eine äußre Erschütterung hinzukommt, so siegt diese Bewegung von außen über die innre schrekhafte Bewegung des Wahnsinns. Und so schaft sie Ruh in der Seele, und bringt das in beiden Fällen gewöhnliche Herzklopfen zum Schweigen. Sie setzt die Seele in einen gewißen behaglichen Zustand[6], und würkt | [S. 22] bei den einen Schlaf, die andern bringt sie aus dem Zustande des Wahnsinns in den Zustand der vernünftigen Besinnung, aber freilich auch mit Hülfe der Götter, denen man dabei Sühnopfer bringt. So denk ich, läßt sich diese Erscheinung am wahrscheinlichsten in der Kürze erklären.
Klin. Sehr gut, wie mich dünkt.
Athen. Wenn also die Würkung hievon so groß sein kann, so sollte man ferner doch ja bedenken, daß eine Seele, die von Kindheit auf viele schrekhafte Vorstellungen bekömmt, sich immer mehr zu Furcht und Angst gewöhnt. Und das ist doch wol schwerlich Bildung und Erziehung zur Mannheit, sondern vielmehr zur Feigheit.
Klin. Natürlich.
Athen. Hingegen ist’s Erziehung zur Mannhaftigkeit, wenn man von Kindheit an sich gewöhnt, über allen uns aufstoßenden Schrek und Furcht zu siegen.
Klin. Richtig.
Athen. So müssen wir denn gestehen, daß Leibesübungen durch Bewegung bei Kindern jedes Alters[7] ungemein viel zu einem Theil der moralischen Tugend beitragen.
| [S. 23]
Klin. Ganz gewis.
Athen. Ferner hat eine heitre oder verdrüßliche Gemüthsart keinen geringen Einfluß auf Güte oder Verderbtheit des Karakters.
Klin. Ja freilich.
Athen. Wir wollen also noch einmal, so gut wir können, die Mittel anzugeben suchen, wie entweder der eine oder der andre Gemüthskarakter in die Seele komme.
Klin. Schön.
Athen. Ich bin völlig überzeugt, daß Verzärtelung den Karakter eines Kindes mürrisch, verdrüßlich und über jede Kleinigkeit empfindlich macht. Zu großer Zwang und Sklaverei hingegen machen sie niederträchtig, liederlich, menschenfeindlich und überhaupt zum Ungange mit Menschen untauglich.
Klin. Aber wie soll denn der Staat Kinder erziehen, die noch keine Töne verstehen, und auch noch gar keiner andern Erziehungsart empfänglich sind?
Athen. Ich will dir’s auseinandersetzen. Jedes Thier, und vorzüglich der Mensch, giebt, sobald er auf die Welt kommt, seine Empfindungen durch Geschrei zu verstehen. Auch hat der Mensch noch obendrein das Weinen vor den andern Thieren voraus.
Klin. Richtig.
Athen. Wenn nun die Wärterinnen wissen wollen, was das Kind haben will, wie machen sie’s? Sie halten ihm allerlei Dinge hin, und räsonniren nun eben nach dem Geschrei und Weinen | [S. 24] des Kindes dabei. Halten sie ihm etwas hin, und es wird ruhig – so denken sie dis sei das rechte. Aber schreit und weint es dabei, so glauben sie, es sei noch nicht das rechte. Es ist indes eben kein glükliches Zeichen, wenn ein Kind nur durch Geschrei und Weinen das, was es liebt oder haßt, andeutet. Und diese Zeit, die doch wenigstens drei ganze Jahre beträgt, ist immer schon ein ansehnlicher Theil des Lebens, der einen wichtigen Einfluß auf nachmalige gute oder schlechte Aufführung hat.
Klin. Ja gewis.
Athen. Glaubt ihr nicht, daß ein mürrischer und durchaus verdrüßlicher Mensch auch zugleich klagsüchter ist, als sich’s für einen guten Menschen schikt?
Klin. Ich wenigstens glaub’s
Athen. Was meint ihr? wenn wir nun unsern Zögling die ersten drei Jahre hindurch auf alle ersinnliche Art, so sehr als möglich von Schmerz und Furcht und Verdruß entfernt hielten; glaubt ihr nicht, daß wir alsdann seinen Karakter heitrer und gefälliger machen würden?
Klin. Offenbar; und besonders, wenn man ihm recht viel sinnliches Vergnügen verschaffte.
Athen. Darin, bester Klinias, kann ich deiner Meinung nicht sein. Eine solche Behandlungsart, besonders gleich im Anfange der Erziehung, ist der größte Verderb. Laß sehn, ob ich Recht habe.
Klin. Sprich. Wie meinst du das?
Athen. Mich dünkt, wir reden itzt von einer sehr wichtigen Sache. Auch du, Megillus, denk | [S. 25] einmal darüber nach und sei Schiedsrichter zwischen uns. Ich denke so. Ein Mensch, der ein glükliches Leben haben will, muß weder zu sehr nach Vergnügen rennen, noch zu sehr vor dem Schmerz fliehen, sondern sich so die Mittelstraße wählen, die ruhige zufriedne Gemüthsart, nehmlich, von der ich vorher redete[8]. Diesen Zustand legen wir, den Orakeln zufolge, der Gottheit mit Recht bei. Jeder nun, der der Gottheit in etwas ähnlich werden will, muß ebendahin streben. Er muß also weder selbst zu gierig nach Vergnügen haschen, zumal da er doch nie völlig schmerzlos werden kann, noch es irgend einem andern, er sei alt oder jung, Mann oder Weib, zulaßen, am wenigsten ebengebornen Kindern. Denn grade dann wächst durch die Gewöhnung jede Neigung am festesten ein. Wenn ich Euch nicht etwa blos zu spaßen scheinen dürfte, so würd’ ich sagen, man müsse besonders eine schwangere Frau das Jahr hindurch sorgfältig einestheils vor übermäßigem und unvernünftigem Vergnügen, aber auch auf der andern Seite vor dergleichen Verdruß bewahren – man müßte dafür sorgen, daß sie die ganze Zeit über in einem ruhigen stillen Gemüthszustande lebte.
Klin. Du brauchst nun nicht erst den Megillus zu fragen, wer von uns beiden Recht hat. Ich gebe dir itzt von selbst gern zu, daß jeder Mensch ein Leben voll lauter Vergnügen oder Schmerz fliehn, und lieber beständig einen gewissen Mittelweg betreten müsse. Du hast deine Meinung sehr | [S. 26] gut bewiesen, aber du wirst auch mit meinem Geständnisse zufrieden seyn. – – –
Athen. Wenn man diese Regeln bis zum dritten Jahr eines Kindes, es sei Knab’ oder Mädchen, genau und nicht etwa nur so obenhin beobachtet, so wird das für den jungen Zögling[9] von ungemein großem Nutzen sein. Aber Kinder von drei, vier, fünf, sechs Jahren haben schon allerlei Spiele[10] nöthig. Doch alle Zärtelei muß nun völlig aufhören; man muß sie strafen, aber nie so, daß man ihre Ehrliebe dabei kränkt. Was wir in Absicht auf die Sklaven gesagt haben, man müsse sie nicht auf eine beschimpfende Weise strafen, um sie nicht in Wuth zu bringen, aber man müsse sie auch nicht ungestraft laßen, weil die sonst leicht übermüthig werden dürften – eben das gilt auch hier von freigebornen jungen Leuten. Es giebt gewisse Spiele, zu denen Kinder dieses Alters recht eigentlich von Natur geneigt sind, und auf die sie daher, sobald sie zusammenkommen, von selbst fallen. Man sollte darum alle Kinder von drei bis sechs Jahren in den heiligen Oertern jedes Stadtviertels zusammenbringen. Die Wärterinnen müssen dabei seyn, um auf Ordnung zu sehen, und den Muthwillen der Kleinen im Zaum zu halten. Ueber die Wärterinnen selbst und über den ganzen Schwarm muß | [S. 27] jedesmal eine von den zwölf Frauen die Aufsicht haben, die das Jahr durch über alle von der Obrigkeit in Ansehung dieser Sachen gemachte Einrichtungen zu wachen haben[11]. Sie werden von den Heirathsvorsteherinnen erwält, aus jeder Zunft eine, und sie müssen mit diesen in gleichem Alter seyn. Jede nun hiezu angesetzte Frau muß ihr Amt auf die Art verwalten, daß sie alle Tage den heiligen Ort, wo die Kinder versammlet sind, besucht, und jeden, der was versieht, bestraft. Ist’s ein Sklave oder eine Sklavin, ein fremder Mann oder Frau – so kann sie selber es durch eine Art von Stadtdiener verrichten laßen. Ist’s ein Bürger; der sich der Bestrafung widersetzt, so belange sie ihn bey dem Stadtvorsteher. Widersetzt er sich nicht, so kann sie auch ihn ohne Umstände bestrafen. Nach dem 6ten Jahre müssen die Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts von einander abgesondert werden, und nun muß Knabe nur mit Knabe, Mädchen mit Mädchen umgehen[12]. Beide | [S. 28] müssen von itzt an zum eigentlichen Lernen angehalten werden. Die Knaben werden zu den Lehrern der Reitkunst, des Bogenschießens, des Lanzenwurfs, der Schleuderkunst geschikt, und allenfalls, wenn man’s verstatten will, auch die Mädchen, wär’s auch nur, um’s doch gelernt zu haben. Vornehmlich müssen die jungen Leute geübt werden, mit den schweren Waffen umzugehn: zumal da hiebei heutzutage ein Mißbrauch und Vorurtheil herrscht, an das kein Mensch denkt.
Klin. Was für eins?
Athen. Daß man sich einbildet, die Natur hab in Ansehung der Hände und deren Verrichtungen einen Unterschied zwischen der rechten und linken gemacht. In Absicht auf die Füße und den untern Theil des Leibes überhaupt macht man im Gebrauche keinen Unterschied. Aber an den Händen werden wir durch Unverstand unserer Wärterinnen | [S. 29] und Mütter gewissermaßen gelähmt. Nach der Natur haben die Glieder auf beiden Seiten so ziemlich gleiche Kraft, aber wir selbst haben durch Mißbrauch und üble Gewöhnung einen Unterschied zwischen ihnen eingeführt. Zu manchen Dingen kommt freilich wenig darauf an. Meinethalben mag man immerhin die Laute in der linken, das Plektrum in der rechten Hand halten. Es ist wenig dran gelegen. So auch bey andern dergleichen Sachen. Aber auf diese Exempel sich stützen, und es bei andern Dingen, wo es nicht mehr gleichgültig ist, eben so machen – ist beynah unsinnig gehandelt. Die Gewohnheit der Scythen könnte uns hier zum Muster dienen. Sie halten nicht bloß mit der Linken den Bogen vom Leib ab, und ziehn nicht bloß mit der Rechte Senne und Pfeil an sich, sondern sie gebrauchen beide Hände ohne Unterschied zu dem einen wie zu dem andern. Doch es giebt solcher Exempel die Menge, bei den Fuhrleuten und andern. Sie können uns wenigstens lehren, daß es widernatürlich gehandelt ist, die linke Hand schwächer als die rechte zu machen. Beim hörnernen Fidelbogen und andern dergleichen Instrumenten kommt freilich, wie gesagt, nichts drauf an; aber sehr viel, wenn man im Kriege Schwerdt und Bogen und Spieß, und was weiter dahin gehört, gebrauchen soll, vornemlich, wenn man schwergerüstet gegen einander fechten muß. Da zeigt sich dann ein großer Unterschied zwischen dem geübten und ungeübten. Denn sogut, wie ein Athlet, der sich im Pankratium, oder im Faustkampf, | [S. 30] oder im Ringen gut geübt hat, im Stand ist, auch links zu kämpfen, und nicht gleich gelähmt ist, oder hinstolpert, wenn sein Gegner den Angrif verändert, und ihn nöthigt, seine Kraft auf die andre Seite hinzurichten: eben so gut, dünkt mich, könnte man dis auch beim Gebrauch der Waffen und bei allen andern Verrichtungen verlangen. In der That, da der Mensch zwei gesunde Arme bekommen, beides zur Vertheidigung und zum Angrif, so muß er auch soviel als möglich keinen davon unthätig und ungeübt laßen. Und hätte jemand den Körper eines Geryons, oder eines Briareus, so müßt’ er mit hundert Händen hundert Geschoße zu werfen im Stande sein. Für dis alles müssen die Vorsteherinnen und Vorsteher der Erziehung Sorge tragen, jene hauptsächlich in Ansehung der Spiele und der Nahrung; diese in Ansehung der eigentlichen Uebungen, damit keiner, er sei Mann oder Weib, der an Händen und Füßen ganz und unverstümmelt auf die Welt gekommen, durch Verwöhnungen die Naturbeschaffenheit seines Körpers verschlechtere[13]. – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – | [S. 31]
Athen. Nun noch etwas von den Geschenken Apollo’s und der Musen! Gewährt mir nur wie vorher Eure Aufmerksamkeit: wiewol bei jeder ungewöhnlichn paradoxen Meinung beides, der redende und der hörende in einige Verlegenheit | [S. 32] kommen muß, und grade in dem Fall befinden wir uns jetzt. Denn ich werde Euch eine Hypothese vortragen, mit der ich vielleicht mehr zurükhalten sollte. Doch ich will Muth fassen und nicht gleich davon abspringen.
Megill. Und was wäre das für eine Hypothese?
Athen. Ich behaupte, daß in jedem Staat es auf die Form der daselbst gebräuchlichen Spiele ankommt, ob die Gesetze von Dauer sein sollen oder nicht. Denn wenn darüber eine gewisse Regel festgesetzt ist, und einerlei Menschen sich in einerlei Rücksicht auch nur immer auf einerlei Art und mit denselben Spielen ergötzen, so werden dadurch auch die wichtigern ernstern Gesetze in Ruh und Sicherheit erhalten. Aber wenn die Ergötzlichkeiten hin und her schwanken, und immer was neuer aufgebracht wird, wenn junge Leute nicht eine und dieselbe Sache zu aller Zeit angenehm finden, und die Idee vom anständigen und unanständigen im äußern Anzug oder im Hausgeräth sich alle Augenblicke ändert, wenn wol gar derjenige, der in Trachten und Farben und andern dergleichen Dingen neue Moden ersinnt, vorzüglich geachtet wird – ja so kann man wol mit allem Fug und Recht behaupten, daß dis für einen Staat so schädlich als irgend etwas sei. Unvermerkt werden die Sitten der jungen Leute umgeschmolzen, alles Alte ekelt ihnen an, und nur das Neue ist ihnen willkommen. Ich wiederhol’ es, dergleichen Grundsätze sind für einen Staat äußerst | [S. 33] nachtheilig. O merkt es Euch ja, was für ein großes Uebel das in meinen Augen ist.
Klin. Nehmlich die Verachtung der alten Sitten und Gebräuche?
Athen. Eben diese.
Klin. Fahre nur fort. Du sollst an uns aufmerksame und günstige Zuhörer finden.
Athen. Die Sache verdient’s auch.
Klin. Rede denn.
Athen. Wolan, laßt uns bei unserm Räsonnement mehr als jemals alle unsre Gedanken beisammen haben. Veränderung ist in allen Dingen – das Böse allein ausgenommen – in den Jahrszeiten, in der Witterung, in der Diät, in dem moralischen Karakter immer und ohne Einschränkung nachtheilig. Man nehme z. E. den Körper. Hat sich dieser erst an eine gewiße Speise oder Getränk gewöhnt, wenn’s ihn gleich anfänglich Mühe kostete, so setzt sich dadurch ein dieser Nahrung homogenes Fleisch bei ihm an, und die immer mehr verstärkte Gewöhnung erhält den Menschen heiter und gesund. Aber wenn er sich genöthigt sieht, seine nun einmal angenommne Lebensordnung zu ändern, so sind erschütternde Krankheiten die Folge davon, von denen er sich nur mit Mühe erholt, eh er sich wieder zu der neuen Lebensart gewöhnt. Eben das geschieht nun auch in Ansehung des Verstandes und des moralischen Karakters der Menschen. Denn wenn die Gesetze, in denen sie erzogen sind, eine lange Zeit, durch eine würkliche Wolthat der Götter, unerschüttert bleiben, so daß niemand sich erinnert | [S. 34] oder zu hören bekommt, daß es jemals anders gewesen sei, so hat man eine gewisse Ehrfurcht für sie, und jedermann scheut sich, in der einmal festgesetzten Einrichtung Aenderungen vorzunehmen. Der Gesetzgeber muß also auf alle mögliche Mittel sinnen, um dis in seinem Staat zu erhalten. Mein Vorschlag ist dieser. Man glaubt gemeiniglich, wie ich auch schon vorher gesagt habe, daß Veränderung in den Spielen der jungen Leute im Grunde auch weiter nichts als Spielwerk sei, ohne eben sonderliche ernsthafte schädliche Folgen zu haben. Daher läßt man ihnen darin freie Hand, und giebt ihren Kaprizen gutwillig nach. Man bedenkt aber nicht, daß junge Leute, die mit ihren Spielen und Vergnügungen immer allerlei Veränderungen vornehmen, ganz andre Männer werden, als die Kinder der Vorwelt wurden, und daß sie nun eine ganz neue Lebensart verlangen, sodaß in ihnen die Begierde nach neuen Einrichtungen und Gesetzen aufsteigt. Doch das beschriebne große Uebel, das daraus für den Staat entsteht, läßt sich kein Mensch kümmern. Veränderungen in andern kleinern Dingen, z. E. in Kleidermoden, richten freilich nur geringen Schaden an. Aber häufige Veränderungen in Dingen, die Einfluß auf die Sitten haben, in Gegenständen des Lobs oder Tadels, sind von der äußersten Wichtigkeit, und wir müssen, um sie zu verhüten, uns keine Sorgfalt verdrießen laßen.
Klin. Das ist gewis.
Der Athener wendet nun sein
bisheriges Räsonnement auf Musik und Tanzkunst an. In beiden müssen, |
[S. 35]
wenn die Gesetzkraft nicht kränkeln soll, ein für allemal gewisse
Regeln
festgesetzt werden, von denen man nicht weiter abweichen darf. Doch der
Detail
dieser Untersuchung ist für unsre Zeiten und Verfassungen zu wenig
interessant.
Athen. Weiter denn! Die Gebäude zu den gemeinschaftlichen gymnastischen Uebungen und Unterweisungen müssen an drei verschiedenen Orten mitten in der Stadt aufgeführt sein. Außerhalb der Stadt sei ebenfalls an drei Orten eine Reitbahn, und ein weiter freier Platz, wo die jungen Leute Anweisung und Uebung im Pfeilschießen und Speerwurf bekommen. Dazu halten wir mit einem ansehnlichen Gehalt Lehrer, die wir aber nicht erst aus der Fremde verschreiben[14], und die dann die jungen Leute in den genannten Vorübungen zum Kriege und in der Musik unterrichten müssen. Es muß aber durchaus nicht auf den Vater ankommen, ob er seinen Sohn dahin schikken will oder nicht; sondern wie gesagt, alle Jünglinge und Knaben, weil sie nicht ihren Eltern, sondern dem Vaterlande zugehören, müssen an diesem Unterrichte Theil nehmen. Ich mögte aber wol mein Gesetz nicht bloß auf das männliche Geschlecht einschränken, sondern es auch auf das weibliche ausdehnen, sodaß die Mädchen auf gleiche Art geübt werden müßten. Ich fürchte mich dabei nicht im geringsten vor dem Einwurf, als schikten sich ritterliche und gymnastische Uebungen zwar für Männer, aber nicht für | [S. 36] Weiber. Verschiedene Vorfälle in der alten Geschichte überzeugen mich vom Gegentheil. Ja noch itzt wohnen um den Pontus herum viele tausend Weiber – ich meine die Sauromatinnen – die sich nach Landessitte eben so gut wie die Mannspersonen nicht bloß im Reiten, sondern auch im Bogenschießen, und im Gebrauch aller andern Arten von Waffen üben. Ich ziehe daraus die Folge: wenn das überhaupt angeht, so ist’s ja bei uns zu Lande eine würklich unsinnige Einrichtung, daß nicht Männer und Weiber, beide mit gleichem Eifer einerlei Uebungen treiben. Denn so hat ein Staat bei einerlei Abgaben und Arbeiten doch nur die Hälfte der Macht, die er haben könnte. In der That, dis ist doch ein gewaltiger Fehler unsrer Gesetzgeber.
Klin. So scheint’s. Doch, Freund, wir machen da eine Menge Einrichtungen, die den itzigen Verfassungen schnurstraks zuwider sind.
Athen. Aber laß uns doch nur erst unsre Vorschläge zu Ende bringen. Nachher haben wir noch immer Zeit genug, das Beste auszusuchen.
Klin. Ich verdiene deinen Verweis, und ich bin selbst meines Einwurfs wegen böse auf mich. Fahr also nur fort, deine Meinung frei heraus zu sagen.
Athen. Ich bleibe bei meiner Idee. Redeten nicht unleugbare Fakta für die Möglichkeit der Sache, so ließen sich freilich gegründete Einwürfe dagegen machen. Nun aber mag sich, wer mit meinem Gesetze nicht zufrieden ist, nur nach andern Gegengründen umsehen. Doch, was man | [S. 37] auch sagen mag, ich werde, kann niemals aufhören zu behaupten, daß das weibliche Geschlecht in allen Stükken gleiche Erziehung mit dem männlichen haben müsse. Ich denke, wir räsonniren über die Sache am besten so. Nicht wahr, wenn das weibliche Geschlecht nichts mit dem männlichen gemein haben soll, so müssen wir ihm eine andre verschiedne Lebensordnung vorzeichnen?
Klin. Unstreitig.
Athen. Aber wo ist unter den mancherlei hie und da üblichen Lebensarten eine, die wir der hier von uns den Weibern vorgeschriebnen Theilnehmung an allen Arbeiten der Männer vorziehen könnten? Sollen wir’s wie die Thrazier und viele andre Völker machen, die ihre Weiber den Akker bestellen, das Vieh hüten und sie überhaupt völlig wie Sklaven arbeiten lassen? Oder sollen wir die Athener und die benachbarten Staaten hierin zu unserm Muster nehmen? Bei uns hält man’s in Absicht auf den Punkt so. Wir schleppen, so zu reden, unsre Frauenzimmer in eine Stube zusammen, und lassen sie mit dem Gelde zu Hause wirthschaften, und über Weberspul und Spinnrad gebieten. Oder, Megillus, sollen wir auf gut Spartanisch die Mittelstraße halten? daß nehmlich zwar die Mädchen Theil nehmen an den gymnastischen und musikalischen Uebungen; die Frauen hingegen, obgleich frei vom Wollspinnen, ein mehr arbeitendes Leben führen, ohne daß ihnen doch niedrige und verächtliche Arbeiten zugemuthet werden? daß die häuslichen | [S. 38] Geschäfte, die Wirthschaft und die Erziehung der Kinder ihnen mit den Männern gemein sind; daß sie hingegen von allen Kriegsübungen völlig ausgeschlossen werden? so daß, wenn sie einmal eine dringende Noth auffordert, für Stadt und Kinder zu fechten, sie nicht im Stande sind, weder den Bogen nach Art der Amazonen geschikt zu führen, noch nach dem Beispiel Minervens Schild und Lanze zu ergreifen, um den Verwüstern ihres Vaterlands in förmlicher Schlachtordnung muthig entgegen zu rükken, und ihnen, wo nichts weiter, doch wenigstens Furcht einzujagen. Noch weniger würden sie’s bei einer solchen Lebensart den Sauromatinnen gleichthun können. Diese müssen mit ihnen verglichen Männer scheinen[15]. Lob’ in dem Punkt Eure Gesetzgeber, wer Lust hat. Ich werde mich nie dazu entschließen können. Der Gesetzgeber muß nicht bloß halber Gesetzgeber sein, er muß es ganz sein. Wahrlich, wenn er für die Frauenzimmer durchaus gar keinen Plan über die Einrichtung ihres Lebens entwirft, sondern sie im Schooße der Weichlichkeit und des Müßiggangs ihre Zeit hinschwelgen und hinbrüten läßt, und seine ganze Sorgfalt nur auf das männliche Geschlecht richtet – so macht er seinen Staat nur halb glücklich, da er’s ganz könnte[16]. | [S. 39]
Megillus. Sage mir Klinias, was sollen wir mit dem Fremdling machen? Wollen wir’s | [S. 40] so ganz ruhig mit ansehen, wie er gegen Sparta zu Felde zieht?
Klin. Wir müssen wol. Wir haben ihm einmal Erlaubniß gegeben, frei heraus zu reden. Also müssen wir ihn schon lassen, bis wir mit den Gesetzen am Ende sind.
Megillus. Du hast Recht.
Athen. Es ist ferner unumgänglich nothwendig, daß alle freie Leute sich eine gehörige Vertheilung ihrer Zeit machen, von einem Sonnenaufgang bis zu dem andern. Der Gesetzgeber kann sich freilich nicht auf alle diese zum Theil so kleine und so häufig vorkommende Dinge in Ansehung der häuslichen Einrichtung einlassen, besonders auch, was das Nachtwachen betrift, eine Sache, deren der sorgsame Staatsmann schwerlich überhoben sein kann. Denn jedesmal die ganze Nacht nichts thun als schlafen, und nicht zum Muster aller seiner Hausgenossen der erste aus dem Bette zu sein, ist eine Sache, die, wir mögen übrigens sein, was und wer wir wollen, einem jeden schimpflich und eines freien Manns unwürdig scheinen muß, man nenne dis nun Gesetz oder Gebrauch. Eben so, wenn die Frau im Hause sich von den Mägden muß wekken lassen, statt daß sie diese wekken sollte, so macht sie sich dadurch bei Knecht und Magd und Kindern, kurz im ganzen Hause verächtlich. Sobald man aber des Nachts aufgestanden, muß jeder an seine Arbeit gehn, der Staatsmann an die öffentlichen, der Hausherr und die Hausfrau an ihre häuslichen Geschäfte. | [S. 41] Denn zuviel Schlaf ist weder für Körper noch Seele, noch für die Arbeit zuträglich. Alle verschlafene Zeit ist verloren, so gut als wenn man überall nicht lebte. Wem Gesundheit und Aufgelegtheit des Geistes etwas werth ist, der wacht so lang er kann, und schläft nur soviel, als seine Gesundheit verlangt. Aber was diese verlangt, ist wenig, wenn man sich nemlich nur einmal erst gut gewöhnt hat. Ein Regent, der auch bei Nacht wacht, ist dem Feinde nicht minder als dem Bösewicht in seinem Staat furchtbar, aber dafür auch jedem biederherzigen Mann um so werther. Er selbst und der Staat empfinden die guten Folgen einer solchen Lebensart. Ueberdis giebt eine so durchlebte Nacht der Seele eine gewisse Kraft und Festigkeit.
Sobald der Tag anbricht, müssen die Kinder zu den Lehrern hingeschickt werden. Eine Heerde Schaafe oder ander Vieh braucht einen Hirten, Sklaven einen Herrn; eben so Kinder einen Pädagogen, zumal da ein Kind das unlenksamste Geschöpf unter der Sonne ist. Und zwar pflegt es um desto verschmitzter, heftiger und widersetzlicher zu sein, da es einen noch nicht zur Reife gekommenen Keim von Vernunft in sich hat. Daher muß man es mit mehr als einem Zügel festzuhalten suchen. Zuförderst sobald es von Mutter und Amme getrennt wird, durch Pädagogen, zur Lenkung des kindischen Muthwillens; sodann durch allerlei Lehrer und seinem Stande angemeßne Studien. – – – | [S. 42]
Dieser wissenschaftliche Unterricht fängt mit dem zehnten Jahre an, und dauret drei Jahr. Mit dem dreizehnten Jahr muß der musikalische Unterricht auf der Lyra angehn und ebenfalls drei Jahr dauren, weder mehr noch weniger, ohne daß der Vater oder des jungen Menschen eigne Neigung oder Abneigung diese Zeit dem Gesetze zuwider verlängern oder verkürzen darf. Aber was sollen die Kinder in der Zeit eigentlich lernen? Vor allen Dingen freilich Lesen und Schreiben. Doch braucht man dabei nicht gleich eben auf Hurtigkeit und Schönheit zu dringen, falls nicht die natürliche Anlage dazu sich von selbst schneller entwikkelt. Was nun aber die unkomponirten metrischen und unmetrischen Schriften der Dichter, wie auch so manche prosaische anlangt, unter denen es nicht wenige verführerische giebt – was für einen Gebrauch, o ihr Wächter des Staats, denkt ihr davon zu machen? oder wie soll sich der Gesetzgeber dabei nehmen, um über den Gebrauch derselben vernünftige Vorschriften zu geben? Ich denke immer, er wird dabei sehr in Verlegenheit kommen. Wir haben hexametrische und jambische, ernsthafte und scherzhafte Dichter. Es giebt eine Menge Leute, die sich einbilden, man müsse mit solchen Dingen bei einer guten Erziehung den Geist der Kinder nähren und sättigen, so daß sie recht viel davon vorlesen hören, und vieles, ja ganze Dichter auswendig lernen müssen. Andre haben Auszüge gemacht, und ganze Tiraden zusammengesammlet. Diese, meinen sie, müßte man den | [S. 43] jungen Leuten ins Gedächtnis drükken, um sie dadurch zu weisen und guten Menschen zu bilden. Im allgemeinen mein Urtheil darüber zu sagen, so denk ich ohne großen Widerspruch behaupten zu dürfen, daß in allen diesen Dichtern manches Gute gesagt ist, sicherlich aber auch viel Schädliches. So aber mögte wol ein zu fleißiges Studium derselben allerlei Gefahr mit sich führen. – Ueberhaupt aber muß es bei der Erziehung eine allgemeine Regel sein, den Kindern allen Unterricht so leicht, als immer möglich, zu machen. Denn es sind der Dinge, die sie lernen müssen, so sehr viele, und doch zum Theil so wichtige. –
Ueber die Gymnastik haben wir schon verschiedne Anordnungen gemacht. Ich rechne aber dahin auch alle zum Kriege abzwekkende Uebungen, als im Bogenschießen, Spießwerfen, in der Peltastik, Hoplomachie, in den mannigfaltigen Schwenkungen eines Heers, in Märschen, im Lagerabstechen, und endlich alle Uebungen zu Pferde. In allen diesen Dingen müssen öffentliche, vom Staat besoldete Lehrer angesetzt werden. Und von diesen müssen sich Knaben und Männer, Mädchen und Weiber unterrichten lassen. Die Mädchen werden in allerlei Tänzen und Kämpfen mit schwerer Rüstung geübt. Die Weiber hingegen lernen die verschiednen Schwenkungen und Stellungen einer Armee, und die Art und Weise, mit dem Gewehr zu manövriren. Wenn’s auch keinen weitern Nutzen hätte, so ist’s doch schon darum gut, daß wenn einmal die ganze Kriegsmacht zu einem | [S. 44] auswärtigen Kriege zieht, doch Leute da sind, die Stadt und Kinder beschützen können. Oder wenn der Fall käme (denn wer steht uns dafür,) daß auswärtige Feinde, Barbaren oder Griechen uns mit ihrer ganzen Macht anfielen, und uns um die Ringmauern unsrer Stadt[17] zu fechten zwängen, so wär’s doch wahre Schande für unsere Staatsverfassung, wenn unsre Weiber so schändlich wären erzogen worden, daß sie nicht, wie manche Vögel für ihre Jungen auch gegen das stärkste Raubthier streiten, ebenfalls sterben und jeder Gefahr trotzen wollten, sondern dafür lieber zu Tempeln und Altären ihre Zuflucht nähmen, und dadurch bewiesen, daß der Mensch unter allen Thieren das feigste Geschöpf sei.
Klin. Beim Zeus, das würde unserm Staat schändlich und schädlich zugleich sein.
Athen. So wollen wir denn die Anordnung machen, daß auch die Weiber nicht die Kriegsübungen vernachläßigen dürfen, sondern beide, Bürger und Bürgerinnen sich darum bekümmern müssen.
Klin. Ich bin’s sehr zufrieden. – – –
Athen. Was meint ihr, wenn die ernsthaften Tragödienschreiber zu uns kämen und uns fragten: dürfen wir in Eure Gegend und Stadt kommen, oder nicht? Sollen wir unsre Stükke bei Euch | [S. 45] aufführen? Oder wie seid ihr desfalls gesinnt? – Was würden wir den göttlichen Männern am schiklichsten antworten? Mich dünkt, ohngefähr dis. Theureste Fremdlinge, wir sind selbst theatralische Dichter, und zwar von dem schönsten und herrlichsten Drama. Unsre Staatsverfassung ist Nachbildung des schönsten und vollkommensten Lebens. Und eben das dünkt uns das wahrste Drama. Ihr seid Dichter, wir auch; wir haben einerlei Gegenstand, und wir wetteifern mit Euch, das schönste Drama vorzustellen. Richtige Gesetzgebung nur ist im Stande, diesen Zwek zu erreichen, und wir hoffen, daß auch unsre ihn erreichen soll. Glaubt also ja nicht, daß wir Euch ohne weitre Umstände erlauben werden, Euer Theater bei uns auf dem Markt aufzuschlagen, und Aktörs in die Stadt zu bringen, deren schöne Stimme durchdringender ist als die unsre; glaubt nicht, daß wir zugeben werden, daß ihr auf die Art unsern Kindern und Weibern, und dem ganzen Volke über Sitten und Gewohnheiten Grundsätze vorpredigt, die nicht mit den unsrigen harmoniren, sondern ihnen wol gar gradezu widersprechen. Wir und die ganze Stadt müßten ja rasen, wenn wir Euch eine solche Erlaubniß gäben, ohne vorher Eure Stükke zu prüfen, ob sie gemeinnützigen Inhalts wären oder nicht. Also, ihr Söhne der holden Musen, müßt Ihr Euch schon gefallen lassen, Eure Gedichte vorher der Obrigkeit zu zeigen, um sie mit unsern zu vergleichen. Und ist ihr Inhalt mit diesen gleichstimmig, oder gar noch besser, wol! so geben wir | [S. 46] Euch gern und willig Erlaubnis, Eure Stükke bei uns zu spielen. Wo nicht, so mögt’ es schwerlich angehen. – –
Noch sind für junge Leute von freier Geburt drei Wissenschaften übrig; die Arithmetik, die Geometrie und die Astronomie. Eine ganz genaue Kenntnis derselben ist nur wenigen unumgänglich nöthig. Der übrige Haufe braucht nur die eigentlich nothwendigen und ausgemachten Wahrheiten davon. Aber diese auch nicht zu wissen, wäre äusserst schändlich. Und wenn gleich völlige Genauigkeit und Gründlichkeit darin weder leicht, noch durchgängig möglich ist, so kann und darf man doch die ersten unentbehrlichen Grundsätze davon unmöglich aus der Acht lassen. – Alles dis müssen also unsre freigeborne junge Leute studieren, so wie sie’s in Egypten gleich mit den ersten Elementarkenntnissen lernen. Was das Rechnen betrift, so hat man allerlei Methoden ersonnen, durch die sie’s auf eine angenehme Art spielweise lernen, indem sie z.E. Obst oder Kränze unter mehr oder weniger verhältnißmäßig theilen, oder sich bei ihren Kampf- und Ringübungen bald in diese, bald in jene Ordnung stellen, wobei immer einer nach dem andern in der Reihe und nach dem Alter den Vorsitz hat; oder in dem sie ihre kleinen goldnen, silbernen oder ehernen Schalen oder andre dergleichen Dinge sich in einer gewissen Ordnung zulangen, die sie nöthigt, von ihren arithmetischen Kenntnissen die Anwendung auf das Spiel zu machen. Dis wird nachher vielfachen Nutzen für den Lehrling haben, zur Abstekkung | [S. 47] eines Lagers, zur Führung und Stellung einer Armee, vornehmlich zu besserer Einrichtung der häuslichen Wirthschaft. Sie werden sich selbst nützlicher und überhaupt achtsamer werden. Ueberdis wird es sie von der lächerlichen und schändlichen Unwissenheit befreien, in der sich itzt soviele Menschen in Absicht auf Ausmessung der Längen, Breiten und Tiefen befinden. – Es sind das alles Dinge, deren Kenntnis, weil sie durchaus nothwendig ist, eben nicht Ruhm bringt, deren Nichtkenntnis aber desto schändlicher ist.
Noch ein kurzes
pädagogisches Räsonnement
aus Platons erstem
Buch von den Gesetzen.
Ich behaupte, daß jeder, der in irgend einem Fach einmal ein großer Mann werden will, sich in den dazu gehörigen Geschäften von der frühesten Kindheit an sowol in den Stunden des Spiels als des Ernstes üben muß. Man nehme z. B. den künftigen geschikten Oekonomen, oder Baumeister. Dieser muß sich schon als Kind im Spiel damit abgeben, Häuserchen zu bauen; jener, zu akkern. Der Erzieher muß daher beiden kleine Modelle, von den eigentlichen würklichen Werkzeugen anschaffen, und sie müssen sich überhaupt alle zu ihrem künftigen Metier nöthige Vorkenntnisse erwerben. Der | [S. 48] künftige Architekt muß Messen und Richten lernen, der Kriegsmann reiten oder sonst was. Alles nur als Spiel. Und so muß man durch diese Spiele die Neigungen der Kinder zu den Kenntnissen hinzulenken suchen, worin sie’s einmal künftig zur Vollkommenheit bringen sollen. Eine solche vernünftige Lenkung[18], durch die das Kind im Spiel dahin geleitet wird, die Geschäfte, in denen es sich dereinst als Mann Verdienste erwerben soll, liebzugewinnen, eine solche Lenkung, sag’ ich, seh ich als das haupsächlichste Erfordernis der Erziehung an.
[S.
49]
Quinktilians
Gedanken über die Erziehung.
(Aus dem ersten Buche seiner Anweisung zur Beredsamkeit.)
Vorerinnerung.
Wider meinen Willen muß ich gestehen, das hier von mir übersetzte Räsonnement des Quinktilian ist in den mehresten Punkten gründlicher, treffender und wahrer, als das vom Platon. Der Grund ist leicht zu finden. Quinktilian war selbst Erzieher; Platon bloßer Erziehungstheoretiker. Denn seine Zuhörer in der Akademie waren schon erwachsene, gebildete Männer. Diese Bemerkung ist auf manche neuere pädagogische Schriftsteller anwendbar. Man vergleiche nur z. E. Rousseau und Basedow. Beide entfernen sich weit von dem gewöhnlichen Wege; aber, das wenigste zu sagen, Rousseau weicht ungleich öfter vom Wege der Wahrheit und Natur ab als Basedow. Das macht, dieser war und ist Erzieher; jener, soviel ich weiß, (vielleicht irre ich mich) bloß Erziehungstheoretiker. – Zwar kann ich nicht in alle Meinungen und Regeln des römischen Erziehers einstimmen. Aber nirgends ist auch weniger allgemeine Uebereinstimmung zu erwarten, als in der Pädagogik; eben so wenig und aus eben den Gründen, wie in der Arzneiwissenschaft, weil die Grundsätze und Regeln von beiden nur selten allgemein zutreffend sind, sondern gar zu leicht an irgend | [S. 50] einem Individuum eine Ausnahme finden. Man muß sich daher nicht wundern, wenn man in meinen angehängten Aufsätzen manche ziemlich unquinktilianische Grundsätze, auch hie und da bei der Uebersetzung eine Gegenanmerkung findet. – Noch ein Wort von meiner Uebersetzung dieses Abschnitts. Sie war völlig fertig, als es mir erst einfiel, nachzusehen, ob Herr Professor Henke in seiner Uebersetzung des Rollinschen Auszuges aus dem Quinktilian auch diesen Abschnitt hätte. Ich fand, daß er wenigstens einen Theil davon hätte. Ich verglich und sah, daß wir viele Stellen sehr verschieden erkläret, aber noch öfter sehr verschieden übersetzt hatten. Mich wunderte dis nicht. Bei einem Autor, wie Quinktilian, der so ganz seine eigenthümliche Schreibart hat, und bei dem nicht wenige, von seinen bisherigen Kommentatoren übersehne und ungehobne Schwierigkeiten vorkommen, war das wol nicht anders möglich. Wer von uns beiden den Sinn am besten getroffen und ausgedrukt – das muß ein dritter entscheiden. Ich selbst kann nicht, darf nicht darüber urtheilen – denn es wäre die lächerlichste Ziererei von der Welt, zu sagen: meine Uebersetzung ist schlechter, und sie dennoch drukken zu lassen -. Aber das wenigstens kann ich mit Wahrheit behaupten, daß die Anmerkungen an einigen Stellen, wo unsre Uebersetzungen zu auffallend von einander abweichen, nichts weniger als Nekkerei oder den Vorsatz zur Absicht haben, meines gelehrten Vorgängers Verdienst zu verkleinern, zumal da ich ohne Schmeichelei gestehen kann und muß, daß der dritte Theil dieser Uebersetzung, der 1777 herausgekommen, (der erste erschien schon 1775) sehr gut gerathen, so daß selbst ein scharfsichtigerer und intereßirterer | [S. 51] Beurtheiler als ich, weniger als an dem ersten zu tadeln finden würde. Ich weiß auch sehr gut, wie leicht selbst der gelehrteste Mann sich zuweilen bei einer leichten Stelle kann irre führen lassen, eben darum, weil er die Stelle für weniger leicht hielt, als sie ist. Ja, ich bin sehr überzeugt, daß Kenner auch in meinen Uebersetzungen viel, sehr viel zu tadeln finden werden, und es soll mich gar nicht verdrießen, wenn sie’s mit freundlichem Gesicht und ohne Erbitterung frei heraussagen. Ich tröste mich alsdann damit, daß ich noch keine Uebersetzung eines alten Autors gesehn habe, gegen die sich nicht hie und da etwas und oft mit Grunde einwenden ließe, und daß wol schwerlich jemals eine ganz fehlerlose Uebersetzung erscheinen dürfte. Meine Absicht bei den Paar Anmerkungen war bloß, meinen Vorgänger auf einen oder den andern Flek, auf den ich im Vorbeigehn stieß, und ihn für Flek hielt – vielleicht war er’s nicht – aufmerksam zu machen, um ihn, wenn es einmal zu einer zweiten Auflage käme, wegzuwischen. Denn das Buch ist würklich als Anweisung zur Beredsamkeit zu gut auf Schulen zu gebrauchen, als daß man nicht eine zweite Auflage wünschen sollte, und erwarten könnte. – Doch es ist Zeit, daß ich meinen Quinktilian selbst reden lasse.
(1) Ein Vater muß gleich bei der Geburt seines Sohnes die möglichstbeste Hofnung von ihm fassen[19]. Dis wird ihn von Anfang an um desto | [S. 52] sorgsamer machen. Denn es ist eine nichtige Klage, daß nur sehr wenige mit Fähigkeit, den Unterricht zu fassen, auf die Welt kämen, die meisten hingegen Mühe und Zeit durch Langsamkeit des Kopfes vereitelten. Umgekehrt! man wird weit mehrere finden, die mit einer gewissen Leichtigkeit und Fertigkeit denken und lernen. Grade dis ist ja Menschennatur; und wie der Vogel zum Fluge, das Pferd zum Laufen, das wilde Thier zum Rauben geboren wird: eben so eigenthümlich ist uns Menschen Denkkraft und Beurtheilungsvermögen. Eben darum legt man der Seele göttlichen Ursprung bei. (2) Stumpfe und ungelehrige Köpfe sind eine eben so widernatürliche Erscheinung, als monströse oder mit irgend einem Male gezeichnete Körper[20]. Ihrer sind | [S. 53] immer nur sehr wenige. Dis zeigen die vielen und mancherlei Hofnungen, die sich gleich früh bei Kindern äußern. Sterben diese Hofnungen mit der Zeit – ein sicheres Merkmal, daß es nicht an Natur, sondern an Pflege gebrach. (3) Allein einer übertrift doch den andern an Fähigkeiten. Zugegeben! Aber das mehr oder weniger abgerechnet[21], wo ist der, der durch Fleiß nichts erlangt hätte? Dis überlegt, muß jeder, sobald er Vater geworden, seine angelegentlichste Sorgfalt der Hofnung, einen künftigen Redner zu bilden[22], widmen. | [S. 54]
(4) Vor allen Dingen, daß nicht etwa schon die Wärterinnen eine fehlerhafte Sprache haben. Ging es nach Chrysippus Wunsch, so müßten es, wär’s möglich, immer sehr verständige und einsichtsvolle Personen sein. Wenigsten verlangt er, man sollte, soviel es nur immer die Umstände erlaubten, die beste wälen[23]. Freilich sind die Sitten wol | [S. 55] unstreitig die Hauptsche, worauf man bei einer solchen Person sehen muß. Aber doch müssen sie auch richtig sprechen. (5) Sie sind die ersten, die das Kind zu hören bekommt; ihre Worte wird es also nachzubilden suchen. Und von Natur behalten wir jeden Eindruk des noch ungebildeten Alters fest, wie der erste Geschmak bei einem Küchengeschirr fortdauert[24], und die Farbe der Wolle, in die die einfache Weisse einmal verändert worden, nicht | [S. 56] wieder ausgewaschen werden kann. Und grade das schlechteste bleibt am hartnäkkigsten hängen. Etwas gutes wird leicht zum schlechten umgeschaffen; aber den Fehler in Tugend wandeln – wer kann’s? Das Kind muß sich also durchaus nicht, selbst nicht, solang es Kind ist, an eine Sprechart gewöhnen, die es wieder verlernen muß[25].
(6) Ich wünschte wol, die Eltern selbst besäßen immer ein volles Maaß von Kenntnissen, Ich red’ aber hier nicht von den Vätern allein. Wir wissen ja, daß zur Beredsamkeit der Grakchen ihre Mutter Kornelia sehr viel beigetragen, und ihre gelehrten Unterhaltungen sind durch ihre Briefe auch auf die Nachwelt gekommen. Die Gespräche der Tochter des Lälius sollen ein Abdruk von der Beredsamkeit ihres Vaters gewesen sein; und die Rede der Tochter des Hortensius, die sie vor den Triumvirs gehalten, liest man nicht bloß, um dem schönen Geschlecht ein Kompliment zu machen. (7) Indes auch | [S. 57] die, denen es nicht so gut geworden, selbst zu lernen, müssen darum nicht geringere Sorgfalt auf die Unterweisung ihrer Kinder wenden. Grade deswegen müssen sie in allen übrigen Punkten desto eifriger sein.
Von den Kindern, in deren Gesellschaft der zu so großen Hofnungen bestimmte Zögling aufwächst, gilt eben das, was von den Wärterinnen gesagt worden. (8) Von den Pädagogen noch überdis, daß sie entweder gründlich gelehrt sein – worauf ich freilich zuerst zu sehn riethe – oder wenigstens wissen müssen, daß sie nicht gelehrt sind; denn nichts ist unerträglicher als Leute, die ein Paar Schritte über die Anfangsgründe der Gelehrsamkeit herüber gethan haben, und sich dann in eine falsche Einbildung von Geschiklichkeit einhüllen. Es kommt ihnen sauer an, andern Leuten, die das Ding verstehn, nachzugeben; und herrschsüchtig, ja zuweilen tyrannisch gleichsam kraft eines Privilegiums von Obermacht, wodurch mehrentheils diese Menschenart aufgeblasen wird, doziren sie ihre Narrheiten ruhig fort. (9) Aber auch auf die Sitten haben ihre Fehler nicht minder schädlichen Einfluß. So soll Leonides, Alexanders Pädagog, ihm gewisse Laster eingeflößt haben, die noch den erwachsenen, und schon zu seiner ganzen Größe gekommnen König vom Knabenunterricht an begleiteten. (10) Schein’ ich jemanden meine Forderungen zu hoch zu spannen, der bedenke, daß es drauf ankömmt, einen Redner zu bilden – Eine schwierige Sache, auch wenn’s zu seiner Bildung an nichts fehlt – und | [S. 58] daß ausserdem noch weit mehrere und wichtigere Dinge übrig sind. Denn da ist anhaltender Fleiß, und die geschiktesten Lehrer, und Erlernung von mehr als einer Wissenschaft nöthig. (11) Drum lieber gleich die sichersten Regeln gegeben. Fallen diese jemanden zu schwer – die üblen Folgen treffen nicht die Regeln, sondern den Menschen. Ist man indessen nicht so glüklich, für seine Kinder Wärterinnen von der Art, wie ich sie wünschte, zu bekommen, so muß wenigstens immer ein Pädagog um sie sein, der den Ausdruk in seiner Gewalt hat, und der dann jeden von jenen in Gegenwart des Zöglings begangnen Sprachfehler auf der Stelle verbessern muß, damit er nicht hängen bleibt. Aber wol gemerkt, mein erster Vorschlag ist der vortheilhafteste. Dieser zweite ist bloß Gegenmittel.
(12) Mit der griechischen Sprache säh’ ich wol am liebsten, daß Kinder den Anfang machten, weil die mehr gewöhnliche lateinische sich uns von selbst auch wider unsern Willen zudrängt, und hauptsächlich mit darum, weil sie doch die griechische Litteratur, als die Quelle der unsrigen, zuerst studieren müssen. (13) Doch wollt’ ich eben nicht, daß man darauf so sehr gewissenhaft hielte, daß sie lange Zeit hindurch nichts als griechisch sprechen und lernen müßten, wie das bei vielen Mode ist. Denn daher rühren soviele Fehler der einmal zum ausländischen Ton verwöhnten Zunge und des Ausdruks. Wenn in diesem durch die beständige Gewohnheit die griechischen Redarten gleichsam eingewachsen sind, so dauret das auch bei einer ganz andern Sprache hartnäkkig fort. | [S. 59] (14) Die lateinische Sprache muß also nicht weit hinterher folgen, und kann der griechischen zur Seite in gleich schnellen Schritten fortrükken. Dis wird die Folge haben, daß, da wir uns mit gleicher Sorgfalt auf beide Sprachen legen, keine der andern im Wege steht.
(15) Einige haben geglaubt, daß man kein Kind vor dem siebenten Jahre zum Lernen anhalten müßte, weil nur erst dis Alter fähig sei, den Unterricht zu fassen, und die Arbeit zu tragen. Dis soll sogar Hesiodus Meinung gewesen sein, wie viele, die vor dem Grammatiker Aristophanes gelebt, behaupten. Denn dieser hat zuerst die Ermahnungen (êποθήκας), wo man diesen Grundsatz findet, dem Hesiodus abgesprochen. (16) Doch viele andre Skribenten, und unter ihnen auch Eratosthenes, haben eben die Meinung geäussert. Ich halt’ es mit denen, die keine Zeit ganz ungenutzt wissen wollen, wie Chrysippus, der den Wärterinnen zwar ganze drei Jahre einräumte, aber doch glaubte, daß auch von diesen schon viel herrliche Grundsätze in die Seele der Kinder gebracht werden könnten. (17) Und warum sollte dis Alter, das doch schon einer moralischen Bildung fähig ist, nicht auch schon für den eigentlichen Verstandsunterricht gehören? Ich weiß wol, daß man in dem ganzen Zeitraum, von dem ich rede, kaum soviel ausrichten könne, als nachher in einem einzigen Jahre; aber doch, dünkt mich, haben die, die jenen Vorschlag thaten, mehr den Lehrer als den Lehrling zu schonen gesucht. (18) Was sollen, was können sie denn bessers thun, von dem | [S. 60] Augenblik an, da sie sprechen können[26]? Etwas müssen sie doch thun. Oder warum wollen wir nicht den noch so kleinen Vortheil bis zum siebenten Jahre mitnehmen. Denn der Beitrag des frühern Alters sei so gering er wolle – so wird doch nun das Kind in eben dem Jahre schon was wichtigeres lernen können, wo es sonst erst die Anfangsgründe[27] lernen müßte. (19) Dis so durch mehrere Jahre durchgeführt, macht im Ganzen immer etwas aus, und jede Vornutzung der Zeit in den Kinderjahren ist würklicher Gewinn für’s Jünglingsalter. Dis gelte zugleich von den folgenden Jahren, daß man nichts, was man einmal lernen muß, erst spät anfange zu lernen. Also doch ja nicht gleich die erste Zeit verloren[28]! um so weniger, da | [S. 61] die ersten Elemente des menschlichen Wissens einzig und allein das Gedächtnis beschäftigen, das nicht nur überhaupt schon bei kleinen Kindern da ist, sondern auch grade zu der Zeit die meiste Haltungskraft hat. (20) Auch bin ich nicht so neu in der Charakteristik der verschiednen Menschenalter, daß ich glauben könnte, man müsse Kinder gleich scharf anhalten, und vollen Fleiß von ihnen verlangen. Denn es ist eine der ersten Regeln, zu verhüten, daß dis Alter, das noch keiner Liebe zu den Studien fähig ist, wenigstens keinen Haß dagegen bekomme, und dann die einmal eingesogne Bitterkeit auch noch über die Kinderjahre hinaus scheue. Der Unterricht sei Spiel. Man bitte das Kind, lob’ es, und lasse ihm zuweilen die Freude, etwas bereits gewußt zu haben. Oft, wenn es selbst nicht Lust hat, unterrichte man, um es eifersüchtig zu machen, ein anders Kind. Alsdann mag es sich anstrengen, | [S. 62] auch öfters glauben, es habe gesiegt. Man lokke es ferner mit diesem Alter anpassenden Belohnungen.
(21) Das sind freilich sehr kleine Regeln, die ich hier gebe, ohngeachtet ich mich anheischig gemacht habe, einen Redner zu bilden. Aber auch die Studien haben ihre Kindheit, und wie die körperliche Erziehung auch der stärksten Leute mit der Muttermilch und Wiege anfängt, so hat auch der künftige noch so große Redner dennoch anfänglich bloß geblart[29], dann zuerst mit ungewissem Ton zu reden versucht, und sich mit den Charaktern der Buchstaben geplagt. Und wenn gleich dis und jenes zu lernen nicht hinreichend ist, so ist’s doch darum nicht flugs entbehrlich. (22) Kein Mensch tadelt einen Vater, der auch für dergleichen Dinge bei seinem Sohn sorgen zu müssen glaubt. Warum wollte man den Mann tadeln, der das, was er in seinem eignen Hause mit Fug und Recht thun würde, ins Publikum | [S. 63] bringt[30]? Dis ist um so wahrer, weil jene Anfangsgründe auch am leichtesten von kleinen Kindern gelernt werden; und wie der Körper zu gewissen Biegungen der Glieder nur in der zarten Kindheit geformt werden kann, so wird auch die Seele durch den körperlichen Wachsthum zu vielen Dingen allmälig zu hart. (23) Hätte wol der König von Mazedonien, Philippus, seinem Sohn Alexander die ersten Elementarkenntnisse vom Aristoteles, dem größten Philosophen der damaligen Zeit, beigebracht wissen wollen, oder hätte dieser wol dis Geschäft übernommen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß die Anfangsgründe von dem geschiktesten Mann am besten beigebracht werden könnten[31], und immer mit zur Summe gehörten? (24) Denken | [S. 64] wir uns also einen jungen Alexander auf unserm Schooß; denken wir uns ein Kind, das aller der Sorgfalt werth ist – doch einem jeden ist das seinige deren werth[32], – und ich sollte mich schämen, gleich bei dem Elementarunterricht, die kürzesten Lehrmethoden anzugeben? Wenigstens gefällt mir das gar nicht, was viele sich zur Regel gemacht haben, daß die Kleinen die Namen und die Folge der Buchstaben eher kennen lernen müssen, als ihre Figuren. (25) Dis stehet dem deutlichen Erkennen derselben im Wege, indem sie nicht gleich ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Schriftzüge selbst richten, sondern bloß einen Buchstaben an den andern im Gedächtnis anreihen. Das veranlaßt die Lehrer nachher, daß sie, wenn sie den Kindern die Buchstaben nach der richtigen anfänglichen Ordnung genungsam eingeheftet zu haben glauben, sie dann wieder rükwärts jagen, und durch mancherlei Vertauschungen der Buchstaben unter einander verwirren, bis sie sie endlich der Gestalt, nicht bloß der Ordnung nach kennen. Das beste ist also wol, daß | [S. 65] sie wie bei Menschen, so auch hier Gestaltung und Namen zugleich kennen lernen. (26) Doch was bei den Buchstaben schädlich ist, wird bei den Sylben nicht undienlich sein. Ich schließe hier aber die bekannte Methode nicht aus, da man den Kindern, um sie zum Lernen zu reizen, elfenbeinerne Buchstabenformen zum Spielen giebt, oder was man sonst etwa noch angenehmers für dis Alter erdenken kann, dessen Befassung, Anblik, Nennung ihnen Freude macht.
(27) Sobald sie nun aber die Schriftzüge nachmachen können, so ist’s rathsam, sie in eine Tafel zierlich einschnitzen zu laßen, um gleichsam durch diese Furchen den Griffel durchzuziehen. Denn der Lehrling wird sich dabei nicht so leicht versehen, wie auf Wachstafeln, weil ihn auf beiden Seiten der Rand der Vertiefung einschließt, auch kann er alsdann nicht über das vorgeschriebne ausfahren. Wenn das Kind auf diese Art den sichern Spuren folgt, so formt es nach und nach seine Gelenke, und kann des Handführens beim Schreiben leicht entbehren. (28) Die Bemühung, schön und schnell zu schreiben – so sehr es auch von manchem wakkern Mann vernachläßigt wird – ist sicherlich nicht unnütz angewandt. Das Schreiben ist doch beim Studieren immer die Hauptsache, und das einzige Mittel, sich richtige tiefgewurzelte Kenntnisse zu erwerben. Langsamkeit im Schreiben hält das Denken auf, eine unförmliche verwirrte Hand hingegen wird dem Leser unverständlich; und daher dann die zweite Arbeit, alles ins reine zu schreibende, diktiren zu | [S. 66] müssen. (29) Es wird einem also zwar stets und überall, doch aber hauptsächlich bei geheimen und vertrauten Briefen lieb sein, auch diese Uebung nicht aus der Acht gelassen zu haben.
(30) In Ansehung der Sylben findet keine Verkürzung der Lernart Statt. Sie müssen alle gelernt, und nicht, wie oft geschieht, die schwersten verschoben werden, so daß es nachher bei Schreibung eines schweren Worts hapert. (31) Man muß sich auch ja nicht auf den ersten Eindruk im Gedächtnisse gleich verlassen, sondern vielmehr oft wiederholen, und einerlei Sache mehr als einmal in die Seele hineinschieben. Auch muß man beim Lesenlernen nicht zu sehr eilen, daß es nur rasch hinter einander weggeht, bevor nicht das Kind, ohne Anstoß und ohne sich erst lange zu besinnen, die Buchstaben unter einander verbinden kann. Alsdann erst fasse es durch Sylben Wörter, und durch diese weiter einen zusammenhängenden Vortrag zusammen. (32) Es ist nicht zu sagen, wie sehr man durch zu große Eile das Lesenlernen aufhält. Denn daher kommt’s, daß das Kind, weil es etwas seine Kräfte übersteigendes thun muß, alle Augenblikke ungewis ist, inne hält, wiederholt, und wenn sich’s dann einmal versieht, auch bei dem, was es würklich weiß, mißtrauisch wird. (33) Das Lesen sei also anfänglich bloß trennend (buchstabirend)[33], und dann erst an | [S. 67] einander hängend, und lange Zeit etwas langsam, bis durch Uebung endlich eine korrekte Geschwindigkeit entsteht. (34) Denn die allgemeine Regel, beim Lesen immer voraus zur rechten Hand hinzusehn, ist vernünftig und nützlich, weil man den Blik auf das folgende geheftet das vorhergehende aussprechen, und, was das schwerste ist, die Aufmerksamkeit der Seele zertheilen muß, so daß Zunge und Auge, jedes etwas besonders zu thun hat[34]. Es ist ferner gut und rathsam, sobald der Knabe dem Schlendrian zufolge zuerst einzle | [S. 68] Wörter zu schreiben anfängt, ihn die Mühe nicht mit alltäglichen, alle Augenblikke vorkommenden Wörtern verschwenden zu lassen. (35) Denn er kann ja sogleich nebenher die Erklärung seltner dunkler Wörter (Glossen, wie die Griechen sie nennen) lernen, und sich also gleich beim Elementarunterricht Kenntnisse erwerben, zu denen nachher eigne Zeit gehören würde. Und weil wir hier eben noch mit allerlei kleinen Regeln zu thun haben, so wünscht’ ich auch wol, daß die Zeilen, die man den Kindern zum Nachmalen vorschreibt, keine leere müßige Ideen enthielten, sondern irgend eines guten moralischen Inhalts wären. (36) So was ins Gedächtnis gefaßt, begleitet uns bis ins Alter, und der Eindruk in die noch ungeformte Seele wird sicherlich auch seinen Einfluß auf die Sitten äußern. Auch ist’s gut, Apophthegmen berühmter Manner und auserlesene Stellen vorzüglich aus Dichtern (denn deren Kenntnis ist ohnedis in der Kindheit am angenehmsten) spielweise auswendiglernen zu lassen. Denn der Redner braucht vorzüglich Gedächtniskraft. Aber hauptsächlich Uebung stärkt und nährt dis Seelenvermögen, das ohnedis in dem Alter, von welchem wir reden, wo der Mensch noch nichts aus sich selbst erzeugen kann, beinahe das einzige ist, dem der Fleiß des Lehrers nachhelfen kann. (37) Nicht undienlich ist’s, jungen Leuten dieses Alters zu größerer Geschmeidigkeit der Zunge und Verständlichkeit der Sprache aufzugeben, daß sie gewisse Namen und Verse von mit Fleiß ausstudierter Schwere des Aussprechens, die einem schroffigen | [S. 69] Felsen gleich aus mehrern hart zusammenstoßenden Sylben verkettet sind, so geschwind als möglich hinter einander herrollen müssen[35]. Eine kleine Regel, aber, wenn man sie verabsäumt, so verhärten sich viele Fehler der Zunge, wenn sie nicht früh fortgeschaft werden, zu einem nachmals unbesserlichen Uebel.
Zweites Kapitel
Was
vorzüglicher sei, die Privaterziehung oder die öffentliche.
Aber unser Zögling mag nun nachgrade heranwachsen, mag den Schooß der Mutter verlassen, und mit etwas mehr Ernst zu lernen anfangen. Hier ist also der schriftlichste Ort für die Frage, ob’s nützlicher sei, den Lehrling zu Hause zwischen seinen vier Pfälen festzuhalten, oder ihn der Schulfrequenz und den öffentlichen Lehrern zu übergeben. Dis letztre, seh ich, hat die Gesetzgeber der berühmtesten Staaten und sehr vortrefliche Schriftsteller für sich. Indes giebt’s freilich auch Leute, die in diese beinah allgemeine Landessitte nach ihrer Privatüberzeugung nicht einstimmen. Sie scheinen | [S. 70] sich vorzüglich auf zwei Gründe zu stützen. Einmal, daß sie besser für die Sitten ihres Kindes Sorgen, wenn sie es dem Schwarm von lauter Menschen des am meisten zu Ausschweifungen geneigten Alters entzögen – und o möcht’s doch weiter nichts als lügenhaftes Gewäsch sein, daß hier sehr oft der Grund zu schändlichen Handlungen gelegt werde – und sodann, weil, wer auch immer der Lehrer sein mag, er doch weit vortheilhafter seine Zeit nur auf einen einzigen verwenden zu können scheint, als wenn er sie unter mehrere zertheilte. Der erste Grund ist freilich sehr wichtig. Denn wär’s ausgemacht, daß öffentliche Schulen zwar für das Fortrükken in Kenntnissen nützlich, für die Sitten hingegen schädlich wären – o so wär’s freilich besser, sein Kind lieber zu einem guten Menschen als zu dem größten Gelehrten von der Welt zu machen. Aber, mich dünkt, beides kann sehr gut mit einander bestehen, und muß nicht zertrennt werden. Nur der rechtschaffne Mann kann, glaub’ ich, Redner werden, und könnte man’s ohne das, ich wenigstens wollt’s nichts. Hievon also zuerst. Die Sitten würden auf Schulen verderbt, meint man. Sie werden’s freilich zuweilen, aber zu Hause nicht minder. Es sind der Exempel viele, daß in beiderlei Erziehungsanstalten die Ehre eines jungen Menschen bald beschmitzt, bald aber auch ganz rein und unbeflekt erhalten wurde. Der ganze Unterschied liegt im Naturkarakter und in der Behandlungsart eines jeden. Man setze ein zu Lastern reizbares Herz, man setze frühe Verwahrlosung in | [S. 71] Bildung und Bewahrung der jugendlichen Unschuld – wahrlich, die Einsamkeit wird nicht weniger Anlaß zu Auschweifungen darbieten. Denn auch der Hauslehrer kann ja ein lasterhafter Mensch sein, und der Umgang mit liederlichen Dienstboten ist nicht um ein Haar sichrer, als der mit muthwilligen jungen Leuten von Stande. Aber ist die natürliche Anlage gut, und findet von Seiten der Eltern keine blinde schnarchende Nachläßigkeit Statt, so kann man ja den rechtschaffensten Lehrer – und dafür sorgen verständige Eltern am meisten – und die strengste Disziplin wälen; man kan überdis seinem Sohn einen Freund von gesetztem Alter, oder einen treuen Freigelaßnen zur Seite setzen, deßen beständige Begleitung auch auf die Beßerung der andern jungen Leute, vor denen man sich fürchtete, Einfluß haben kann. Ein leichtes Mittel gegen diese Besorgnis. O daß wir nur nicht selber die Sitten unsrer Kinder verderbten! Aber gleich früh erschlafft die Kindheit durch unsre Verzärtelung. Jene weichliche Erziehung, die wir väterliche Liebe nennen, zersprengt alle Nerven der Seele und des Leibes. Laßt das Kind groß werden, was wird’s dann erst alles begehren, da es itzt schon mit Purpur behängt herumkriecht? Noch kann’s kaum die ersten Worte herausbringen, und weiß schon, was Scharlach ist, verlangt schon sein Purpurrökchen. Ihren Gaumen bilden wir eher als ihr Herz. In Sänften wachsen sie auf, und wenn sie ja einmal die Erde berühren, so schweben sie am Gängelbande. Wir | [S. 72] freuen uns über jeden muthwilligen Einfall von ihnen. Ausdrükke, die man keinem Alexandrinischen Weichlinge verzeihen würde, empfangen wir mit Gelächter und Küssen. Kein Wunder! wir waren ihre Lehrer, von uns hörten sie’s. Sie sehn unsre Mätressen und Konkubinen. Jeder Schmaus rauscht von Zotenliedern. Sie bekommen Dinge zu sehn, die man sich auch nur zu erzälen schämen sollte. Daraus entsteht denn Gewohnheit, endlich Natur. Die armen Kinder lernen dis alles, eh sie wissen, daß es Laster ist. Und so nun erschlafft und verweichtlicht bekommen sie diese Unsittlichkeiten nicht aus den Schulen; sie bringen sie hinein.
Aber in Anhebung des Studirens wird doch ein einziger Lehrer auf einen einzigen Schüler mehr Fleiß und Zeit wenden können. Zuförderst, wer wehrt’s, auch dem Zöglinge einer öffentlichen Anstalt jenen – ich weiß selbst nicht welchen – Einen zu halten[36]? Aber wenn auch beides nicht verbunden werden könnte, so würd’ ich doch die Helle einer Frequenz von guter Leute Kindern der Dunkelheit und Einsamkeit vorziehn. Jeder nur irgends geschickte Lehrer hat seine Freud’ an einer Menge Schüler, und hält sich eines größern Schauplatzes werth. Aber grade der Stümper pflegt sich aus Bewußtsein seiner Schwäche am | [S. 73] liebsten an Partikuliers zu hängen, und läßt sich willig zu einer Art von Padagogen gebrauchen. Aber hab’ einer denn auch noch soviel Ansehen, oder Freundschaft, oder Geld, um sich den geschicktesten Lehrer unter dem Monde zu halten – wird denn der den ganzen geschlagnen Tag auf seinen Einen Schüler wenden? oder kann es irgend eine so anhaltende Anstrengung des Lehrlings geben, die nicht, wie das Gesicht durch beständigen Hinblik auf etwas, endlich ermüdete? zumal das Fürsichstudiren doch noch weit nöthiger ist. Denn der Lehrer steht doch nicht immer dabei, so oft sein Schüler was schreibt, auswendig lernt, denkt; und so oft er grade so etwas thut, ist die Dazwischenkunft jedes Menschen, er sei wer er wolle – Hindernis. Auch ist nicht bei allem Lesen, und nicht immer ein Führer und Erklärer nothwendig. Denn wenn würde man sonst so eine Menge von Autoren kennen lernen? Also braucht’s doch nur immer eines kleinen Zeitraums, um darnach auf den ganzen Tag die Arbeit gewissernaßen zu vertheilen. Und so können denn auch selbst die Punkte des Unterrichts, die eigentlich immer nur einem auf einmal beigebracht werden können, eben so gut nach und nach auch mehreren beigebracht werden; da ohnedis der größte Theil des Unterrichts von der Art ist, daß eine und ebendieselbe Stimme ihn zu gleicher Zeit allen zuführt. Kein Wort von den oratorischen Disposizionen und Schulreden der Rhetoren! Sei die Zahl der Zuhörer dabei noch so groß, jeder bekommt dennoch | [S. 74] das Ganze. Denn der mündliche Unterricht des Lehrers ist nicht etwa wie eine Malzeit weniger hinlänglich für viele; sondern gleich der Sonne gewährt er allen einerlei Licht und Wärme. Eben so verhält sich’s mit dem Grammatiker. Er mag über den Ausdruk räsonniren, schwere Fragen entwikkeln, Geschichte vortragen, Gedichte erklären – alles das werden grade soviele lernen, als Zuhörer da sind. Allein dem Verbessern und Vorlesen der jugendlichen Ausarbeitungen steht doch die zu große Zahl im Wege. Sei denn das Unbequemlichkeit – denn was gefällt doch wol von allen Seiten? – bald wird’s durch Vortheil ersetzt sein. Doch wünscht’ ich freilich nicht, daß man sein Kind dahin schikte, wo es vernachläßiget würde. Aber eines Theils wird ein geschikter Lehrer sich nicht einen größern Schwarm aufladen, als er zu bestreiten vermag; und sodann muß man freilich vor allen Dingen sich ihn zum Freunde zu machen suchen, damit er beim Unterricht mehr durch Zuneigung als duch bloße Pflicht geleitet werde. So werden wir niemals im Schwarm sein. Und sicherlich wird ein Lehrer, der nur einen kleinen Anstrich von Gelehrsamkeit hat, den Jüngling, bei dem er Fleiß und Genie gewahr wird, zu seiner eignen Ehre vorzüglich pflegen. Aber wenn denn auch gar zu große Schulen zu fliehen wären – doch selbst dis kann ich nicht zugeben, sobald der Beifall eines Lehrers gegründet ist – so folgt doch noch nicht, daß man überhaupt alle Schulen fliehen müsse. Ein anders ist sie meiden, | [S. 75] ein andres sie wälen. Und nun nach Widerlegung der Gegenmeinung meine eigne. Vor allen Dingen muß der künftige Redner, der in dem Gewühl von allerlei Menschen und mitten im hellsten Licht des Staats leben soll, sich von Kindheit an gewöhnen, nicht menschenscheu zu sein, und nicht im eingezognen Pedantenleben zu versauren. Die Seele muß immer gespornt und gehoben werden. Aber in dergleichen Absonderung von Menschen erschlafft sie entweder, und verschimmelt gleichsam im dunkeln, oder im Gegentheil sie schwillt von leerer Einbildung auf. Denn nothwendigerweise muß ein Mensch, der sich mit niemanden vergleicht, zu hohe Begriffe von sich bekommen. Und dann, wenn er seine Kenntnisse ins Leben übertragen soll, ist er mitten im Sonnenschein wie umnebelt. Alles ist ihm neu, weil er abgesondert von Menschen gelernt hat, was er mitten unter Menschen ausüben soll.
Ich sage nichts von den Schulfreundschaften, die gleichsam durch ein religiöses Band zusammengehalten bis zum Alter hin unzertrennlich fortdauren. Denn es ist eben so heilig in einerlei Studien, als in einerlei religiösen Geheimnissen eingeweiht zu werden. Selbst den graden schlichten Menschenverstand im gemeinen Leben – woher soll man ihn bekommen, wenn man sich allem Umgange entzieht, der doch nicht blos dem Menschen, sondern auch selbst den stummen Thieren natürlich ist? Hiezu kommt, daß der Lehrling zu Hause nur das lernt, was ihm selbst, in der Schule aber | [S. 76] auch das, was andern gesagt wird. Er wird tagtäglich manches loben, manches tadeln hören. Nutzen wird ihm der einem andern über seine Trägheit gegebene Verweis, nutzen das Lob des Fleißes. Durch das Lob wird Nacheiferung bei ihm erregt werden. Schändlich wird’s ihn dünken, dem zu weichen, der nicht älter ist als er selbst; rühmlich, selbst ältere übertroffen zu haben. Alles dis flammt die Seele an, und zugegeben, daß der Ehrgeiz an und für sich Laster ist – oft ist er dennoch Tugendquelle. Ich weiß es noch sehr gut, wie vortheilhaft die Gewohnheit meiner Lehrer war, da sie uns Knaben in mehrere Klassen theilten, und uns dann nach der Ordnung unsrer Fähigkeiten deklamiren ließen. Und so hielt jeder seine Rede eher oder später, je nachdem er in seinen Kenntnissen fortzurükken schien. Darüber ward denn förmlich Gericht gehalten. Da gabs ein Ringen nach der Palme! Aber gar der erste in der Klasse zu sein – das war eine Ehre! Auch blieb das nicht ein für allemal bestimmt. Der dreißigste Tag gab immer dem Besiegten neue Gelegenheit zum Kampf. So ward der Sieger bei seinem Glück nicht laß, und der Besiegte ward durch diese Kränkung angetrieben, die Schande abzuwaschen. Meines Bedünkens war dis bei unserm Studiren ein stärkrer Sporn, als alle Ermahnungen der Lehrer, alle Aufsicht der Pädagogen, und alle Wünsche der Eltern. Aber so wie Nacheiferung die gelehrten Progressen des männlichen Alters nährt, so ist auch für den noch zarten Anfänger die Nachahmung seiner | [S. 77] Mitschüler leichter und eben darum angenehmer, als die seines Lehrers. Denn schwerlich wird er’s wagen, sich zu der Hoffnung zu erheben, den Grad der Beredsamkeit, der ihn itzt der höchste dünkt, zu erreichen. Er hält sich am liebsten an dem, was ihm am nächsten ist, fest; wie Weinstökke, an Bäume gebunden, sich erst an die niedrigen Aeste anschmiegen, und sich so endlich bis zum Wipfel hinaufwinden. Dis ist so wahr, daß der Lehrer selbst, wenn er anders das Nützliche dem Pralenden vorzieht, nicht gleich, so lang’ er noch mit ungeformten Köpfen zu thun hat, die Schwäche des Lehrlings überladen, sondern dafür seine eigne Kraft beschränken, und zur Fassung seines Schülers herabsteigen muß. Denn wie Gefäße mit einem engen Hals zu stark auf einmal aufgegoßnes Wasser nicht auffassen, hingegen bei allmäligem Hineingießen und Hineintröpfeln voll werden, so muß man auch prüfen, wieviel eine Knabenseele fassen kann. Zu schwere Sachen dringen nicht ein, weil die Seele noch nicht offen genug dazu ist. Nützlich ist’s also welche zu haben, denen man erst nur nachzuahmen, bald aber den Sieg abzugewinnen wünscht. So wird nach und nach die Hoffnung, auch zu den höhern Stuffen hinanzudringen, entstehn. Hiezu setz’ ich endlich noch das, daß die Lehrer selbst nicht den Geist und die Munterkeit bei einzelnen Zuhörern haben können, die sie, angefeuert von einem ganzen Haufen Zuhörern, natürlicher Weise haben müssen. – – – – – – –
[S. 78]
Drittes
Kapitel.
Von der
Prüfung der Köpfe und der verschiednen Behandlungsart derselben.
Gleich bei Anvertrauung eines jungen Menschen muß ein erfahrner Lehrer die Fähigkeiten desselben und seinen Karakter prüfen. Das Hauptmerkmal von Verstandesfähigkeiten bei Kindern ist das Gedächtnis, das wieder zwei Vollkommenheiten hat, leicht zu fassen und treu zu behalten. Das nächste Merkmal darauf ist Nachahmungseifer. Denn auch das ist ein Zeichen eines gelehrigen Kopfes, doch so, daß er nur das eigentlich, was er lernt, nachbildet, nicht etwa jemandes Stellung oder Gang, und überhaupt etwas auffallend fehlerhaftes. Schlechte Hofnung von guter Anlage wird mir der geben, der durch diese Bemühung, andern nachzumachen, nur Lachen zu erregen sucht. Das wahre Genie ist zugleich immer gutherzig. Besser sonst, von langsamen als bösartigen Fähigkeiten zu sein! Doch ist mein gutherziger von dem trägen schlummernden Kopfe himmelweit unterschieden. Mein Schüler, wie ich ihn wünsche, wird den Unterricht ohne viele Mühe fassen, manches fragen; doch mehr folgen als vorlaufen. Jene frühzeitige Genieart kommt nicht leicht zur Reife. Dis sind die Köpfe, die kleine Sachen leicht ausrichten, und | [S. 79] durch ihre Dreistigkeit vorwärts gestoßen gleich alles zeigen, was sie können. Sie können aber nur das, was nahe vor ihnen liegt[37]; sie schwatzen hintereinander fort, und bringen alles mit unerschrokner Miene vor, von keiner verschämten Blödigkeit zurükgehalten. Viel leisten sie nicht, aber schnell. Wahre auf tiefe Wurzeln gegründete Kraft ist nicht dahinter. Sie gleichen den auf der Oberfläche verstreuten Samenkörnern. Schnell keimen sie auf. Aber die wie Kornpalme aussehenden Stengelchen welken mit ihren leeren Aehren vor der Ernte hin. Es gefällt einem sowas an einem Kinde, wenn man sein Alter damit vergleicht. Aber bald stehts still, und die Bewunderung verliert sich.
Nach einer solchen Prüfung überlege der Lehrer, auf welche Art er die Seele seines Lehrlings werde zu behandeln haben. Einige sind läßig, wenn man sie nicht immer antreibt. Andre hingegen sträuben sich gegen zuvieles Hofmeistern. Manche hält die | [S. 80] Furcht im Zaum, andre entnervt sie. Manche meißelt[38] nur fortgesetzter Fleiß, bei andern thut ein plötzlicher Anstoß mehr. Mir gebe man einen Knaben, der sich durch Lob spornen läßt, dem Ehre Freude macht, der, wenn er übertroffen wird[39], weint. So einen muß man mit Ehrbegierde nähren. Ihn wird jeder Verweis nagen, | [S. 81] ihn die Ehre vorwärts treiben. Bei ihm werd’ ich nie Trägheit besorgen.
Doch muß man allen einige Erholung gönnen, nicht nur weil’s keine Sache giebt, die beständig fortgesetzte Anstrengung aushalten könnte, da ja selbst empfindungsleere leblose Dinge, wenn sie ihre Schnellkraft behalten sollen, durch abwechselnde Ruhe gewissermassen entspannt werden müssen; sondern vornehmlich, weil alle Lernbegier Sache des Willens ist, der sich nicht zwingen läßt. So gleichsam erneut und erfrischt werden sie denn auch mehr Kraft und Muth zum Lernen mitbringen, eine Sache, die mit Zwang schwerlich bestehen kann.
Das Spielen der Kinder wird mich auch nicht leicht ärgern. Es ist dis ebenfalls ein Zeichen der Munterkeit. Und unmöglich kann ich dem immer finstern Kopfhänger, bei dem selbst dieser seinem Alter so sehr natürliche Trieb schläft, in Rüksicht auf die Wissenschaften einen aufwärtsstrebenden Geist zutrauen. Doch setze man den Erholungen auch gewisse Schranken; damit nicht gänzliche Verweigerung derselben Haß gegen die Wissenschaften, zu starker Genuß hingegen Gewohnheit zu faullenzen hervorbringe. Es giebt auch manche zur Schärfung des Nachdenkens bei Kindern nicht undienliche Spiele, z. E. wenn sie in Beantwortung von allerlei Fragen und Räthseln, die sie sich einander aufgeben, wetteifern. Auch der Karakter zeigt sich offner und unverhüllter beim Spiel[40]. Nur | [S. 82] halte man kein Alter für zu schwach, um nicht früh gleich zu lernen, was gut, was schlecht sei. Grade dis Alter muß am meisten gebildet werden, weil es noch keine Verstellung kennt, und sich noch am leichtesten regieren läßt. Was sich einmal zu einer schiefen Lage verhärtet hat, kann man eher zerbrechen als verbessern. Man geb’ also früh dem Kinde die Regel, nie mit Gier, nie mit Bosheit, nie mit eigensinnigem Ungestüm zu handeln. Man habe immer Virgils Ausspruch im Auge:
So groß ist das Gewicht der frühen Jugendgewohnheit.
Die Schüler zu schlagen, kann ich, so sehr es auch Mode ist, und obgleich Chrysippus selbst es nicht mißbilligt, unmöglich zugeben. Zuförderst, | [S. 83] weil es eine unanständige Sklavenbehandlung, und wenigstens sobald man sich das Kind in einem andern Alter denkt, würkliche Beleidigung ist. Sodann, weil, wer so niederträchtig ist, daß er sich durch Verweise nicht bessern läßt, sich gewiß auch, eben so wie der weggeworfenste Sklav gegen Prügel verhärten wird. Ueberdis braucht’s einer solchen Züchtigung gar nicht einmal, wenn den Kindern nur stets ein Aufseher über ihr Studieren zur Seite steht. Aber so scheint leider die Nachläßigkeit der Pädagogen eine schöne Methode, den Karakter zu bilden, eingeführt zu haben, daß nehmlich die Kinder gar nicht angehalten werden, zu thun, was sie sollten, aber dann doch hinterher darüber gestraft werden, daß sie’s nicht gethan. Und endlich, wenn ihr das Kind mit Schlägen in Ordnung haltet, was wollt ihr denn dem Jünglinge thun, bei dem diese Furcht nicht mehr gebraucht werden kann, und der nun schon wichtigere Dinge lernen muß? Dazu kommt, daß den Kindern vor Schmerz oder Furcht während der Schläge manches garstige begegnet, dessen sie sich hinterher schämen. Und diese Scham zerknikt die Seele, schlägt sie nieder, und macht sie lichtscheu. Genug, über dis schwache noch nicht gegen Beleidigungen gesicherte Alter muß niemand zu weitgetriebne Rechte haben.
Pädagogischer
Brief der Theano, der Frau des Pythagoras,
an ihre Freundin Eubula.
Ich höre, meine Beste, daß sie ihre Kinder zu zärtlich erziehen. Aber glauben Sie mir’s, eine gute Mutter muß nicht für sinnliches Vergnügen ihres Kindes sorgen, sie muß es vielmehr früh zur Enthaltsamkeit zu leiten suchen. Sein Sie auf Ihrer Hut, nicht etwa mehr bloß verzärtelnd als würklich zärtlich zu handeln. Sinnenlust, zugleich mit dem jungen Geschöpf genährt und aufgewachsen, bildet es mit der Zeit zu einem ausgelaßnen zügellosen Menschen. Denn was ist süßer für den Jüngling, als ein Vergnügen, woran er sich seit so langer Zeit gewöhnt hat? O meine Beste, lassen Sie uns ja dahin streben, daß die Erziehung unsrer Lieblinge nicht in Verdrehung derselben ausarte. Und in der That, es ist wahre Verdrehung ihrer Natur, wenn man ihnen nach Seel’ und Leib nur die Richtung zum sinnlichen Vergnügen giebt, so daß dieser arbeitscheu, jene zu weich und empfindsam wird. Lieber sie gleich früh hart gewöhnt, sollt’ es auch nicht ohne unangenehme Empfindung und Schmerz abgehen; damit sie nur nicht Sklaven der Leidenschaft werden, erpicht auf Vergnügen, träge zur Arbeit; sondern damit sie das, was wahrhaftig | [S. 85] schön und gut ist, über alles schätzen, und selbst mit Aufopferung ihrer Freuden erringen lernen. Aber eben darum muß man sie weder zur Unmäßigkeit in Speise und Trank, noch zu kostbaren Ergötzlichkeiten und ausgelassenen Spielen gewöhnen; auch ihnen nicht verstatten, alles was ihnen in den Sinn kommt, zu reden und zu thun. Wozu dient’s ferner, daß Sie gleich so ängstlich thun, wenn eins Ihrer Kinder zu weinen anfängt, und sich bemühen, es zum Lachen zu bringen, auch wenn es auf die Wärterin zuschlägt, oder sich gegen Sie selbst, indem Sie lachen, erboßt? Wozu, daß Sie es des Sommers ja in der Kühle, des Winters in der Wärme zu erhalten, und ihm überhaupt dis und das Angenehme zu verschaffen suchen, wovon die Kinder armer Leute gar keinen Begrif haben, und die dennoch bei ihrer weit wolfeilern Erziehung eben so geschwind wachsen und um ein groß Theil gesünder sind? In der That, Sie erziehen Ihre Kinder, als wären’s Kinder eines Sardanapals. Sie entnerven ihre Mannheit durch übertriebnen Genuß sinnlicher Vergnügungen. Was soll man mit einem Knaben anfangen, der, wenn er nicht gleich zu essen bekommt, weint, der bei Tische sich immer das lekkerhafteste aussucht; der, wenn’s heiß ist, schmelzen will, und bei jedem Froste zittert und bebt[41]; der sich gegen Verweise bäumt, und sich erboßt, wenn man ihm nicht gleich zu Willen ist, der sich Näschereien ertrotzt; der überhaupt seine Zeit in einem angenehmen Müßiggange hinbrütet und mit | [S. 86] einem pipigen quänglichen Wesen überall herumschlendert. O bedenken sie, meine Freundin, daß verzärtelte Kinder, wenn Sie zu Männern aufwachsen, wahre Sklaven werden. Drum weg mit all dergleichen sinnlicher Lust! Gewöhnen Sie Ihre Kinder zu harter Kost, lassen Sie sie Hunger und Durst, Frost und Hitze erdulden, und sich gegen ihre Gespielen und Vorgesetzte, bescheiden und höflich betragen lernen. Denn nur durch solche Gewöhnungen wird die strebende Kraft der Seele stark und männlich[42]. Arbeiten sind für junge Leute der Vorschmak ihres künftigen vollkommnern Tugendeifers; und in sie hinlänglich eingetaucht, behält die Seele desto leichter die Farbe der Tugend. Sehn sie ja zu, meine Freundin, daß nicht etwa Ihre Kinder gleich schlechtgepflegten Weinstökken, die keine Traube bringen, ebenfalls statt aller Früchte, die Sie von ihnen hofften, künftig nur Ausschweifungen und Bosheiten tragen.
Ermahnung an
eine Frau von Stande,
ihre Kinder
selbst zu säugen.
(Noct. att. lib. XII. c. I.)
Etwas für uns neues wird man in diesem Ausatze freilich nicht finden, vielmehr allenfalls ein Paar physiologische Unrichtigkeiten. Aber ich hoffte, daß es meinen Lesern eben die Freude machen würde, die es mir machte, die stärksten Gründe, die nur je neuere Schriftsteller für das Selbstsäugen der Mütter gebraucht haben, alle hier so stark und so warm gesagt zu finden, als sie schwerlich irgend jemals von einem Neuern gesagt sind. Freilich ist’s für den denkenden Menschenfreund eine traurige Bemerkung, daß man seit so vielen Jahrhunderten umsonst gegen eine für das menschliche Geschlecht so verwüstende Gewohnheit geredet und geschrieben hat. Aber dennoch versprech’ ich mir den Dank mancher von meinen Lesern für die Uebersetzung eines so vortreflichen Räsonnements und das aus einem Autor, der weniger gelesen wird, als er verdient, und bei dem selbst die Wenigen, die ihn genauer kennen, nur die antiquarischen und grammatischen Untersuchungen nutzen.
| [S. 88] Dem Philosophen Favorin ward einmal in unsrer Gegenwart gemeldet, die Frau eines seiner Zuhörer und Anhänger sei eben niedergekommen, und hab’ ihren Mann mit einem jungen Sohn beschenkt. Gehn wir denn, sprach er, der Kindbetterin unsern Besuch abzustatten, und dem Vater Glück zu wünschen. Dieser war Mitglied des Senats und von einer angesehnen Familie. Wir gingen also alle, so viel wir unser grade da waren, mit ihm bis an das Haus, wo er hinwollte, und traten mit ihm herein. Gleich vorn im Hause umarmte er den Mann, und setzte sich nach abgelegtem Glückwunsch nieder. Und nun erkundigte er sich, wie lange Niederkunft gedauret habe, und ob’s eine schwere Geburt gewesen? Als er hörte, die junge Frau schlafe eben, von den ausgestandnen Beschwerden und Wachen ermattet, ließ er sich in eine ausführlichere Unterredung ein.
Ohne Zweifel wird sie doch, sprach er, ihr Kind selbst säugen. Da hierauf die Mutter der jungen Frau antwortete, man müsse sie schonen, und lieber dem Kinde eine Amme halten, damit nicht zu den Geburtsschmerzen noch das lästige mühsame Geschäft des Aufsäugens hinzukäme, so sagte er: Ich bitte Sie, beste Frau, lassen Sie sie ganz Mutter sein. Denn was ist das für eine unnatürliche halbe Mutterart, ein Kind geboren zu haben, und es dann flugs wieder von sich wegzuwerfen? im Mutterleibe ein ich weiß nicht was ernährt zu haben, wenigstens etwas, was sie noch nicht sehen konnte; und nun nicht mit ihrer Milch | [S. 89] das Kind ernähren zu wollen, das sie sieht, das schon lebt, schon Mensch ist, schon nach Mutterpflege schreit. Oder glauben auch Sie etwa, daß die Natur den Frauenzimmern die Brüste nur so als ein Paar allerliebste Warzen gegeben habe, nicht um Kinder zu säugen, sondern zum bloßen Zierrath des Busens? Denn nach solchen Grundsätzen – wovon Sie und Ihre Tochter freilich himmelweit entfernt sind – bemühn sich so viele abscheuliche Weiber, jene heilige Quelle am weiblichen Körper, die Nährerin des Menschengeschlechts, auszutroknen, selbst mit Gefahr wegen der zurükgetriebnen und verdorbnen Milch; und dis lediglich aus der Ursache, weil sonst der Glanz ihrer Schönheit geschwächt würde. Wahrhaftig eine eben so große Tollheit, als wenn sie zu andrer Zeit durch allerlei künstliche Bübereien selbst die Frucht im Mutterleibe abzutreiben suchen; damit doch ja nicht die schöne glatte Fläche des Bauchs sich runzle, oder durch die Last und durch die Geburtswehen gewissermaßen zerlechze. So was verdient unstreitig allgemeinen Abscheu und Haß; den Menschen grade bei seinem Entstehen, grade zu der Zeit, da er gebildet und belebt wird, unter den Händen der formenden Natur zu tödten. Aber wie nahe gränzt’s, wenn man dem schon vollständigen, schon gebornen Menschen, der nun schon unser Kind ist, die Nahrung aus dem ihm eigenthümlichen und gewohnten und bekannten Blute entzieht. O, pflegt man zu sagen, wenn’s nur ernährt wird und lebt, so ist’s ja gleichviel, durch wessen Milch das geschieht. | [S. 90] Aber warum hält denn der, der so redet, wenn er ja für alles Naturgefühl so taub ist, warum hält er’s denn nicht auch für gleichviel, in welcher Frauen Leibe und aus welcher ihrem Blute der Mensch gebildet und zusammengewachsen sei? Ist’s etwa darum in den Brüsten nicht mehr dasselbe Blut, das im Mutterleibe war, weil’s durch Luft und Wärme weiß geworden? Zeigt sich nicht auch hierinn die Weisheit der Natur augenscheinlich, daß nachdem jenes schöpferische Blut tief im Innern den ganzen menschlichen Körper gebildet hat, es sich nun bei Annäherung der Geburt oberwärts hinauf zieht, sich zur Pflege des jungen Lebens einfindet, und dem neugebornen Menschen schon bekannte gewohnte Nahrung darbeut. Daher hat man nicht ohne Grund immer geglaubt, daß, so wie die Kraft und Natur des Samens Einfluß habe auf gleichmäßige Bildung des Körpers und der Seele, eben so zu eben dem Zwekke auch die Eigenschaften der Milch sehr viel beitragen. Eine Bemerkung, die nicht nur bei Menschen sondern auch bei Thieren zutrift. Denn man lasse einmal junge Bökke von Schafen, oder Lämmer von Ziegen säugen, und man wird finden, daß bei diesen die Wolle spröder, bei jenen die Haare zärter werden. Selbst bei Bäumen und Feldfrüchten hat auf die Verschlechterung oder Verbesserung ihrer innern Beschaffenheit das Wasser, und der Boden, die sie nähren, gemeiniglich mehr Einfluß, als der Same selbst, und oft sieht man einen frohen lachenden Baum nach geschehner Verpflanzung beim Saft eines schlechtern Bodens verdorren. | [S. 91] Bei Gott! was hat man also für Ursachen, den Adel eines ebengebornen Menschen und seine mit so schönen Anlagen ausgerüstete Seele und Körper durch eine fremde, völlig ungleichartige Nahrung mit der Milch einer ganz andern Frau zu verhunzen? zumal, wenn die gebrauchte Amme eine Sklavin ist, oder doch von sklavischer Gesinnung; wenn sie, wie’s gemeiniglich der Fall ist, von einer fremden barbarischen Nazion, wenn sie boshaft, ungestalt, unzüchtig, dem Soff ergeben ist. Denn mehrentheils nimmt man ohne Unterschied die erste beste, die grade zu der Zeit stillt. Wollen wir denn unser Kind von einer verderblichen Seuche anstekken, und es aus dem garstigsten Körper und Geist Leben und Othem in seinen Körper und Geist hineinziehen lassen? Wahrhaftig grade da stekt’s, warum wir zu unsrer Verwunderung so oft eines keuschen Weibes Kind seinen Eltern weder an Körper noch Geist im geringsten ähnlich finden. Sehr passend und weise hat daher unser Virgil bei Nachbildung folgender Verse Homers:
„Ha! dein Vater war nicht Held Peleus, der Rossebezähmer,
„Thetis nicht Mutter Dir. Dich gebaren die blaulichen Wogen,
„Dich die jähen Klippen, weil unerweichlich dein Herz ist!
nicht bloß die Geburt, wie sein Original, sondern auch die Aufsäugung rauh und wild sein lassen. Denn er setzt aus sich selbst noch diesen Zug hinzu:
– Hyrkanische Tieger reichten die Brust Dir,
weil nemlich zum Beklaiben eines gewissen Karakters außerordentlich viel auf den Karakter der säugenden | [S. 92] Person und auf die Natur der Milch ankommt. Diese, die gleich anfänglich sich gewissermaßen mit dem väterlichen Samen vermischt hat, formt dann die noch ungebildeten Anlagen auch nach dem Körper und der Seele der Mutter. Und überdis wen kann’s Kleinigkeit dünken, daß jede Mutter, die ihr Kind verläßt, es von sich wegweißt, und andern zu ernähren giebt, daß die jenes zusammenhaltende Band der Zuneigung und Liebe, womit die Natur Eltern und Kinder an einander knüpft, zerreißt, oder wenigstens allmälig dünner macht und zerreibt? Denn hat sie erst das Kind anderswo hingegeben, und sich aus den Augen geschaft, so verlöscht allmälig das lebhafte Feuer der mütterlichen Zärtlichkeit, und alles laute Geräusch der ungeduldigen Muttersorge verstummt. Sie vergißt ihren Sohn, den sie an eine Amme verwiesen, beinah eben so, als hätte sie ihn durch den Tod verloren. Auch bei dem Kinde selbst wendet sich alle Zuneigung, Liebe und Vertraulichkeit gegen die, von der es ernährt wird, und es hat daher, wie es bei weggesetzten Kindern geschieht, nicht das mindeste Gefühl und Verlangen nach der Mutter, die es gebar. Und eben darum ist alle die etwanige Liebe, die Kinder, bei denen man die Keime der angebohrnen kindlichen Zuneigung auf diese Art erstikt und ausgerottet hat, noch gegen ihre Eltern zu haben scheinen, größtentheils nicht jene natürliche, sondern einzig und allein konvenzionelle auf bloßen Voraussetzungen gegründete Liebe.
[S. 93]
I.
Vom
Lesenlernen und andern verwandten Materien.
Das erste, womit sich die Unterweisung eines Kindes fast immer anfängt, ist das Lesenlernen in seiner Muttersprache. Um dis zu können, muß es sich zuerst mit den einzelnen Buchstaben genau bekannt machen. Kaum hat es Töne formiren gelernt, so geht diese folternde Uebung an, und es ist wol nichts seltnes, daß ein solches Kind zwei Jahr mit dem bloßen Abc hinbringt. Mancher Vater freut sich dann doch wol noch über die hurtigen Progressen. – Hat es endlich mit der größten Anstrengung und Marter die einzelnen Schriftzeichen kennen gelernt: so geht es zu den Sylben über – es lernt buchstabiren. Zuerst werden ihm bloß einfache abgerißne Sylben, die noch für sich keine Bedeutung haben, vorgelegt. Dann schreitet es zum Buchstabiren ganzer Wörter, ganzer Sätze; bis es endlich nach vieler Mühe und Zeit soweit kommt, lesen zu können, nicht so, daß man aus Akzent und Tonfall hört, es verstehe, was es liest, sondern bloß so, daß es eine Reihe Wörter, deren Bedeutung oder wenigstens Zusammenhang | [S. 94] es noch gar nicht einsieht, hinter einander herschnattert.
Und nun frag’ ich jeden, der jemals über den Menschen und seine allmälige Entwikkelung nachgedacht hat. Ist dis der Weg der Natur? Kann man sich eine unpsychologischere, widernatürlichere Methode denken? –
Die Entwikkelung einzelner Menschen geht eben den Gang, wie die des ganzen Menschengeschlechts. Sinnlicher Eindruk – Begrif – Streben, seine Begriffe mitzutheilen – Sprache – Bilderschrift für sinnliche Ideen – Hieroglyphenschrift für Nozionen – endlich Buchenstabenschrift: dis ist die Stuffenfolge, nach der die Ausbildung des psychologisch betrachteten Menschen überhaupt, und noch itzt die Ausbildung jedes einzelnen Menschen geschieht, oder vielmehr geschehen würde und müßte, wenn man die Natur allein würken ließe, oder höchstens, statt ihr Hände und Füße zu binden, ihr auf ihrem Gange nachhülfe, und die ihr im Wege liegende Hindernisse wegräumte. Aber dafür kehrt man lieber den Gang der Natur völlig um. Man fängt an, durch Buchstabenschrift zu unterrichten, da man’s erst durch Bilderschrift thun sollte. Man fängt an, Sprache zu lehren, ehe das Kind Begriffe hat; gleich als wenn Sprache für sich betrachtet Mutter von Begriffen wäre, und nicht vielmehr umgekehrt Begriffe und das Streben, sie mitzutheilen und dadurch zu berichtigen, die Sprache erzeugten. | [S. 95]
Aber, sagt man, das Kind bekommt doch schon gleich vom ersten Augenblik seines Daseins sinnliche Eindrükke, und formt gleich früh diese zu Begriffen. Richtig! Aber was sind das für Begriffe? Lauter Einzelideen, keine Nozionen; dunkle, höchstens verworrne, nicht deutliche Begriffe – denn erst Mehrheit der Begriffe erzeugt Deutlichkeit –; isolirte, nicht zusammenhängende Begriffe. Erst nach und nach reihen sich die Vorstellungen zu einer Kette aneinander, erst nach und nach werden die Begriffe durch Unterscheidung und Kombinazion hell und deutlich; erst nach und nach erhebt sich das Kind durch Vergleichung und Absonderung zu allgemeinen Begriffen.
Man lasse Kinder also erst eine Menge sinnlicher Eindrükke, und dadurch weiter sinnliche Ideen sammlen – nur ja nicht zu heterogene Ideen, sondern nur solche, die sich leicht unter einander vergleichen und zusammenketten lassen, damit die Seele nicht desto mehr an Intension der Begriffe verliere, je mehr sie an Extension gewinnt. – Man lasse die Kinder ferner erst, durch fortgesetzte Bestrebung und Uebung, diese ihre nach und nach eingesammleten Ideen auszudrükken suchen, mit einem Worte man lasse sie erst zusammenhängend sprechen können, ehe man sie lesen lehrt, ehe man sie Buchstaben kennen lehrt, die für sich genommen ihnen keine Idee geben. Denn um die bloße Idee von der Figur der Buchstaben ist’s doch wol nicht zu thun. | [S. 96]
Man unterrichte die Kinder erst durch Bilderschrift, von den Gegenständen, mit denen sie zunächst umgeben sind. Durch diese bringe man sie nach und nach zu immer größerer Menge und Deutlichkeit der Begriffe. Man leite sie durch eben diese Bilderschrift allmälig von einzelnen Begriffen zu verglichnen Begriffen d. i. zu Urtheilen.
Der Erfolg von der gewöhnlichen Methode ist, daß sich Kinder frühzeitig gewöhnen, zu lesen, ohne zu verstehen, Töne auszusprechen, ohne ihre Bedeutung ganz zu durchschauen. Das dauert nachher durch’s Knabenalter, und oft – wie man an dem gemeinen Mann sehen kann – durch’s ganze Mannesalter fort. Das Kind fängt an, Wörter auszusprechen, die es nicht versteht, sondern blos ausspricht, um sie aussprechen zu können. Der Knabe und Jüngling setzten diese Gewohnheit bei Erlernung fremder Sprachen und Lesung der Schriftsteller darin fort; und der Mann hat wenigstens nachher außerordentlich viel Mühe, sich von dieser Angewöhnung loszureißen. – Ich weiß es mich noch gut zu besinnen, wie ich ehmals als Knabe meine lateinischen Autoren las. Ich übersetzte Wort vor Wort, und glaubte, weil’s nun doch deutsch wäre, so verstünd’ ich’s. Und ich verstand im Grunde nichts davon; höchstens etwa den Historiker, da wo er bloß erzälte. Ich las meinen Zizero von der Natur der Götter; ich las meinen Horaz. Hätte mich jemand gefragt: Verstehn Sie denn die Männer? – Die Frage würde mich nicht wenig verdrossen haben. Aber hätt’ er | [S. 97] weiter gefragt: was giebt denn Zizero in diesem Buche für Beweise vom Dasein Gottes? Wie dachten die Epikuräer, wie die Stoiker und die Platoniker über das göttliche Wesen, und wessen Räsonnement finden Sie am richtigsten – oder hätt’ er mich gefragt: was will Horaz mit dem und dem Bilde sagen; was deutet er durch die und die Metaphor an? Uebersetzen Sie mir einmal dis poetische Bild, diese dichterische Phrase in trokkene nakte Prosa – wahrhaftig, ich wäre verstummt, und hätte mich vor mir selbst geschämt. Ich bin überzeugt, daß dis die Geschichte vieler jungen Leute ist. – Und eine Hauptursache davon ist die frühe Gewöhnung an bloße Worte, die freilich immer einen Begrif in der Seele hervorbringen, aber nur einen höchstverworrnen. Es kann auch gar nicht anders kommen, wenn ich das Zeichen eher lerne, als den Begrif, wenigstens eher, als ich diesen Begrif mit Deutlichkeit denken kann. Wenn ich aber schon vorher den Begrif habe, und dann erst das Zeichen lerne, so kann und muß meine Vorstellung wo nicht vollkommen deutlich, doch höchst klar sein. Ich lerne zwar in spätern Zeiten sehr oft Begrif und Wort zugleich; aber alsdann mach ich mir auch den Begrif nicht durch das Wort deutlich, wie man’s von dem lesenlernenden Kinde erwartet, sondern diese Deutlichkeit entsteht durch andre schon vorhandne homogene Begriffe, an die sich der neue Begrif anschließt, und Licht von ihnen borgt.
Also noch einmal, das Kind lerne nicht eher lesen, bis es zusammenhängend denken – von da | [S. 98] bis zum Philosophiren und Grübeln ist noch ein weiter Abstand – und zusammenhängend reden kann.
So weit war ich gekommen, als mein Freund D * * * zu mir ins Zimmer trat.
So beschäftigt? sprach er; stör’ ich Sie?
Ich. Sie stören mich nie. Ich spreche so gern meine Ideen mit Ihnen durch. Es wird mir dann alles weit heller, und ich bekomme die Dinge von mehrern Seiten und aus mehrern Gesichtspunkten zu sehn.
Er. Nicht geschmeichelt, Freund! Aber was arbeiten Sie?
Ich. Sie wissen ja, daß ich seit einiger Zeit an pädagogischen Fragmenten arbeite, über diese und jene zum Schul- und Erziehungswesen gehörige Materie.
Er. Die ewigen Erziehungsschriften! – Es bleibt ja doch immer beim Alten. Ihr Herren schreibt und schreibt. Man liest’s allenfalls; aber jeder thut dann am Ende doch, was ihm gelegen ist. Kein Mensch richtet sich ja darnach.
Ich. Nicht so allgemein, Freund! Freilich wird vieles, sehr vieles in den Wind geredet, aber darum doch nicht alles und nicht bei allen. Sie können doch unmöglich leugnen, daß die neuern Erziehungsschriften nicht schon in vielen Stükken eine vortheilhafte Veränderung verursacht haben. Man wird doch nachgrade immer aufmerksamer auf die Erziehung. Und der Schlendrian kommt von Tage zu Tage immer weiter herunter. Mit einem | [S. 99] mal geht das Ding freilich nicht. Es geht mit der Schulverbesserung eben so allmälig, wie mit der moralischen Besserung. Soll darum nicht mehr gepredigt, und keine moralische Schrift mehr gedrukt werden, weil der Nutzen davon so wenig merklich ist?
Er. Meinethalben denn! wenn nur nicht in der Menge von pädagogischen Schriften, die sich von Messe zu Messe immer mehr häufen, beständig der alte Kohl wieder aufgewärmt würde. Nichts neues, gar nichts auffallendes. Was hundertmal gesagt ist –
Ich. Läßt sich auch wol noch zum hundert und erstenmal sagen. Was wahr und nützlich ist, kann nie oft genug gesagt werden. Doch damit Sie sehen, ob mich Ihr Vorwurf trift – so lesen Sie einmal, wenn Sie grade nichts bessers zu thun haben.
Ich gab ihm den angefangenen Aufsatz über das Lesenlernen hin. Er las, schüttelte zuweilen den Kopf und lächelte. Endlich, nachdem er fertig war, sagte
Er. Neu genug! Abgedroschen und alltäglich kann man’s freilich nicht nennen. Aber dafür so paradox!
Ich. Mags! wenns nur wahr ist. Und haben Sie je eine Schrift gelesen, deren Verfasser, wenn er nicht nachbeten sondern untersuchen wollte, nicht hie und da in Paradoxien gefallen wär? Die Sache läßt sich erklären. Der wahre Untersucher theilt dem Publikum nur diejenigen Untersuchungen | [S. 100] mit, wo er entweder würklich irgend eine neue Idee gefunden hat, oder doch gefunden zu haben glaubt. Und so kann die größte Paradoxie mit Wahrheit – oder wenn das zuviel gesagt ist – mit der Ueberzeugung, daß das, was ich sage, Wahrheit sei, sehr wohl bestehen. Es giebt freilich Schriftsteller, selbst theologische, denen es nicht um Wahrheit zu thun ist, sondern die die Paradoxien, die sie in ihren Schriften auskramen, selbst nicht glauben, und bloß Aufsehen damit machen wollen. Aber das sind nicht Untersucher. Schurkische Sophisten sinds. So bald ich’s ihnen anmerke, flieh ich ihren Umgang und ihre Schriften. Und wenn ich je ihnen gleich werde – –
Er. Nicht so hitzig, mein Lieber. Ihre Paradoxie hier ist, wenn sie auch nicht wahr sein sollte, doch eben keine Todsünde. Sie haben sie wenigstens so ziemlich herausgeputzt. Indeß – überzeugt bin ich nicht. Sie werden mir’s doch nicht übel nehmen, wenn ich Ihnen ein Paar Einwürfe macht.
Ich. Hab’ich das je? Das ist ja grade der rechte Weg, Wahrheit zu finden.
Er. Gesetzt, es ginge nun nach Ihrer Methode – wenn würde denn da das Kind lesen können? Ich denk immer, ziemlich spät.
Ich. Eins später, eins früher. Körperliche Anlage und der Zusammenstoß von Umständen, in die ein Kind versetzt wird, werden, wie in allen Stükken, so auch hier den Unterschied machen. Denn in Ansehung der psychologischen Anlagen, | [S. 101] muß ich nur Ihnen gestehen, glaub’ ich keinen natürlichen Unterschied. Dis glaubt’ ich, noch eh ich wußte, daß Hevetius es geglaubt, und eh ich eine Zeile in seinem Buche de l’ésprit gelesen. – Mag denn aber das Kind auch noch so spät erst lesen lernen – besser doch, als eine frühe Lesemaschine daraus gemacht. Meinethalben mag das Kind 12 Jahr, und älter werden, ohne lesen zu können–
Er. Aber ein Pursche von 12 Jahren und noch nicht lesen! wo denken Sie hin?
Ich. Petrus Ramus, der größte Philosoph seines Zeitalters, konnte, wie Skaliger versichert, im 10ten oder 11ten Jahre noch keinen Buchstaben lesen. Und will ich denn, daß so wie dieser das Kind bis dahin gar keine Kenntnisse bekommen soll? Es soll sich ja eben durch vorher eingesammlete Begriffe vorbereiten zum Lesen.
Er. Aber wie und woher diese Begriffe?
Ich. Wie? durch Bilderschrift, wie ich schon in meinem Aufsatze gesagt, und durch mündlichen Unterricht.
Er. Wird’s denn den besser verstehen als den schriftlichen?
Ich. Ganz gewis, wenn er vernünftig und psychologisch eingerichtet wird – wenn das Kind vom leichtern zum schweren, von sinnlichen Begriffen zu sinnlichen Urtheilen, von Einzelideen zu Nozionen fortgeleitet wird. | [S. 102]
Er. Sprachen soll also wol, wie ich merke, das Kind in den ersten zehn, zwölf Jahren gar nicht lernen?
Ich. Nein, und darüber hab’ ich mich in einem eignen Aufatz erklärt. Nehmlich fremde Sprachen. Eine Muttersprache soll es anfänglich blos nur durch Uebung lernen; sprechenlernen nehmlich. Denn Schreiben lernt es sie durch’s Sprechen nicht.
Er. Was soll denn aber das Kind in den Jahren, die sonst zum Sprachstudium bestimmt sind, studiren? Wissenschaften doch wol nicht?
Ich. Ja und nein, nachdem Sie das Wort Wissenschaft nehmen. Kein System, um’s Himmelswillen nicht. Kein philosophischer Vortrag der Wissenschaften; – bloß historisch anfänglich, oder doch nur soviel Räsonnement, als das Kind schon fassen, nur soviel, als aus ihm selbst durch sokratische Methode herausgehaspelt werden kann. Waren Sie bei der letzten öffentlichen Sitzung unsrer französichen Akademie[43] gegenwärtig?
Er. Ja; aber wie gehört das hierher?
Ich. So haben Sie denn unsers vortreflichen Ministers von Zedliz Vorlesung über einige Ursachen des Schulverfalls und über manche Fehler in der gewöhnlichen Methode mit angehört. Ich weiß gewiß, daß sein scharfsinniges Räsonnement Sie eben so sehr gefreut hat, als mich. O Freund, vorher ehrt’ ich in ihm nur den würksamen Minister Friedrichs – aber itzt auch den spähenen philosophischen | [S. 103] Forscher, den aufmerksamen beobachtenden Jugendfreund. Was für herrliche Aussichten verspricht uns das alles! – Aber erinnern Sie sich noch, daß er in seiner Vorlesung das als einen Hauptfehler des gewöhnlichen Schulunterrichts rügte, daß man sich so sehr vor blos historischem Unterrichte scheute, und die Kinder, die noch nicht philosophiren könnten, doch gleich alle Wissenschaften philosophisch lehren wollte? Vielleicht haben Sie’s vergessen. Denn Sie können unmöglich so aufmerksam gewesen sein als ich.
Er. Ich besinne mich. Aber im Vertrauen, sagen Sie mir, was würden Sie nach dieser Methode für Gelehrte ziehn? Halbgelehrte voll Eigendünkel, mechanische Vielwisser, die von nichts, was sie gelernt haben, Grund angeben können.
Ich. Wer hat ihnen denn gesagt, daß das Kind schon zum Gelehrten gebildet werden soll? Erst wollen wir den Menschen und den Bürger erziehen – dann den Gelehrten und Künstler. Unser Lehrling soll räsonniren – aber erst dann, wenn er’s kann, wenn die zu einer philosophischen Kenntnis nöthigen Seelenkräfte bei ihm allmälig aufgekeimt sind.
Er. Aber es giebt doch so viele Wissenschaften die ohne Räsonnement gar nicht recht gelehrt und gelernt werden können.
Ich. Mit solchen Wissenschaften werd’ ich also nicht anfangen; sondern mit denen, die der Seelenkraft, die sich bei Kindern am ersten zu äußern pflegt, am meisten entsprechen. | [S. 104]
Er. Und was wäre das für eine Seelenkraft?
Das Gedächtnis unstreitig.
Ich. Nichts weniger. Es giebt kein einziges Seelenvermögen, das weniger Naturgabe und weniger angeboren wäre, als dieses. Kein Mensch bringt Gedächtnis mit auf die Welt. Er muß es sich selbst erst schaffen durch wissentliche und am meisten durch ihm selbst unbewußte Uebung. Der Grad dieser Uebung bestimmt den Grad des Gedächtnisses. Freilich äußert es sich früher beim Menschen als manche andre Vermögen. Aber es ist nicht das erste, nicht gleich beim Kinde. Erst wenn es eine Menge Begriffe, die es zusammenreihen kann, erlangt hat, entsteht Gedächtnis bei ihm. Doch das alles hab’ ich in einem besondern Aufsatze über das Sprachstudium gesagt.
Er. Was wäre denn also das Seelenvermögen, das sich am ersten beim Kinde äußert, und durch dessen Bearbeitung Sie die andern Seelenvermögen hervorbringen wollen? Denn ich merke schon, Sie halten kein einziges Seelenvermögen für angeboren, sondern glauben, daß alle erst durch Erziehung, und Umstände, und Zufall hervorgebracht werden müssen. Nicht?
Ich. Sie könnten’s getroffen haben. Doch das würde uns itzt zu weit führen. – Das erste Seelenvermögen, das sich bei Kindern äußert, und nothwendig äußern muß, ist sinnliche Neugier. Dies lassen Sie uns also zuerst warten und pflegen. – Es wächst wol auch von selbst, aber doch kommt sehr viel auf die Richtung an, die wir | [S. 105] ihm gleich anfänglich geben. Durch Pflegung dieses Seelenvermögens wollen wir denn nachgrade Einbildungskraft – denn diese entsteht zuerst aus der sonnlichen Neugier, indem ich mich bestrebe, den sinnlichen Eindruk fortdaurend zu machen – Gedächtnis, Witz, Scharfsinn, Beurtheilungskraft u.s.w. hervorbringen, oder, wenn Sie lieber wollen, vom Schlummer aufwekken. Wenigstens wachen nie die verschiednen Seelenvermögen alle zu gleicher Zeit bei einem Menschen auf, sondern eins nach dem andern. Wekt man sie zu zeitig – mit Gewalt kann man’s freilich wol zwingen – so sind die dafür auch um destoweniger munter und thätig, und eh man sich’s versieht, nikken sie wieder ein. Um Ihnen nur Ein Exempel zu geben, glauben Sie nicht, daß der Verlust des Gedächtnisses bei vielen großen Gelehrten daher gekommen, weil man dis Vermögen zu früh bei ihnen herausgetrieben hat?
Er. Das ist wol möglich. Doch sagen Sie mir itzt nur, was für Wissenschaften soll denn also Ihr Lehrling zu allererst treiben?
Ich. Wenn Sie’s durchaus Wissenschaften nennen wollen – alle diejenigen, die ihn mit der Sinnenwelt rings um ihn her, die schon von selbst seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, bekannt machen – nach diesen diejenigen, die seine Einbildungskraft beschäftigen.
Er. Namentlich? –
Ich. Zu den Kenntnissen der ersten Art gehörte also Naturhistorie (nicht Physik), Kenntnis | [S. 106] des Himmels, Kenntnis der verschiednen Künste und Handwerker, Kenntnis der bürgerlichen Einrichtung und der in die Sinne fallenden Staatsverfassung. Doch es giebt so mancherlei Gegenstände für die sinnliche Neugier eines Kindes, daß sie sich nicht leicht so genau klassifiziren lassen.
Er. Und die Kenntnisse der andern Art? für die nun schon nach und nach erwekte Einbildungskraft.
Ich. Historie, Geographie – Sie werden sich wundern, daß ich diese als Gegenstände für die Imaginazion ansehe. Gewöhnlich sieht man sie freilich blos als Objekte des Zeichengedächtnisses an, und formt sich denn nach dieser Voraussetzung Methoden, die uns nicht Geschichte und Länderkenntnis, sondern todte Namen von Personen und Oertern ins Gedächtnis pakken. Denn um nur eins anzuführen, zur geographischen Kenntnis eines Landes ist’s doch wol nicht hinlänglich, alle Eintheilungen, Städte, Flüsse u.s.w. an den Fingern herzusagen wissen, sondern es gehört dazu vornehmlich auch das, daß ich mir in der Seele ohne Karte ein Bild von diesem Lande machen kann, von seinen mannigfaltigen Biegungen und Einschnitten, von den Krümmungen dieses oder jenes Flusses, der es durchschneidet, von den ohngefähren Entfernungen der Oerter von einander u.s.w. mit einem Worte, daß ich, ohne just eine Karte vor mir zu sehen, stets eine unsichtbare Karte in der Imaginazion bei mir habe[44]. Nur eine | [S. 107] solche geographische Einsicht ist nützlich für die Historie, und nur darin, dünkt mich, besteht der Werth der Geographie, daß sie nicht blos Hülfsmittel, sondern auch nothwendiges Erfordernis | [S. 108] zur Geschichtskenntnis ist. Daß aber eine solche geographische Kenntnis nicht Werk des Gedächtnisses sei, sondern der Imaginazion, werden Sie doch nicht leugnen wollen?
Er. Das nicht. Aber auch die Historie wollen Sie mit Ihrem Lehrling als Sache der Imaginazion treiben? Ich sehe wol ohngefehr ein, wie das zu machen wär. Aber wenn Sie das Gedächtnis dabei nicht zu Hülfe nehmen – was für eine unrichtige, verwirrte, unchronologische Geschichtskenntnis wird daraus entstehen!
Ich. Verstehn Sie mich recht. Die Methode der Imaginazion ist die erste. Auf sie soll nachher noch zeitig genug die Methode des Gedächtnisses folgen, sobald dis durch Bearbeitung der sinnlichen Neugier und der Imaginazion zu einiger merklichen Größe herangewachsen sein wird. Aber wissen Sie auch, was ich glaube, daß daraus, daß man die Ordnung dieser Methoden in der Historie umgekehrt, oder vielmehr die Methode der Imaginazion ganz bei Seite gesetzt hat, was daraus für ein nachtheiliges Phänomen am litterarischen Horizont entstanden?
Er. Und welches?
Ich. Daß unsre itzigen Zeiten gar keine oder doch sehr wenige Geschichtschreiber haben, solche nemlich, die wir einem Thuzydides, Livius, Sallust u.s.w. getrost an die Seite setzen könnten. Geschichtforscher haben wir genug, zum Theil sehr scharfsinnige, und unter ihnen Männer, dergleichen das ganze Alterthum keinen einzigen aufzuweisen | [S. 109] hat. Wie das zugeht? Der Geschichtforscher wird hauptsächlich durch die Methode des Gedächtnisses – ich schließe die Beurtheilungskraft nicht aus – der Geschichtschreiber hingegen durch die Methode der Imaginazion (freilich mit nachherigem Hinzukommen der erstern Methode) gebildet. Es lassen sich von dem Phänomen auch wol noch andre Ursachen angeben. Aber dis, dünkt mich, ist doch die wichtigste. Meinen Sie nicht?
Er. Das Phänomen mag wahr sein. Ihre Erklärung scheint mir aber doch ein wenig gesucht. Itzt mag ich indeß mich nicht darauf einlassen. Wir sind von unsrer Materie ziemlich weit abgekommen.
Ich. Nicht zu weit. Nur ein Paar Schritte, und wir sind wieder da. Sie sehn, mein Lehrling soll, eh er lesen lernt, nichts weniger als müssig sein; und er wird, eh er’s anfängt, schon eine ganz hübsche Zal von Kenntnissen im Kopfe haben: zumal, wenn ich ihn nun schon allmälig zu allgemeinen Begriffen werde fortgeleitet haben. Die Treppe, durch die ich ihn da hinaufführe, fängt mit sinnlichen Ideen und Bildern der Imaginazion an; aber durch allmälige Verallgemeinerung werden die Stuffen immer breiter und weiter. Und so kommen wir sacht ohne Schwindel hinauf. Es giebt freilich Genies, die diese Treppe hinauffliegen; aber vermuthlich werden auch sie erst geraume Zeit hinaufgegangen sein. Nach der gewöhnlichen Methode müssen die meisten Köpfe sie hinauffallen. Aber warum mußten sie zu hastig gehn und Stuffen überspringen | [S. 110] wollen? Mein Lehrling soll langsam aber dafür desto sichrer hinaufwandern. – So vorbereitet wird er lesen und gern lesen. Früher wär’s ihm Arbeit gewesen, itzt ist’s ihm Vergnügen. Denn nun weiß er, wozu es ihm hilft. Das wußt’ er vorher nicht, und ich hätt’s ihm, so lang er Kind war, nicht begreiflich machen können. Aber nun, wenn er nachgrade merkt, wie sehr er seine erlangten Begriffe aus Büchern erweitern und verdeutlichen kann; nachdem ich selbst ihm schon aus manchen seinen Kräften angemessenen Büchern werde vorgelesen, und ihn dadurch immer mehr gereizt haben – wenn nun die körperliche Erziehung schon immer weniger Zeit fordert, und wenn er selbst nun das Wachsen seiner Erkenntniskräfte merkt und sich darüber freut: – nun erst will ich ihn im Lesen unterrichten, und ich brauche dann keine Fibel dazu, ich brauche auch keine Basedowsche Spiele, die das lieber von einem Gegenstande zum andern flatternde Kind doch am Ende ermüden, weil es sich durch keine Methode gern figiren läßt. Mein Lehrling hat nun schon Stetigkeit und Ueberlegungsfähigkeit genug, um die Sache mehr im Ernste zu treiben. Ich werde daher auch gleich mit ihm ein ordentliches zusammenhängendes Buch zu lesen anfangen. Und zwar soll dis erste Buch, das er zu lesen bekommt, von Sachen handeln, die er schon durch mündlichen Unterricht gefaßt hat. Daraus muß bei ihm eine seinem Alter sehr natürliche Freude entstehen, die Begriffe, die er sich nach und nach gesammlet hat, nun auch gedrukt zu finden. | [S. 111]
Er. Das seh’ ich itzt wol; ein groß Theil geschwinder wird nun das Lesenlernen mit Ihrem Lehrling gehen, als es bei der gewöhnlichen Methode möglich ist.
Ich. Nicht bloß unendlich geschwinder wird er lesen lernen – ich denke, eine Woche wird das höchste sein, was wir brauchen – sondern auch besser, ich meine den Begriffen, Empfindungen, Leidenschaften u.s.w. angemessen. Und dis wird er nun ohne künstliche Anweisung lernen. Er versteht die Sachen, die er ließt; und das daraus entstehende Gefühl wird ihm von selbst den richtigen Akzent auf jedes Wort legen, und seine Stimme steigen und sinken, ruhen und schweben, schreiten und laufen, gleiten und wanken, kurz alle Töne so moduliren lassen, wie es die Natur der jedesmaligen Vorstellung und Empfindung, die der Schriftsteller erregt, mit sich bringt. Wieviel eine solche Geschiklichkeit werth sei, das wissen Sie. Wie ungemein selten sie sei – auch das wissen Sie. Es giebt einige Leute, die sich durch lange Uebung und anhaltendes Studium diese Geschiklichkeit in einem gewissen Grade erworben haben. Aber Studium, Freund – bleibt Studium, und man sieht’s ihm immer an, daß es nicht von selbst gewachsne Natur ist. Finge man indeß Deklamazion (so wollen wir die beschriebne Geschiklichkeit der Kürze wegen nennen) und Lesen zu gleicher Zeit an; dann würden gute Anagnosten keine so große Seltenheit mehr sein. Aber dazu muß man in der Jungend gebildet werden, wenn das Sprachorgan | [S. 112] noch seine ganze Biegsamkeit hat; und man muß durchaus nicht durch die gewöhnliche Buchstabier- und Lesemethode durchgegangen sein. Ein Kind, das Sachen liest, die es nicht versteht, kann nicht deklamieren, kann nicht jedem Worte seinen rechten Ton geben; sondern es muß in einem singenden monotonischen Gedächtnißakzent mir nicht Begriffe, sondern Sylben zuzählen. Aber damit Sie sehen, Freund, wie fruchtbar meine Lesemethode ist, und wie gern ich mir aus meinen Ideen Brükken zu andern Ideen hinüberbaue – nicht nur beßre Vorleser würden wir haben, wenn’s nach meiner Methode ginge, sondern auch beßre Prediger – was nehmlich die Deklamazion betrift – und – verzeihen Sie mir diese Zusammenstellung – auch beßre Aktörs. Sagen Sie aufrichtig, woher der unausstehlich leiernde Ton so vieler Prediger? Woher anders als aus der gewöhnlichen Methode – –
Er. Sagen Sie lieber, mehrentheils aus Nachahmung. Einer bildet sich immer nach dem andern. Der Kandidat glaubt, weil dieser oder jener aus andern Ursachen mit Beifall gehörte Prediger in einem heulenden, dumpfen, kreischenden, donnernden, stoßenden, zankenden, singenden Tone predigt, so sei das schön. Er macht’s also nach und macht’s noch ärger. Doch weil dazu schon ein großer Mangel der Beurtheilungskraft gehört, so wollt’ ich lieber sagen, daß die mehresten unvorsätzlich und unmerklich die Deklamazion derer, die sie oft hören, nach und nach annehmen. Sehn | [S. 113] Sie, so erbt der gewöhnliche Kanzelton von einem auf den andern fort, und jeder vermengt dann die Erbschaft noch mit seiner eigenthümlichen Habe.
Ich. Das ist alles wahr, aber es ist nicht der einzige, nicht der Hauptgrund. Den müssen wir früher suchen. In der gewöhnlichen Buchstabier- und Lesemethode liegt er. Der dabei unvermeidliche Ton hängt sich an Ohr und Sprachorgan so fest an, daß er nachher nur mit der größten Mühe loszureißen ist; und dann, indem man sich anstrengt, ihn fortzuschaffen, fällt man in diesen oder jenen andern eben so widrigen Fehler. Hätte man in der Jugend gleich mit Verstand und richtig lesen gelernt – so würde man auch als Mann jedem Vortrage seinen rechten Ton zu geben wissen. Man würde natürlich reden, so reden, wie man spricht. Sagen Sie mir, reden nicht die mehresten Prediger auf der Kanzel einen ganz andern Ton, als sie im gewöhnlichen Umgange haben? – davon abstrahirt, daß freilich öfters der öffentliche Vortrag einen etwas wärmern, feierlichern und leidenschaftlichern Ton erfordert, als man gemeiniglich im täglichen Leben hat; wiewol ich doch auch sehr überzeugt bin, daß eine Predigt, die ohne Niedrigkeit völlig in Sprache und Ton des gemeinen Umgangs redete, weit mehr Würkung zur Belehrung und Rührung haben würde, als jede in beiden Stükken zur Rede aufgestutzte Predigt.
Er. Sie haben Recht, und ich muß gestehen, von unsern durch herausgegebene Predigten berühmten | [S. 114] Kanzelrednern hab’ ich nur erst einen gehört, der auf der Kanzel grade so, mit eben der Natur spricht, wie in seinem Hause, und auf keine Weise irgend einen affektirten Ton mit einmischt. Kennen Sie ihn, Freund?
Ich. Ob ich ihn kenne? Ich kenne ihn von mehrern Seiten. Dis ist seine kleinste Tugend. Aber kennen Sie nicht selbst Leute, die sogar in ihren alltäglichen Reden einen unnatürlichen Ton haben, Leute, die bei ihren Bitten und freundschaftlichen Komplimenten ihre Stimme so moduliren, daß ein Ausländer, der die Worte nicht verstünde, glauben sollte, sie zankten mit uns; oder die doch den Akzent ganz falsch vertheilen, und das unrichtigere in der Aussprache herausheben, die Hauptsache hingegen niederdrükken?[45] | [S. 115]
Er. Sie haben mir selbst ja zuweilen dergleichen Fehler vorgeworfen, und es war mir immer lieb, wenn Sie mich darauf aufmerksam machten.
Ich. O ich weiß, daß ich selbst öfters so was mit unterlaufen lasse. – Um von unsern Aktörs noch ein Wort zu sagen, – wie wenige gute Deklamatörs finden Sie unter ihnen? Auch der beste braucht, eh man sich’s versieht, einen falschen Akzent. Aktörs und Aktrizen mit einer guten wenigstens erträglichen Akzion sind häufiger, als solche, die gut deklamiren. Und doch ist – nach meinem Gefühl wenigstens – wenn nicht beides zusammen sein kann, ein Aktör, der schlecht agirt, aber gut deklamirt, weit erträglicher als ein andrer, der noch so ziemlich agirt, aber falsch und unnatürlich deklamirt. Der letzte ist unausstehlich auf der Bühne, und er thut dem Dichter weit mehr Schaden, als jener.
Er. Sie haben Recht. Die Garriks und Brokmanns sind eine Seltenheit. Aber nun – wie weit sind wir schon wieder von unsrer Materie abgekommen!
Ich. Nicht weiter, als es gewöhnlich in freundschaftlichen Gesprächen zu geschehen pflegt. – Was wollten Sie sagen?
Er. Ja – wie und nach welcher Methode wollen Sie nun Ihrem schon ziemlich erwachsnem Lehrlinge das Lesen beibringen? Natürlich werden Sie doch erst damit anfangen, daß sie ihn die einzlen Buchstaben kennen und aussprechen lehren. | [S. 116] Drauf werden Sie ihn einzle Sylben lesen lassen – und so allmälig –
Ich. Den ganzen alten Schlendrian wieder nachmachen. Und dazu sagen Sie natürlich? So würd’ ichs machen, wenn ich mit Fleiß recht unnatürlich verfahren wollte. Nein, Freund –
Er. Wie denn? – Ich muß bekennen, ich versteh Sie nicht.
Ich. Sie werdens. – Ich will mit Fleiß etwas weit ausholen. Sagen Sie mir, nach welcher Methode denkt Gott? Nach der analytischen oder synthetischen? – so, daß er erst das Ganze überschaut und in seine Theile zerlegt, – oder so, daß er alle einzle Theile zusammenfaßt, und sie zum Ganzen zusammendenkt? – so, daß er von der Folge zurükgeht auf den Grund, oder so, daß er von dem ersten Grunde an auf alle unendlich mannigfaltig zusammengekettete Folgen hinabsieht?
Er. Unstreitig nach der letztern, nach der synthetischen Methode, wenn wir anders dis Wort von Gott, wegen des Aufeinmalzusammenseins aller Ideen bei ihm, gebrauchen können. – Aber ums Himmelswillen, ich sehe gar nicht, wo das hinaus will.
Ich. Nur Geduld! Sie werdens bald sehen. Sagen Sie mir nur ferner, welche Methode ist bei dem Menschen natürlich?
Er. Der Mensch denkt nach beiden, nach der analytischen und synthetischen. | [S. 117]
Ich. Ich frage, welche bei ihm natürlich ist. Nach welcher denkt der Mensch, sich selbst überlassen, eh er angeleitet wird zum Räsonniren? Welche entsteht nach und nach von selbst bei ihm?
Er. Freilich wol die analytische Methode. Er muß sich vom einzelnen zum allgemeinern, vom Zusammengesetzten zum Einfachen, von der Folge zum Grunde erheben. Aber der erwachsne und gebildete Mensch – denn das Kind und der Wilde thuns freilich nie – denkt doch auch offenbar nach der synthetischen.
Ich. Das thut er freilich. Aber nicht zuviel daraus geschlossen! Mich dünkt, wir denken nur immer über die Sache synthetisch, über die wir vorher schon analytisch gedacht haben. Erst zerlegen wir das Ganze, und dann erst, zu beßrer Ueberschauung desselben, fassen wir diese einzlen Theile in der Vorstellung wieder zusammen. Und eben so verfährt der Mathematiker. In seinen Schriften räsonnirt er nach der synthetischen Methode, aber er hatte die Sache vorher schon nach der analytischen durchgedacht. Auch der Philosoph macht’s so. Ich gestehe, wir selbst räsonniren itzt synthetisch; aber ich weiß nicht, wie es gehn würde, wenn ich die Sache nicht vorher schon nach der analytischen Methode durchgedacht hätte. Itzt weiß ich, wohin ich endlich kommen werde. Sie hingegen wissen das itzt nicht, oder müssen’s wenigstens rathen. Und grade so geht’s immer, wenn man, ohne analytisch zuvor gedacht zu haben, gleich mit der synthetischen Methode anfängt. Man | [S. 118] weiß alsdann nicht, wohin man am Ende kommen wird. Man geht von einem gewissen Grunde aus – aber noch ist alles dunkel vor uns. Der Grund, von dem wir ausgehn, kann uns auf mehr als eine Folge führen. Ich gestehe Ihnen zwar, diese Art des synthetischen Denkens ohne vorhergegangenes analytisches ist die Mutter der mehresten Erfindungen. – Nach der analytischen Denkmethode wird nie eine Erfindung gemacht, sondern nur eine schon daseiende berichtigt und verbessert – Aber eben darum sind denn auch fast alle Erfindungen mehr Werk des Zufalls als des Nachdenkens. Der Erfinder ging von einem gewissen Begriff aus. Er konnte auf wer weiß wie viele Folgen desselben stoßen, die ihn zu nichts geführt haben würden. Daß er grade auf diese und keine andre Folge stieß, auf die Erfindung nehmlich, war Zufall, war ein Glük für ihn; er hätte eben so gut auch vorbeigehen können. Er ging einen breiten unterirrdischen Gang. Daß er den Muth dazu hatte, sich hineinzuwagen – dis ist sein einziges Verdienst. Daß er grade auf die Seite und auf den Flek traf, wo der Schatz verborgen lag – dis war Zufall. Er hätte statt des Schatzes auch eben so wol nichts finden, eben so wol in eine unergründliche Tiefe hineinstürzen können. – So dunkel nun der Weg vor mir ist, wenn ich gleich synthetisch zu denken anfange, so hell seh ich die ganze Gegend vor mir liegen, wenn ich erst analytisch räsonnirt habe, und nun hinterher synthetisch denke. Aus dem allen folgt also – | [S. 119] die analytische Methode ist dem Menschen natürlich, und daß er nur nach ihr, wenigstens immer zuerst, denken muß, ist wesentliche Natureinschränkung bei ihm, so wie es bei Gott wesentliche Vollkommenheit ist, immer alles synthetisch zu denken, und nie der Analyse nöthig zu haben.
Er. Aber so helfen Sie denn auch mich endlich aus dem unterirdischen Gange heraus, in dem ich nun schon eine gute Weile herumtappe. Sagen Sie mir endlich, was wollen Sie mit diesem so weit hergeholten Räsonnement?
Ich. Nichts, als es nun nur noch ganz kurz auf die gewöhnliche Methode des Lesenlernens anwenden, da das Kind erst Buchstaben und Sylben, und darauf erst Sätze und Wörter aussprechen lernt. Dis ist offenbar synthetische Methode. Das Kind muß von den Theilen zum Ganzen, vom Grunde zur Folge fortschreiten. – Denn die Buchstaben und Sylben sind offenbar Theile des Worts, und sie, oder – wenn Sie’s recht genau haben wollen – ihre Zusammensetzung ist Grund des Worts, so wie überhaupt von jedem zusammengesetzten Dinge der Grund, warum es dis und kein andres Ding ist, in der Art seiner Zusammensetzung liegt – Sie sehn also, ob ich vorhin Unrecht hatte, die gewöhnliche Methode des Lesenlernens unnatürlich zu schelten. Unnatürlich, im buchstäblichen Sinn. Die natürliche Methode wäre die analytische.
Er. Ich muß gestehen, Sie haben mich mit Ihrer Schlußfolge überrascht. Aber noch seh ich | [S. 120] immer nicht recht ein, wie die analytische Methode eigentlich anwendbar sei beim Lesenlernen.
Ich. Wie? Auf keine andre Art, als daß der Lehrling ohne Abc und ohne A b=ab gleich ganze Wörter und Sätze zu lesen anfängt.
Er. Aber wie soll er sie lesen können, wenn er noch keinen einzigen Buchstaben kennt?
Ich. Anfänglich werd’ ich ihm, während er mit mir ins Buch hineinsieht, alles, Wort vor Wort vorsagen, und er selbst soll also zuerst weiter nichts zu thun haben, als mir nachzulesen, ganz kleine einen vollen Sinn gebende Abschnitte nehmlich. Denn selbst einzle Wörter soll er mir nicht lesen, damit die Methode auf keine Weise synthetisch sei. Was sagen Sie dazu?
Er. Daß ich nicht Ihr Lehrling sein mögte. Bewahr einen doch der Himmel vor dem Chinesischen Lesenlernen! Denn im Ernste, so muß man ja grade wie die Chineser für jeden Begrif ein eignes Zeichen lernen.
Ich. Ein eignes? Daß müssen sie ja gewissermaßen auch bei der gewöhnlichen Methode. Allein der Unterschied ist sehr in die Augen fallend. Die Zeichen der Chineser sind einfach, unsre Buchstabenschrift ist zusammengesetzt. Und das wird mein schon herangewachsener Lehrling sehr bald von selbst merken, daß jedes Wortzeichen aus mehrern einzelnen Zeichen zusammengesetzt ist, die alle Augenblikke, nur in einer andern Stellung und Verbindung wieder vorkommen. Und so wird er nach und nach die Bedeutung der einzelnen einfachen | [S. 121] Zeichen durch mein Vorsprechen und sein Nachsprechen lernen, ohne daß ich ihm ihre Namen sage. Unvermerkt drükt sich ihm durch Analogiegefühl das ganze Alphabet ein, und erst dann, wenn er fertig hintereinander lesen kann, werd ich ihm die Namen der einzlen Zeichen, die er ihrem Werthe nach schon kennt, hernennen. Warum Kindern bei der gewöhnlichen Methode, auch wenn man sie in Spiele verwandelt, das Kennenlernen der Buchstaben so schwer wird – ist leicht einzusehen. Sie sprechen in ihren Reden diese einzelnen Zeichen nie besonders jedes für sich aus. Sie sehn sie also außer aller Verbindung. Sie betrachten diese Zeichen als ein Ganzes, da es doch nur Theile sind; und sie werden daher dabei eben so stutzig wie ein Erwachsener, der von irgend einem ihm noch völlig unbekannten Ganzen einen abgerißnen Theil zu sehn bekommt. Vornemlich stoßen sie in Ansehung der Konsonanten, die doch nie ohne mittönenden Vokal ausgesprochen werden können, auf eine ihnen im Anfange unauflösliche Schwierigkeit. Wenn sie gehört haben, diese Figur: B wird ausgesprochen: Be, und sie denn doch nachher beim Buchstabiren lernen, daß sie Band nicht aussprechen müssen: Beaende – so verwirrt sie das. Sie wissen nicht, wie das zugeht, und man kann’s ihnen im Anfange nicht deutlich machen, vornehmlich wenn der Lesenlernende noch ein beinahe ganz begrifleeres Kind ist.
Er. Das läßt sich alles so ganz hübsch im allgemeinen hinräsonniren. Aber die Erfahrung | [S. 122] müssen wir doch auch um Rath fragen. Wenn Sie nun jemand fragte: Haben Sie’s probiert?
Ich. So sagt ich: Ja!
Er. Wen haben Sie denn je im Lesen unterrichtet?
Ich. War’s nicht im deutschen, so war’s doch im griechischen. Im ersten fehlte es mir bloß an Gelegenheit, einen schon etwas erwachsenen Lehrling das Lesen zu lehren. Aber was im griechischen geht, muß im deutschen vieler Ursachen wegen noch leichter gehen. Und so hab ich meine Methode probat gefunden. Ich las meinem Schüler ein Paar griechische Zeilen vor, und damit er gleich Ideen damit verband, übersetzt’ ich’s ihm auch gleich. Nun mußt’ er nachlesen und nachübersetzten zugleich. Ich mußte stark einhelfen das erste mal. Das zweite mal schon weniger, und immer weniger, und eh ich mich’s versah, konnt’ er lesen, ohne doch sein Alpha Bäta hersagen zu können; und er hatte noch obendrein gleich eine Anzahl griechischer Wörter mit ihren Bedeutungen sich eingedrükt. Ich hatte nur 2 Stunden wöchentlich mit ihm, und doch konnt’ er in 3 Wochen schon ziemlich hinter einander lesen. Bei allen Sprachen geht das Lesenlernen freilich nicht so leicht von Statten. Das läßt sich aber erklären. Beim Hebräischen z. E. darum, weil das Auge, das sonst bei andern Sprachen gewohnt war, von der linken Hand nach der rechten hinzugehen, nun nicht nur umgekehrt wandern, sondern auch erst bei jedem Buchstaben, eh es weiter links geht, niederwärts nach dem Vokalpunkt | [S. 123] sehen muß. Dazu gehört unstreitig längere Uebung. So auch bei andern Sprachen, wo der Unterschied der Zeichen nicht markirt und auffallend genung ist, und viele Zeichen sich sehr ähnlich sind, welches z. E. wie mich dünkt beim Lateinischen und bei den meisten orientalischen Sprachen mehr statt findet, als beim Griechischen und – beide Sprachen setz’ ich immer sehr gern zusammen – beim Deutschen. Bei einigen andern Sprachen wird das Lesen dadurch schwerer, weil einerlei Vokalfigur mehrere Bedeutungen hat, und in dieser Verbindung so, in einer andern anders ausgesprochen wird, z. E. im französischen, im Polnischen, und nirgends mehr als im Englischen, wo fast jeder Vokal doppelte Aussprache hat. Daher man denn auch hier niemals durch bloße Regeln lesen lernen wird, sondern nie anders als durch Uebung unter beständiger Aufsicht eines Lehrers, der uns vorliest. Freilich würd’ auch das Lesen in unserer Muttersprache noch um ein wenig leichter für Einländer und besonders für Ausländer werden, wenn wir endlich einmal allgemein anfingen, unsre Orthographie noch mehr nach der Aussprache zu biegen, und jeden nicht ausgesprochnen Vokal und Konsonant auch ungeschrieben zu lassen.
Er. Wenigstens aber werden Sie doch eben wegen der Orthographie Ihren Lehrling, wenn er nun schon lesen gelernt hat, buchstabiren lassen?
Ich. Wozu das? Haben Sie je lateinisch buchstabirt oder französisch?
Er. Nein. | [S. 124]
Ich. Und schreiben’s doch richtig. Sie sehn also, daß das Buchstabiren zur Rechtschreibung nichts, gar nichts beiträgt, sondern der unnatürlichste langweiligste Zeitverderb ist, den man sich denken kann. Und sehn Sie nicht, daß grade die Leute, die in ihrer Kindheit am meisten und längsten haben buchstabiren müssen, grade am allerunrichtigsten schreiben. Ich meine die gemeinen Leute. Denn nirgends wird doch das Buchstabiren so sehr getrieben als in den Landschulen, und in den kleinen Winkelschulen in den Städten. Es ist auch natürlich. Wer buchstabirt giebt mehr auf den Klang der einzlen Buchstaben Acht, als auf den des ganzen Worts. Sie wissen aber, wieviel oft ein Buchstabe, in der Verbindung mit andern, von der Natur seines Klanges verliert. Dieser wird durch die Stellung, in der der Buchstabe nun zu stehen kommt, bald härter, bald weicher, bald höher, bald tiefer, als er für sich genommen ist. Daraus muß also durchaus unrichtige Orthographie – wenn man das noch Orthographie nennen kann – entstehn. Und doch ist die Orthographie immer der einzige Grund, worauf die Vertheidiger des Buchstabirens fußen, und ich muß mich wundern, wie einige von unsern neuern pädagogischen Schriftstellern sich noch desselben annehmen können. Ich fordre Sie mit allem Ihrem Scharfsin heraus, mir irgend einen andern ungesuchten Vertheidigungsgrund des Buchstabirens anzuführen. | [S. 125]
Er. Ich werfe Ihnen den Handschuh zurück. Ich sehe nun wol, daß Ihr Lehrling, wenn er erst lesen kann, des Buchstabirens nicht mehr sonderlich nöthig hat, und daß er vielleicht gar im Lesen nur wieder zurükkommen würde. Aber sagen Sie mir, wie viel Zeit denken Sie wol durch Ihre Methode zu gewinnen?
Ich. Viel, sehr viel. Doch das läßt sich nicht genau bestimmen. Aber noch weit mehr denk ich an Lernlust meines Schülers zu gewinnen. Haben Sie das im vorigen Jahr zu Leipzig herausgekommne Abcbuch vom Inspekter Beseke zu Burg gesehen?
Er. Ich muß Ihnen gestehen, meine litterarische Neugier erstrekt sich so weit nicht.
Ich. Aber meine. Und in der That, Freund, zur Verfertigung eines guten Abc- und Lesebuchs gehört meines Bedünkens mehr Scharfsinn und Beurtheilungskraft als zur Kompilation eines ganzen dikken Quartanten. Weiße und Rochow, beide haben durch ihre Arbeiten der Art sich kein kleines Verdienst gemacht, und meine Verehrung für sie hat dadurch keinen kleinen Zuwachs bekommen. Einem großen Manne ist nichts zu klein. Aber nach diesen beiden Männern noch ein neues Abc- oder Lesebuch schreiben zu wollen, ist immer ein wenig mißlich. Und wenn denn doch am Ende nur wieder ein Ding nach dem alten Schlendrian zum Vorschein kommt, wo das Kind durch mühsames Kennenlernen der einzlen Buchstaben, und durch dornichtes Buchstabiren aller Arten von leichten | [S. 126] und schweren Sylben – wenn man sie auch noch so ordentlich klassifizirt – endlich zu gut gemeinten, aber dem Kinde noch unverständlichen moralischen Sentenzen hingeleitet, oder vielmehr fortgestoßen wird – so muß man, man wolle oder nicht, wenigstens ungeduldig werden. Und grade so macht’s hier der Verfasser dieses neuen Abcbuchs. Rathen Sie einmal, wie viel Zeit er nach seiner Methode zum Lesenlernen nöthig glaubt. Hören Sie ihn selbst im Vorbericht: Nach der in diesem Buch gegebnen Anweisung kann man einem erwachsnen Menschen von mittelmäßiger Fähigkeit in 24 Tagen das Lesen beibringen etc. – 24 Tage und ein erwachsner Mensch! das mag vielen sehr wenig dünken, aber mir scheint es sehr viel. Wenn ich nicht in weniger als halb so vielen Stunden – nur freilich nicht hintereinander – meinen Lehrling dahin bringen will, eben so fix und fertig als ich selbst zu lesen, so –
Er. Halt! Nicht zuviel versprochen. Erst müssen Sie doch den Versuch machen.
Ich. Setzen Sie doch einmal den Fall, Sie könnten nicht griechisch lesen, sondern wollten es erst von mir lernen. Und Sie wollten verzweifeln, es nicht binnen 12 Stunden eben so gut, als ich selbst, zu können?
Er. Ja; aber weil ich schon andre Sprachen lesen kan, so wird es mir bei einer neuen immer leichter. | [S. 127]
Ich. Immer schwerer, mögt’ ich sagen. Und rechnen Sie denn das nicht, daß Sie in dem vorausgesetzten Fall von der fremden Sprache noch nichts verstehen; mein Lehrling hingegen, wenn er in seiner Muttersprache zu lesen anfängt, schon alle Ausdrükke versteht? Doch wir wollen uns darüber nicht streiten, wie viel oder wenig Zeit dazu gehört. Das beruht auf zu vielen Verhältnissen, die man nicht genau zum voraus bestimmen kann. Aber wissen Sie, was ich als den größten Vortheil von meiner Methode, das Lesen beizubringen, ansehe?
Er. Nun?
Ich. Daß der junge Mensch gleich ganze Begriffe in den Kopf bekommt, und sich nicht erst durch Brüche von Begriffen durchwinden muß. Denn ein einzler Buchstabe ist ja immer nur ein Bruchbegrif, und eine Sylbe ebenfalls, nur mit einem größern Nenner. Bei der alten Methode gewöhnt man also das Kind früh, sich mit halben und Viertel- und Achtelbegriffen zu begnügen. Aber man scheint es überhaupt bei manchen Methoden recht drauf angelegt zu haben, die junge Seele zu solchem bruchartigen Denken zu gewöhnen. Denn alles Dekliniren und Konjugiren gehört dahin. Kein Wunder also, daß man so wenige Denker findet, weil man die Seele gleich in der Kindheit lähmt.
Er. Sie haben mich beinahe ganz auf Ihre Seite gebracht. Aber, weil’s doch mit dem Lesen zusammenhängt, wie denken Sie’s mit dem Schreiben zu machen? | [S. 128]
Ich. Dies soll mein Lehrling lernen, sobald er fertig nicht nur gedruktes, sondern auch geschriebnes lesen kann. Ist es aber nicht höchst sonderbar und widersinnig, daß wir Deutsche zweierlei Schrift haben, eine für den Druk, eine andre zum Schreiben? Unsre Kinder müssen also einerlei Sache zweimal lernen, und unter dem gemeinen Mann findet man alle Augenblikke Leute, die zwar gedruktes, aber nicht geschriebnes lesen können. Vernünftig wär’s, wenn wir endlich einmal eine von den beiden Arten Schriftzeichen fahren ließen, und wie andre Nationen zu Druk und Schrift völlig einerlei Zeichen nähmen. Ging es nach meinem Rath, so würfen wir die im Druk üblichen Buchstaben, als die schwerern und gekünsteltern weg. Wenn nur erst einige vollständige Schriftgiessereien für Buchstaben von der Art, wie wir sie im Schreiben brauchen, angelegt würden; und nur erst einige angesehne Offizinen sich nach und nach, je nachdem ihre alte Typen abgenutzt wären, dieser neuen zu bedienen anfingen – ich wette drauf, es sollte bald überall Mode werden. Am liebsten aber säh’ ich, wenn wir beide Arten der Schrift ganz wegwürfen, und uns im Druk und Schreiben, wie andre europäische Nazionen, immer und bloß der lateinischen Lettern bedienten. Dadurch erleichterten wir dem Ausländer wenigstens um etwas die Erlernung unsrer Sprache, und ersparten ihm den barbarischen, gothischen Anblik. Denn im Grunde sind doch unsre Lettern, wie wir sie im Druk gebrauchen, größtentheils lateinisch, nur verhäßlicht. Das runde haben wir ins ekkige, | [S. 129] das grade und schlanke ins gekräuselte und gewundene verwandelt.
Er. Ich wär’s sehr zufrieden, zumal da man in der lateinischen Schrift weit eher und leichter schön schreiben lernt, als in der deutschen. Doch um zurükzukommen, vermuthlich wollen Sie’s beim Schreibenlernen auf eben die Art gehalten wissen, wie beim Lesenlernen, daß man nicht erst einzle Buchstaben und Sylben zu schreiben anfange, sondern gleich ganze Wörter.
Ich. Richtig, wiewol es hier nicht mehr so großen Einfluß hat. Indes lernt der Schüler doch auf diese Art sogleich, die Buchstaben geschikt aneinander hängen, und gewöhnt sich nicht an eine so unebne und ungleiche Schreiberei, wie man bei so vielen Leuten sieht und – mit Erlaubniß zu melden – auch bei Ihnen und mir. Doch um Ihnen gleich meine ganze Schreibmethode kurz zu sagen – die in Kupfer gestochnen oder auch nur geschriebnen Vorschriften kann ich nicht recht leiden. Der Schüler bekommt dabei gar nicht zu sehen, wie die Züge aus einander fließen, und einer sich an den andern auf die leichteste Art anschließt; sondern alles steht auf einmal fertig vor ihm da. Besser also sieht er seinen Lehrer, indem dieser etliche Worte schreibt, genau auf die Hand, und merkt sich, wie und wo dieser die Feder ansetzt, und welchen Weg er sie gehn läßt. Drauf versucht er’s nachzumachen, und nun sieht der Lehrer ihm wieder eben so auf die Hand und auf jeden Zug, den er macht, um ihn gleich auf der Stelle beim Enstehen der Buchstaben | [S. 130] zu korrigiren, und nicht erst nachher, wenn er schon eine ganze Seite heruntergeschrieben. Ueberhaupt aber wird der schon etwas erwachsne Lehrling sich weit eher zu einer festen sichern Hand gewöhnen, als ein Kind, dessen Gelenke noch zu biegsam sind, und noch nicht ihre ganze nachherige Festigkeit haben. Denn mich dünkt, so wie das fehlerhafte Lesen erwachsner Leute daher kommt, weil sie zu früh damit anfingen – so fließt auch die schlechte Schreiberei der mehresten Leute größtentheils aus der selben Quelle her. Daß man Kinder auch gleich eben so gut mit der linken als mit der rechten Hand zu schreiben gewöhnen müsse, hab’ ich schon in einer Anmerkung zu einem übersetzten Fragment aus dem Platon gesagt, und die Sache hat sehr vielfältigen Nutzen. Mit der Zeit könnte man es durch Uebung dahin bringen, daß man allenfalls mit beiden Händen zugleich schreiben könnte, wo nicht verschiedne Dinge – weil dazu auch erst eine besondre psychologische Uebung gehörte – doch eine und dieselbe Sache, von der man mehrere Abschriften haben wollte. Denn daß man schreiben und gut schreiben kann, ohne just immer mit dem Auge die Feder zu begleiten – die Erfahrung macht jeder, der viel zu schreiben hat, alle Augenblik. – Sie wissen also, Freund, meine ganze Methode, nach der ich das Lesen- und Schreibenlernen bei der Jugend eingerichtet wünschte.
Er. Aber wie wird’s bei Ihrer ganzen Methode mit den frühzeitigen Genies? | [S. 131]
Ich. Müssen wir denn dergleichen haben? Und haben wir sie je ohne gegen die Natur arbeitende Treibhäuser? Warum wollen wir denn durchaus im Winter Kirschen essen? Warlich, eine Lekkerei, die der Mühe, die man auf sie wendet, nicht werth ist. Nur Geduld bis der Sommer kommt und der junge Baum groß und stark wird, und sich festwurzelt in Gottes nährendem Erdboden – die Früchte werden alsdann weit saftiger und schmakhafter.
Er. Und Sie wollen Ihre Methode durch den Druk bekannt machen?
Ich. Warum nicht? Prüfung verdient sie wenigstens gewis.
Er. Das wol. Aber die meisten werden Ihnen kurz und gut den Einwurf entgegensetzen, daß nach der alten Methode doch so viele wakkre Männer und große Gelehrte aufgezogen worden.
Ich. Und dann werd ich antworten, daß man freilich auch mit zusammengebundnen Beinen oder auch rükwärts gehen kann; aber daß man in beiden Fällen etwas langsam vom Flek kommt, und alle Augenblikke Gefahr läuft, auf die Nase oder auf den Hintern zu fallen.
Er. Aber immer wird man Ihre Ideen zu sonderbar finden. Man wird drüber lachen und an kein Prüfen und Versuchen denken, sondern es ruhig beim Alten lassen.
Ich. Das ist sehr möglich, und dann tröst’ ich mich mit meiner guten Absicht. Doch in unsern izzigen pädagogischen Zeiten darf ich hoffentlich nicht | [S. 132] befürchten, mit bloßem Hohngelächter abgefertigt zu werden. – Aber wissen Sie was, Freund? Ich werde, statt meine Methode nun noch in einem eignen zusammenhängenden Räsonnement weiter zu entwikkeln, unsre ganze itzige Unterredung mit allen Ihren Einwendungen drukken lassen. Mein Gedächtnis ist so ziemlich treu, daß ich allenfalls den ganzen Gang unsers Gesprächs behalten habe. Kann ich’s Ihnen doch nachher noch zuschikken, daß Sie selbst sehen, ob und wie ich Ihre Einwürfe behalten habe. Sind Sie’s zufrieden?
Er. Meinethalben. Es ist eine sehr gemächliche Art der Autorschaft. – Aber – wir haben eine hübsche Zeit verschwatzt.
Ich. Besser mit solchen Dingen, als mit Stadt und Staatsneuigkeiten. – – –
Mein Freund ging, und ich setzte mich hin, unsre Unterredung zu Papier zu bringen. Ich that das mit allen ihren Episoden, damit es einem würklichen Gespräch ähnlich bliebe, und weil ich glaubte, daß wir auch in diesen Episoden und Digreßionen vielleicht manche nicht ganz unwichtige und alltägliche Reflexion gemacht hätten.
[S. 133]
II.
Gäb es nur eine einzige Sprache, die überall und von allen und zu allen Zeiten verstanden und geredet würde, wie groß wäre der Zeitgewinn, wie groß der Vortheil für die Ausbildung der höhern Erkenntniskräfte, für Künste und Wissenschaften! Viele haben es mit mir gewünscht und geträumt. Denn so fromm der Wunsch ist, so ist er doch, was so mancher andre der Art ist, – Traum. Eine allgemeine Sprache, im eigentlichsten Sinn des Worts – ist sie möglich? Sie wär’s, wenn Klima und Bedürfnis, und Erkenntnissphäre, und Seelentwikkelung überall und zu allen Zeiten dieselben wären.
Mehrheit der Sprachen und deren Erlernung ist also einmal ein nothwendiges Uebel in der Welt, das denn aber doch wie jedes andre Uebel auch seine gute Seite hat. Wer diese nicht zu finden weiß, hat sich’s selbst oder seinen Lehrern zu verdanken, daß Sprachstudium ihm Ekel ward und ist. Aber wer hieß ihn auch das Mittel für den Zwek nehmen? essen, bloß um zu essen, nicht um satt zu werden? Die Erlernung einer Sprache, sie habe Namen wie sie wolle, ist immer nur Mittel – sollte es wenigstens immer nur sein – nie Zwek. Aber diese leidige, auch immer noch zu unsern Zeiten so sehr | [S. 134] gewöhnliche Verwechselung der Begriffe ist die wahre Quelle des Widerwillens, den so viele Leute gegen alles, was wie Sprachstudium aussieht, haben. Sie ist zugleich die Ursache des langsamen Fortschritts der mehresten jungen Leute in Sprachkenntnissen. Denn sie ist die Mutter von so vielen unpsychologischen geistzerknikkenden Methoden, daß es kein Wunder ist, wenn man auf Zeitlebens einen Groll gegen alle Sprachkenntnisse einsaugt, und sich nachmals mit Grauen in die Jahre zurükdenkt, da Kornel und Zizero unschuldiger Weise unsre Seele auf die Folter spannten. Kein Wunder, daß alsdann dem erwachsenen Manne vor der Speise ekelt, die ihm in seinen Knabenjahren verleidet ward, daß er die unsterblichen Werke der größten Geister Roms und vornehmlich Griechenlands Pedanten und Mäusen überläßt, und es für Schulfuchserei hält, in Schriften zu wühlen, aus denen man doch nur Vokabeln und Phrases lernen könne.
Wenn also Spracherlernung immer nur Mittel und untergeordneter Zwek sein sollte, so wäre ferner doch nichts natürlicher, als daß man dem, der diese oder jene Sprache lernen wollte oder sollte, vorher deutlich machen müßte, wozu sie ihm Mittel sein werde. Geschieht dis nicht, so bringt man ihn auf einen Weg, von dem er nicht weiß, wo er ihn hinführen wird. Ist’s ihm alsdann zu verdenken, wenn ihm die Zeit lang wird, oder wenn er sich unter den ersten besten Baum hinwirft, um gemächlich zu schlafen? – Aber daran denkt man gewöhnlich nicht. Der Knabe soll und muß lateinisch | [S. 135] lernen. Warum und wozu? das weiß er nicht, und niemand sagt’s ihm. Freilich würde der Lehrer oft selbst sehr in Verlegenheit kommen, wenn er es z. E. dem künftigen Handwerker oder Kaufmann deutlich machen sollte, warum er Latein lernen müßte. Aber er hat es denn auch sich selbst zuzuschreiben, wenn sein Schüler gähnend und träge
ut iniquae mentis asellus
hinter ihm herschlendert. Noch einmal, wer kann’s ihm verdenken? Er weiß ja noch nicht, ob’s der Mühe werth sei, sich’s etwas Schweiß kosten zu lassen. Ein dikker Nebel verhüllt ihm den Weg, und nie oder sehr spät sieht er das bezauberte Schloß hervorschimmern. Aber hätte man ihm doch nur wenigstens ein Porträt von der darin hausenden verwünschten Prinzessin gewiesen!
O ihr Lehrer, wenn ihr wollt, daß euer Schüler rasch dahergehen soll, so zeigt ihm zuvor das Ziel, eh er noch einen Schritt thut; und o mögt’ ich’s doch jedem Vater laut genug zurufen können, seine Kinder nichts, gar nichts lernen zu lassen, von dessen künftiger Nutzbarkeit für sie man sie nicht vorher überzeugt hat. Eltern, es ist nicht genug, daß ihr selbst davon überzeugt seid, auch eure Kinder müssen’s sein, und solang sie es nicht sein können, so lange laßt sie auch nichts dergleichen lernen. Die Ueberzeugungsmethode ist freilich sehr verschieden, nach den Verschiedenheiten des Alters, und der Fähigkeiten. Aber sie kann nur dem Vater oder Lehrer schwer fallen, der sich selbst nicht Rechenschaft davon zu geben weiß, warum er seine Kinder oder | [S. 136] Schüler dis oder jenes überhaupt, und warum insonderheit schon itzt lernen läßt.
Sprachkenntnis ist gewöhnlich die erste Nahrung, die die Seele des keimenden Menschen empfängt. Mit dem 4ten Jahr (oft leider gar schon früher) fängt das Kind an, seine Muttersprache zu studiren d.h. es lernt buchstabiren und lesen. Drei, vier Jahre verstreichen dem Kinde unter wahrer Henkersmarter, eh es zu einiger Fertigkeit kommt, aus einem Buche eine Reihe Wörter, die es nicht versteht, herzuschnattern oder herzusingen. Und nun – wenn’s auch noch nicht sonderlich mit dem Deutschlesen gehn sollte – nun vorwärts mit dem Knaben in die lateinische Schule, nachdem er etwa schon vorher zu Hause vom fünften oder sechsten Jahr an über Mensa und Pater geschwitzt hat, ohne begreifen zu können, warum er solch unzusammenhängendes Zeug lernen müsse. – Aber nunmehr geht die Plagezeit recht eigentlich an. Ist der Knabe zu einem bürgerlichen Metier bestimmt, so vergißt er freilich zum Glük noch zeitig genug seinen Speccius, Muzelius, Licht, den angehenden Lateiner, und wie die elenden Tröster weiter heißen, die allen Schulverbesserungsvorschlägen zum Trotz dennoch immer noch auf so sehr vielen Schulen dem Anfänger in der lateinischen Sprache eingetrichtert und eingebläut werden. Freilich zwar ein Zeitverlust von 4 oder 5 Jahren, in denen das Kind so manches andre mit seiner Bestimmung näher zusammenhängende hätte lernen können. Doch ein solcher Verlust ist in der meisten | [S. 137] Eltern und Lehrer Augen eine Kleinigkeit. – Soll aber der Knabe gar studiren, so plagt er sich aufs allerwenigste 10; sehr oft aber auch 14 bis 16 Jahre mit dem Latein, und am Ende hat er’s doch nur selten so weit gebracht, um eine halbe Seite – ich sage nicht, dem Genius der Sprache gemäß, sondern bloß ohne grobe grammatikalische Fehler schreiben zu können, wiewol doch dergleichen öfters selbst bei manchen sich sehr gelehrt dünkenden Männern in ihren lateinisch seinsollenden Schreibereien mit unterlaufen. Einen klaßischen Autor der lateinischen Sprache aber nicht etwa stümperhaft exponiren, sondern vernünftig erklären, und über Schönheiten und Fehler räsonniren zu können – das ist ein zweiter Berg, zu dem noch wenigere in so langer Zeit hinaufklimmen.
Wie geht das zu? Wie kommts, daß man so gewaltig viel Zeit hauptsächlich auf eine einzige Sprache verschwendet, und doch am Ende nur eine so stümperhafte Kenntnis davon bekommt? Viel, sehr viel liegt an dem Schlendrian der gewöhnlichen Methoden, der sich durch Tradizion vom Lehrer auf den Schüler fortpflanzt, der, wenn er selbst einmal Lehrer wird, seine Schüler nun eben den sandigen Weg durchwaten läßt, den er selbst in seiner Jugend wandern mußte.
Aber sollten’s die Fehler der Methode allein ausmachen? Fängt man nicht etwa überhaupt mit dem Sprachunterricht – er geschehe nach welcher Methode er wolle – zu früh an? – | [S. 138] Wie? sagt man, zu früh? Sprachstudium ist ja Sache des Gedächtnisses, und grade dis Vermögen ist ja bei Kindern und Knaben am stärksten. Ich werde paradox scheinen, aber ich kann mir nun einmal nicht helfen. Ich kann weder die eine noch die andre Voraussetzung so gradezu und ohne Einschränkung zugeben.
Sprachkenntnis nichts weiter als Sache des Gedächtnisses oder doch hauptsächlich? Richtig, wenn’s zur Erlernung einer Sprache hinlänglich wär, einige hundert Schok Vokabeln zu wissen. Aber ich irre mich sehr, oder das Vermögen Aehnlichkeiten und das Vermögen Unterschiede der Dinge zu erkennen, oder – nach Baumgartenschem Gepräge – Witz und Scharfsinn kommen bei gründlicher Erlernung einer Sprache noch weit mehr in Betrachtung als das Gedächtniß. Durch jenen, den Witz, beobachten wir nicht nur die mannigfaltigen Aehnlichkeiten der zu erlernenden Sprache mit unsrer Muttersprache und mit andern schon erlernten Sprachen, sondern auch die innern Aehnlichkeitsverhältnisse in der Sprache selbst, zwischen den Wörtern, Redensarten, Konstrukzionen. Noch wichtiger aber ist beim Sprachstudium der Scharfsinn, um theils den Unterschied der fremden Sprache mit unsrer Muttersprache und andern schon erlernten Sprachen, theils vornemlich die oft sehr feinen Unterschiede zwischen den Wörtern und Redverbindungen in der neuen Sprache selbst, zu entdekken. Und die ganze Auslegungswissenschaft ist im Grunde Werk des Witzes und Scharfsinns. | [S. 139] Jener erkennt: dis oder jenes ist der Sinn eines Autors, weil es zu seinem Zwek und in den ganzen Zusammenhang paßt. Dieser räsonnirt: dis oder jenes ist nicht der Sinn eines Autors, weil es gegen alle übrige Umstände zu heterogen ist.
Das Gedächtnis erkennt nicht Bedeutung der Wörter und Sinn der Sätze – man müßte denn eine Sprache papageienmäßig lernen – es sammlet und behält sie blos, wie es dis bei jeder Erkenntnisart thut. Jenes ist das Geschäft der höhern Erkenntniskräfte. Freilich kann ich auch Zeichen jeder Art behalten, ohne ihre Bedeutung ganz zu durchschauen. Aber ein solches Zeichengedächtnis und ein solches Behalten desselben mag eher zu jeder andern Sache brauchbar sein, als zum Spracherlernen, wenn es mir nemlich bei meinem Sprachstudium mehr um Ideen als um Ideenzeichen zu thun ist, und ich diese letztern bloß um jener willen lerne.
Zeichengedächtnis und Sachgedächtnis lassen sich zwar in der Spekulazion trennen, aber nicht im vernünftigen Gebrauche. Freilich sind beide Gedächtnisarten bei verschiednen Menschen und in verschiednen Ideensphären auch selbst sehr verschieden. Aber wer behaupten kann, daß es bei Spracherlernung bloß aufs Zeichengedächtnis ankomme, und daß man ohne das räsonnirende Gedächtnis ein gründlicher Linguist werden könne, dem werd’ ich nicht zuviel thun, wenn ich ihn lieber für alles in der Welt als für einen Sprachkenner halte. | [S. 140]
Man wende mir nicht ein, daß große Linguisten öfters so außerordentlich stumpf sind, so bald sie, nicht etwa über eine schwere philosophische Materie, sondern selbst nur über Gegenstände des gemeinen Lebens räsonniren sollen. Ich gebe das zu, aber daraus folgt nicht, daß sie nicht bei ihrem Sprachstudium und noch mehr bei ihren kritischen Arbeiten vor allen andern Seelenvermögen besonders den Scharfsinn sollten geübt haben. Es folgt bloß soviel, daß diese Kraft der Seele durch den bloß einseitigen Gebrauch nun eine solche Form und Richtung bekommen, daß sie sich schwer in andre Lagen hineinbiegen läßt. Und dis begegnet dem Philosophen eben so sehr, ja öfters noch weit mehr als dem Linguisten. Der scharfsinnigste Methaphysiker, der im Reiche der Abstrakzion wie zu Hause ist, geräth nicht selten bei alltäglichen Gegenständen in sonderbare Verlegenheiten. Der Philosoph und der wahre Linguist, beide brauchen und üben Scharfsinn; bloß der Gegenstand, und die daraus erwachsende verschiedne Modifikazion eines und desselben Vermögens unterscheiden sie. Es wär ungereimt, den für keinen Musikverständigen gelten lassen zu wollen, der zwar auf der Violine, aber nicht auf dem Klaviere spielen könnte. Und viel anders ist doch in der That der Unterschied, von dem wir reden, nicht. Das Gedächtniß ist blos das Magazin, worinn alle unsre Kenntnisse, sowol die philosophischen als philologischen aufgeschüttet werden. Und selbst in Ansehung dieses Vermögens findet eben der Unterschied Statt, wie in Ansehung | [S. 141] des Scharfsinns, daß es nemlich bei verschiednen Menschen auch ungemein verschiedne Richtungen und Beziehungen haben kann. Manchem wird es leicht, Namen zu behalten; aber Zalen, so nah verwandt auch beiderlei Gegenstände sind, entschlüpfen ihm augenbliklich. Wer wollte ihm darum gleich Mangel des Gedächtnisses zuschreiben?
Aber wenn ich auch allenfalls zugeben wollte, daß das Gedächtnis beim Sprachstudium wo nicht allein, doch hauptsächlich würke – so wird man mich doch nie überreden, daß grade bei Kindern das Gedächtnis, selbst nur das Zeichengedächtnis, in seiner größten Stärke sei, und daß dis Alter daher schon von der Natur selbst recht eigentlich zur Spracherlernung bestimmt werde. Ich dürfte mich allenfalls bloß auf die Erfahrung berufen. Wie ausserordentlich schwer fällt es einem Kinde, auch nur wenige zusammenhängende Sätze, wenn sie ihm auch völlig verständlich sind, auswendig zu lernen! Wie muß es sich selbst bei einzelnen Vokabeln ängstigen und martern. Ausnahmen beweisen hier nichts und sie lassen sich immer erklären. Ich rede von dem, was gewöhnlich ist. Allein man braucht auch nur einen deutlichen Begrif davon zu haben, was Gedächtnis ist, und nach welchen Gesetzen es würkt, um einzusehn, daß es so und nicht anders kommen könne.
Das Gedächtnis, es sei Zeichen- oder Sachgedächtnis, würkt immer nach dem Gesetze der Ideenassoziazion. Je mehrere und stärkere Ideen | [S. 142] mit einer andern vergesellschaftet waren, um desto leichter wird diese in der Seele reproduziert. Eine aufwachende Idee wekt zugleich andre schlummernde auf. Vornehmlich findet dis Statt, wenn eine Vorstellung mit sinnlichen Eindrükken vergesellschaftet war. Wir brauchen alsdann nur denselben oder einen ähnlichen sinnlichen Eindruk zu bekommen, um uns der andern ehmaligen Vorstellung, wenn sie übrigens auch noch so unsinnlich und abstrakt war, zu erinnern.
Wenn wird also das Gedächtnis am stärksten würken? Dann, wenn die Seele nur erst sehr wenige und noch dazu isolirte Begriffe hat, wenn die sinnlichen Eindrükke nur noch schwach und gleichsam halb sind, so daß sie gewissernassen vor der Seele nur vorbeigleiten? Oder dann, wenn die Seele schon nach und nach eine Menge sinnlicher und unsinnlicher Begriffe gesammlet hat, die sich in einander fugen und schlingen, und dadurch Leichtigkeit des Erinnerns verursachen; wenn die Sensazionen wegen mehrerer Festigkeit und Geübtheit der sinnlichen Organen einen stärkern und bleibendern Eindruk machen? – Mit einem Wort, es ist, dünkt mich, sehr augenscheinlich, daß das Gedächtnis beim Kinde am schwächsten, beim Jünglinge und bei dem Manne in seiner Blüthe, am stärksten sein müsse. Daraus läßt sich zugleich erklären, warum das Gedächtnis bei manchen ganzen Völkerschaften so ausserordentlich schwach ist. Um nur ein Exempel anzuführen; daß die Einwohner von Terra del Fuego den neuesten Nachrichten| [S. 143] zufolge von so ungemein kurzem Gedächtnis sind, das rührt doch unstreitig aus ihrem Mangel an Ideen her; so wie dieser Ideenmangel weiter in der Armuth ihres Klima und Landes gegründet ist, das ihnen fast die nothwendigsten Bedürfnisse versagt.
Es versteht sich von selbst, daß, wenn das Gedächtnis mit einer gewissen Leichtigkeit würken soll, es nicht lediglich auf die Menge der Begriffe ankommt, sondern auch sehr darauf, daß diese Begriffe nicht zu sehr heterogen sein müssen. Sonst können sie entweder gar nicht, oder doch nicht fest genug in einander fugen. Die Glieder der Begrifkette schließen alsdann nicht genau in einander, und so ist’s kein Wunder, wenn das Gedächtnis schwer und langsam würkt. Eben daher ist’s mir begreiflich, warum gewöhnlich das Gedächtnis im frühern Mannesalter stärker ist, als in dem spätern oder wol gar im Greisesalter. Bei diesen haben sich allmälig die Begriffe von ganz verschiedner Art zu sehr gehäuft; bei jenem sind die Vorstellungen mehr homogen. Natürlicherweise muß also das Gedächtnis alsdann weit gelenkiger sein. Beim Greise kommt überdis noch das hinzu, daß die sinnlichen Werkzeuge nach und nach immer schwächer und stumpfer werden, und die Nerven immer mehr von ihrer Reizbarkeit und Schnellkraft verlieren, folglich auch die Sensazionen weit weniger lebhaft und also weniger im Stande sind, andre ehmalige Ideen wieder rege zu machen. Die Abnutzung und Steife der Nerven und Fibern beim Greise hat eben den Effekt, den die annoch seltne Nutzung und Schlaffheit | [S. 144] derselben beim Kinde hat. Bei Beiden ist daher das Gedächtnis schwach, und beiden Altern wird Spracherlernung schwer.
Wenn also zur Erlernung einer Sprache ausser dem Gedächtnisse vornehmlich auch Witz und Scharfsinn mitwürken müssen, alle diese drei Seelenvermögen aber in den Jahren der Kindheit noch äußerst schwach sind, und erst nach und nach durch allmälige Aufsammlung mehrerer Ideen zu einer gewissen Stärke gelangen, was folgt? Das folgt: daß es der Natur entgegen gehandelt ist, wenn man Sprachstudium zur ersten Beschäftigung eines Kindes macht, und daß man daher mit fremden Sprachen nicht leicht vor dem 13ten, 14ten Jahre anfangen müsse; wiewol ich gern zugebe, daß es schwer ist, hier genaue Zeitabschnitte zu machen, weil dabei so sehr viel auf Nebenumstände, vornehmlich auch auf den Körper ankommt, sodaß freilich ein junger Mensch früher als der andre der Spracherlernung fähig ist.
Man würde, wenn man Kinder erst spät Sprachen lernen ließe, außerordentlich viel Zeit dabei gewinnen. Wie gar nichts ist doch die Zeit, die ein erwachsner Mensch braucht, um eine Sprache zu lernen, gegen die Zeit, die das Kind darüber verschwenden muß. Es müßte jemand ein ausserordentlich stumpfer Kopf sein, der nicht z.E. selbst in der lateinischen Sprache binnen einem einzigen Monath mehr sollte lernen können, als das Kind, das mit dem 6ten Jahr angefangen, sich Seel’ und Leib mit dieser Sprache zu zermartern, binnen 6 | [S. 145] Jahren zu lernen im Stand ist. Viele meiner Leser, die etwa erst spät diese oder jene Sprache, z. B. die englische und noch wol gar ohne Lehrer studirt haben, werden es aus eigner Erfahrung wissen, wie ganz ausser aller Vergleichung mit ihren Kinderjahren die Schnelligkeit ist, mit der sie in der spätern Erlernung dieser Sprache fortrükten. Je älter man ist – ich rede nicht vom Alter überhaupt, sondern von den Jahren, wo die zum Sprachstudium mitwürkenden Seelenkräfte in ihrer schönsten Blüthe sind – destoweniger Mühe und Zeit braucht man zur Erlernung einer Sprache. Themistokles, als er aus seinem Vaterlande vertrieben sich in Persien aufhielt, lernte nach Quinktilians Bericht in Zeit von einem Jahre die Persische Sprache in einem solchen Grade der Vollkommenheit, daß ihn kein geborner Perser darin übertraf. Die bekannte Glüklichkeit seines Gedächtnisses war wol nicht, wie Quinktilian zu glauben scheint, der einzige Grund seines schnellen Fortrükkens. Wenigstens würd’ es im Knabenalter schwerlich so rasch mit ihm gegangen sein, zumal in einer Sprache, die mit seiner Landessprache so wenig Verwandschaft hatte. Uebung der andern, höhern Seelenkräfte kam hier wol nicht weniger in Anschlag.
Die Kindheit und das erste Knabenalter sind indeß nicht darum bloß zum Sprachstudium unbequem, weil alsdann die dazu nöthigen Seelenvermögen noch zu sehr verhüllt und im Schlummer liegen, sondern auch deswegen, weil man zu der Zeit | [S. 146] noch nicht seine eigene Muttersprache in dem Grade besitzt, der zur gründlichen Erlernung einer fremden Sprache – sei sie lebend oder todt – durchaus unentbehrlich ist. Unsre Kinder müssen Latein lernen, ehe sie deutsch können. Denn für die gemeinsten alltäglichen Begriffe den gewöhnlichen Ausdruk wissen, heißt doch wol nicht deutsch können? Mehr aber weiß ja der Knabe im 6ten, 7ten Jahr selten. Man geb’ ihm das leichteste deutsche Buch in die Hand, und frage ihn, was er gelesen hat, und man wird sehen, wie viel Uebung er braucht, um nach und nach einen zusammenhängenden Gedankenvortrag zu verstehen. Und doch soll er schon einen lateinischen Schriftsteller verstehen können. Papageienmäßig seinem Lehrer und Cellarius nachübersetzen lernt er; aber den alsdann zusammengestoppelten deutschen Satz versteht er nun um nichts mehr als den lateinischen. Er glaubt ihn zu verstehen, weil es doch deutsche Worte sind; aber sagt ihm, er soll es euch mit andern Worten sagen oder umschreiben, und ihr werdet finden, daß die deutschen Ausdrükke ihm eben so leere Töne waren wie die lateinischen. So gewöhnt sich der Schüler nach und nach an ein völlig gedankenloses Uebersetzen, und es hält nachher oft sehr schwer, ihn zu gewöhnen, daß er sich selbst oder andre über den eigentlichen Sinn des übersetzten frägt. Eben daher der nachmalige Ekel vor so manchem treflichen Schriftsteller des Alterthums, z. E. dem Nepos, den man auf eine solche gedankenlose Art in seiner Kindheit exponirt hat; eben daher die oft sehr fest einwachsende | [S. 147] Gewöhnung, auch in seiner Muttersprache mit einem Schwall von leeren Tönen um sich zu werfen, bei denen man sich etwas zu denken einbildet, und doch würklich nichts denkt.
„Ja, aber der Lehrer muß jeden Satz dem Kinde deutlich machen, ihn zergliedern, jeden Ausdruk erklären.” – Wie kann er das? Wenn er’s auch thut, das Kind versteht ihn nicht. Es weiß noch viel zu wenig, was jeder Ausdruk, den sein Lehrer braucht, eigentlich sagen wolle. „Gut, so fange man nicht damit an, das Kind einen zusammenhängenden Schriftsteller lesen zu lassen. Man lasse es kleine, seinen Fähigkeiten und Begriffen angemeßne Formeln und Sentenzen machen, einzle kleine unzusammenhängende Sätze, die ihm keine Mühe machen.” – Da haben wir denn den lieben Speccius und die theure Formel- und Sentenzenmethode, nach der noch immer auf den meisten Schulen das Latein in den untersten Klassen getrieben wird. Aber, o der herrlichen Methode, bei der Lehrer und Schüler herzliche Langeweile hat, und der letztre überdis nach und nach zu einem unzusammenhängenden zerstükkelten Denken gewöhnt wird. Dis ist zugleich der größte Nachtheil, der aus der Deklinir- und Konjugirmethode – es sei welche Sprache es wolle – entsteht. Was denkt sich das Kind dabei, wenn es sein pater, patris, patri, sein bonus, bona, bonum, sein amarem und amavissem u.s.w. herdeklinirt und konjugirt, daß es eine Lust ist? Nichts, überall nichts. Alle die sogenannten Casus obliqui, durch die ein Nomen | [S. 148] durchgeführt wird; alle für sich ohne Substantiv genommene Adjektiven, alle relativische Modi und Tempora der Zeitwörter sind ja keine ganze Begriffe, sondern lauter Bruchbegriffe. Des Vaters für sich ohne Beisatz eines andern Substantivs ist höchstens nur ½ Begrif, für das Kind aber, das die Bruchrechnungen der Begriffe noch nicht versteht, ein leerer Schall. Herrliche Nahrung für den Geist eines Kindes! Trefliche Aufmunterung zum Fleiß! So bildet man nicht Denker, sondern Denkmarionetten. Sie scheinen zu denken, wenn’s gleich etwas plump und schief ist. Doch wenn ihr genau zuseht, so erblickt ihr den Drat, nach dessen Lenkung sie denken und reden.
Aber man gebe mir einen erwachsenern Lehrling, der sich schon eine Menge Begriffe gesammlet hat, und der nun schon diese Begriffe in seiner Muttersprache mündlich und schriftlich zusammenhängend auszudrükken weiß – und ich werde nicht nöthig haben, ihn durch so rauhe widrige Umwege durchzuführen; da ohnedis mehr als Kindeseinsicht dazu gehört, um zu glauben, daß ein Weg, der so dornicht und steinigt anfängt, wie die gewöhnlichen Methoden, doch wol noch zuletzt zu einer schönen Gegend führen könne. Ich werde nun mit meinem Lehrlinge sogleich einen für seine schon erlangten Kenntnisse angemeßnen Schriftsteller der Sprache, die er bei mir lernen will, lesen, und er wird sich freuen, in ihm eben die Begriffe wieder zu finden, die er schon vorher aus mündlichem und schriftlichem Unterricht in seiner Muttersprache aufgesammlet | [S. 149] hatte. Er wird nun nicht mehr so gedankenlos und unaufmerksam lesen, wie er als ideenleeres und ausdrucksunfähiges Kind gelesen haben würde. Er kann und muß nun in einer Woche mehr von der fremden Sprache lernen, als er vorher in einem ganzen Jahre gelernt hätte. Denn er hat nunmehr an seiner Muttersprache einen Maaßstab, gegen den er die fremde zu erlernende halten und vergleichen kann; er hat an ihr eine Stütze, auf die er sich in der neuen Bahn lehnen kann. Eben daher ist’s leicht zu erklären, warum es jemanden, der schon eine Menge Sprachen weiß, so sehr leicht wird, noch eine neue dazu zu lernen; auch, warum es so schwer und langsam bei einem Lehrer geht, der nur grade die eine Sprache, die ich von ihm lernen will, versteht. Wie mühsam z. E. ist’s, wenn man die französische Sprache von einem Franzosen lernt, der sich uns in keiner andern Sprache verständlich machen, und uns dadurch gleichsam den Maaßstab in die Hände geben kann, um die mannigfaltigen Aehnlichkeits- und Unterschiedsverhältnisse zwischen seiner und unsrer Sprache deutlich einzusehen, und sie durch diese Vergleichung stärker zu fühlen und leichter zu behalten.
Hier wäre der Ort, mich über die Methode der Erlernung einer Sprache durchs bloße Sprechen zu erklären; eine Methode, die noch am ersten dem kindischen Alter zu entsprechen scheint. Nach dieser Methode, sagt Basedow und andre neuere Erziehungstheoretiker, lernt ja ein jeder seine Muttersprache, warum sollte sie sich also nicht auch auf | [S. 150] fremde Sprachen übertragen lassen? – Das wäre sehr gut, wenn’s nur erst so ganz ausgemacht wäre, daß wir unsre Muttersprache bloß auf diese Art lernten. So weit wir sie brauchen, um uns im gewöhnlichen Gespräch über alltägliche, sinnliche Gegenstände des gemeinen Lebens halb und halb deutlich zu machen – in so weit mag’s wahr sein. Und ist dis jemandes einziger Zwek bei Erlernung einer fremden neuern Sprache – bei einer von den alten Sprachen kann und darf er’s doch wol niemals sein – so hab’ ich nichts dagegen, wenn er sie nach der genannten Methode lernt. Aber sobald ich meine Gedanken über etwas minder alltägliche, unsinnliche Ideen ausdrükken soll, sobald ich nicht spechen hören, sondern lesen, nicht plaudern sondern schreiben soll – so werd’ ich’s alle Augenblik fühlen, wie dürftig und mager meine durch das bloße Sprechen erlangte Kenntnis von der Sprache sei. Die Erfahrung, wieviel Mühe einem Kinde das Lesen des ersten zusammenhängenden, nicht bloß erzälenden Buchs macht, das es in die Hände bekommt; und noch mehr die Erfahrung, wie sauer es anfänglich einem jungen Menschen wird, der mit der größten Fertigkeit spricht, den ersten noch so kurzen schriftlichen Aufsatz in seiner Muttersprache zu machen, selbst wenn man ihm durch vorherige Erwekkung der aufzuschreibenden Gedanken die Mühe des eignen Nachdenkens dabei erspart; und wie dann doch der ganze Aufsatz von falschen Konstrukzionen, von undeutschen Redstellungen, von angefangnen und nicht zu Ende gebrachten Perioden | [S. 151] strotzt – diese Erfahrungen, sag’ ich, die jeder Schulmann täglich machen kann, zeigen, dünkt mich, sehr augenscheinlich, daß die Methode, durch’s Sprechen eine Sprache zu lernen, auch nur bloß den Effekt des Sprechenkönnens und weiter nichts bewürken könne. Doch vielleicht werd ich über diese Methode in einem eignen Abschnitt über die lateinische Sprache noch etwas mehr sagen können, weil man itzt auf diese Sprache besonders die Sprechmethode anwendet.
Ob es ratsam ist mehr als eine Sprache zu gleicher Zeit zu lernen? – Niemand scheint daran zu zweifeln; denn fast in allen alten und neuen Erziehungsinstituten treibt man ein solches Zugleichlernen mehrerer Sprachen. Allein nach meinen schon geäusserten Grundsätzen über das Sprachstudium kann ich unmöglich meine Stimme dazu geben, so wenig Gewicht sie auch haben mag, und so sehr auch der vortrefliche Graf Kinsky, einer unsrer besten Erziehungstheoretiker diese Methode empfielt[46]. Soviel ich einsehe, sollte das Kind und der Knabe noch gar keine Sprache lernen, am wenigsten mehrere zugleich. Dis letztre sollte selbst der Erwachsne nicht. Und doch ist nichts gewöhnlicher auf unsern Schulen sowol, als in Privaterziehungen, als daß unsre Kinder so ziemlich zu gleicher Zeit, und noch ehe sie ihre Muttersprache können, Lateinisch und Französisch, und, so Gott will, auch gleich Griechisch und Hebräisch zu lernen anfangen. Selbst | [S. 152] Basedow läßt seine Philantropisten Deutsch und Französisch und Lateinisch zugleich treiben. – Aber ich irre mich sehr, oder dis ist der Hauptgrund, warum es der Männer, die es in einer oder der andern Sprache, vornehmlich in einer von den alten, zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben, so sehr wenige giebt. Der beinahe unausbleibliche Erfolg dieser Methode ist, daß man keine einzige von den zugleich angefangnen Sprachen gründlich lernt. Eine steht der andern im Wege. Ja, wenn alle Sprachen in eine Form gegossen wären, sodaß jeder Ausdruk und jede Wortfügung der einen Sprache einen völlig ähnlichen Gegentypus in jeder andern Sprache hätte, und wenn die verschiednen Zeichen mehrerer Sprachen immer nichts weiter als gleichgeltende Münzen wären, deren Unterschied bloß in dem verschiednen Gepräge, und nicht zugleich auch in dem innern Gehalt bestünde – so würd’ ich kein Bedenken tragen, diese Methode der Zugleicherlernung mehrerer Sprachen als die leichteste und zeitsparendste zu empfehlen. Aber so, da jede Sprache ihren eignen, oft sehr kontrastirenden Genius hat, so ist bei einer solchen Lernart Vermengung und Durcheinanderwerfung der verschiednen Sprachen unvermeidlich. Ich habe täglich Gelegenheit, diese Bemerkung zu machen. Alle Augenblikke verwechseln junge Leute nicht nur Konstrukzionen und Redverbindungen, sondern selbst einzle, etwa im Klange ähnliche Wörter aus verschiednen Sprachen mit einander; ja oft gebrauchen sie im Reden oder Schreiben einer Sprache Wörter | [S. 153] aus einer andern, die eben das sagen, und denen sie nun etwa noch die Endungen und Biegungen der erstern Sprache leihen. Bei erwachsenen Lehrlingen sind freilich wegen mehrerer Attenzions- und Unterscheidungsfähigkeit dergleichen Barbarismen in Erklärung oder im Gebrauch einzler Wörter weniger zu besorgen, aber desto mehr Verwechselung des verschiednen Geistes, der verschiednen Wendungen und Ideenstellungen, die einer jeden Sprache eigen sind, und die bei aller ihrer Aehnlichkeit mit denen in einer andern Sprache doch himmelweit davon unterschieden sein können. Rezensenten von Uebersetzungen aus fremden Sprachen, z. E. nur aus der englischen, haben bei Vergleichung mit der Urschrift nur zu oft Gelegenheit, dis zu bemerken, und in dieserlei Verwechselungen die Quelle so mancher nonsensikalischen Stelle in der Uebersetzung zu finden. Der Graf Kinsky giebt selbst diese Vermengung zu. Aber, sagt er (S. 125), die Verwirrung verliert sich, sobald man weiter kommt, unvermerkt. Allein darin hat er offenbar die Erfahrung wider sich. Die groben, gar zu sehr ins Auge fallenden Verwechselungen verlieren sich freilich wol mit der Zeit; aber auch die feinern, verstektern? Woher käme sonst das Deutschlatein und das Lateinfranzösisch, in dem sich so viele, selbst Gelehrte, mündlich oder schriftlich ausdrükken? Und woher käm’s sonst, daß unsre Frauenzimmer gewöhnlich weit ächter französisch sprechen und schreiben, als wir Mannspersonen, die wir’s doch mehrentheils weit mehr nach Regeln studirt haben? | [S. 154]
Am schlimmsten ist’s, eine alte und eine neue, eine todte und eine lebende Sprache zu gleicher Zeit zu lernen. Und doch was ist gewöhnlicher, als daß man Lateinisch und Französisch zugleich lernt? – Die Sprachen des Alterthums und der gegenwärtigen Zeit kontrastiren immer weit mehr, als zwei gleichzeitige Sprachen. Aber bei der Methode des Zugleichlernens ist’s beinahe unvermeidlich, daß man beide Sprachen zu nahe an einander zu bringen sucht, und unmerklich seinen Ausdruk in beiden so formt, daß er halb alt und halb neu aussieht.
Aber selbst nicht einmal bei höchst ähnlichen Sprachen kann ich diese Methode billigen. Z. E. bei der Italiänischen und Spanischen Sprache, die freilich einander so ähnlich sind, daß selbst Don Quixotte das Uebersetzen aus der ersten in die andre für nicht viel mehr als Abschreiben erklärte. Zwei Sprachen mögen sich einander so ähnlich sein, wie sie wollen, sie bleiben doch immer noch verschieden genug. Und eben um je ähnlicher sie sind, um desto eher ist Verwechselung und Vermengung möglich und besorglich.
„Aber, sagt man, die Sprachen bieten sich ja bei dieser Methode gleichsam einander die Hand, eine hilft der andern nach. Die Erlernung der einen erleichtert die der andern”. Richtig, und just darum verlang’ ich die entgegengesetzte Methode. Eine Sprache ist, wie ich schon oben sagte, immer Maaßstab bei einer andern. Aber gnade Gott der Ausmessung, wenn ich den Maaßstab eben so wenig kenne, als das zu messende. Lerne doch nur | [S. 155] erst den Maaßstab recht kennen, so wirst du leicht jeden homogenen Gegenstand auf ihn reduziren können. – Vergleichung der Aehnlichkeiten und Unterschiede mehrerer Sprachen ist ein herrlich Hülfsmittel beim Sprachstudium, Aber es geht dabei eben so wie bei einem Porträt. Kenn’ ich den Mann, den es vorstellt, schon vorher – so werd’ ich weit leichter die Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten auffinden, als wenn ich Porträt und Natur, beide zum erstenmal und zugleich sehe. Sicherlich find’ ich in diesem letztern Falle entweder, was das gewöhnlichste ist, gar keine oder zuviel Aehnlichkeit.
Mein Schüler soll erst in einer Sprache zu einem gewissen, nicht eben schon zu dem höchsten, Grade der Vollkommenheit gekommen sein, und ich denke, ihn durch Abwechselung der Methode und der zu lesenden Schriftsteller eben so wachsam zu erhalten, als es nur immer durch die oft doch nur betäubende Abwechselung der Sprachen selbst geschehen kann. Hat er nun Eine Sprache so ziemlich inne, dann erst fang’ er eine andre an. Er soll dabei nicht in Gefahr kommen, die erste wieder zu verlernen. Er soll sie nun nebenher treiben, soll ihre Regeln auf die neue Sprache anwenden, und beide mit einander vergleichen. Ich werde ihn öfters aus der neuen Sprache in die schon erlernte, aus dem Griechischen in das ihm schon bekannte Lateinische übersetzen lassen, doch nur dann, wenn er mir’s vorher schon mündlich deutsch übersetzt und erklärt hat, und ich also gewis bin, daß er’s versteht. | [S. 156] Man versuch’ es einmal nach dieser Methode, und ich will gern geträumt haben, wenn man nicht findet, daß der Lehrling auf diesem Wege weit geschwinder und leichter fortkommt. Man stekke ihm nicht zuviele Ziele auf einmal hin. Laßt ihn erst eins, wo nicht erreichen, doch schon nahe sehen; und führt ihn nicht durch Kreuzwege bald rechts bald links, bald vorwärts bald rükwärts. Euer Lehrling müßte mehr als ein gewöhnlicher Kopf sein – denn die Montaigne, Barratiers und andre Genies, gegen die sich doch noch dis und jenes sagen liesse, gehn mich hier nichts an – wenn er nicht auf einem so widernatürlichen Marsche ermatten sollte.
III.
Die lateinische Sprache hat allen ihren auch ältern Schwestern den Preis abgewonnen. Sie starb, und noch nach ihrem Tode lebt sie. Sie starb, weil sie aufhörte Nazionalsprache zu sein; sie lebt, weil sie demohngeachtet oder vielmehr eben darum die Sprache der Gelehrten aller Nazionen Europa’s ward. Denn das kann und darf keine lebende Sprache sein, so gern auch die französische Sprache ihre Mutter, die lateinische, verdrängen mögte. Die Sprache der Gelehrsamkeit muß figirt sein, sie muß einen gewissen Punkt der Vollkommenheit erreicht haben, über den nicht weiter hinauszugehn ist. Dies Figirtsein schließt indessen nicht die Eigenschaft aus, vermöge deren sich die Sprache zu neuen Erweiterungen der Begriffe biegen läßt, ohne doch ihr Wesen zu verändern. Die muß ihren Wachsthum in der Höhe vollendet haben, aber in der Breite d.h. in Ansehung des Reichthums und der analogischen Schaffung neuer Wörter für neue Begriffe muß sie immer noch wachsen können.
Eine lebende Sprache kann nie figirt sein, so gern auch einige französische Schriftsteller uns bis von der gegenwärtigen Form ihrer Sprache überreden mögten. Die itzige französische Sprache wird | [S. 158] von der über hundert Jahre eben so verschieden sein, wie sie’s von der vor hundert Jahren ist. Die italiänische Sprache ist, so viel ich weiß, die einzige, die sich seit mehrern Jahrhunderten beinah unverändert erhalten hat. Ich sage beinahe. Denn ob gleich der Ausländer nicht leicht einen Unterschied zwischen jenen berühmten Dichtern des 14ten und 15ten Jahrhunderts und den itzigen Schriftstellern in dieser Sprache fühlen wird, so gestehn doch die Italiäner selbst, daß sich ihre Sprache während der Zeit in manchen Stükken verändert habe. Aber sollte nicht jede Sprache ihr Nonplusultra haben? Allerdings hat sie’s, so wenig sich auch diese Gränze bezeichnen läßt. Aber hat sie dis Ziel ihrer Vollkommenheit erreicht, so steht sie nicht still, – denn ihre Führer, die Meinungen, Sitten, Gebräuche u.s.w. stehn nie still – sondern sie geht allmälig wieder rükwärts, entweder grade oder in Seitenlinien. Hat sie ihren Wachsthum in der Höhe vollendet, so wächst sie höchstens nur noch in der Breite, aber allmälig schrumpft sie sogar ein. Das Schiksal der griechischen Sprache ist hier sehr erläuternd und beweisend zugleich. Unstreitig hatte sie um die Zeit Alexanders, kurz vor und nach demselben, den höchsten Gipfel der Vollkommenheit erreicht. Aber sie blieb nicht lange darauf. Sie sank, und ich bin sehr überzeugt, daß in den spätern Zeiten der christlichen Zeitrechnung, in den Zeiten der Scholiasten und Lexikographen, die damalige griechische Sprache eben so sichtbar und auffallend von der | [S. 159] Sprache der Vorzeit unterschieden war, als es unsre itzige Sprache von der Sprache der Minnesinger ist; ob wir selbst gleich diesen letztern Unterschied heller sehen und stärker fühlen als den erstern, und obgleich dieser aus dem mehrern Fortschritt zur Vollkommenheit entsteht, jener aus dem allmäligen Zurükgehen von derselben entstand. Manche lebende Sprache wandert selbst, noch eh sie zum Ziele gekommen, zurük; und manche geht zuweilen zu gleicher Zeit mit zwiefachem Schritt, mit dem einen zur Vollkommenheit hin, mit dem andern von ihr ab.
Nur eine todte Sprache schikte sich also zur allgemeinen Gelehrtensprache; weil nur sie ihren ein- für allemal festgesetzten Grad der Vollkommenheit hat, und die Zeitunterschiede in ihr nicht mehr so auffallend als bei einer lebenden sind. Die lateinische Sprache ward es. Unstreitig hätte ihre Stiefmutter, die griechische, diesen Vorrang eher verdient. Sie ist theils schon an und für sich reicher, theils ist sie vermöge ihrer Natur weit mehr im Stande, sich zu allen möglichen Theilen der Gelehrsamkeit, und zu allen möglichen Erweiterungen der Begriffe in denselben zu schmiegen. Die lateinische Sprache, die überdis der griechischen ihre ganze Ausbildung zu danken hat, verhält sich gegen diese eben so wie der Nazionalcharakter beider Völker. Sie ist steifer, ungelenkiger, rauher, soldatischer, ohne doch kriegerischer zu sein.
Genug, die lateinische Sprache sitzt einmal auf dem Thron; und ich mag hier nicht untersuchen, | [S. 160] was alles für politische und kirchliche Verbindungen und Umstände sie darauf erhoben. Schwerlich dürfen wir hoffen, daß die griechische Sprache je ihre gegründete Prätensionen ausfechten, und den Usurpatör entthronen werde. Aber desto mehr müssen wir befürchten, daß er von den lebenden Sprachen versrängt werde, und daß diese alsdann das Reich, das ehmals nur Eins war, in kleine unzusammenhängende Fürstenthümer zerstükken.
Unstreitig ging man ehmals in der Vorliebe für die lateinische Sprache zu weit. Alles schrieb lateinisch. Selbst lateinischschreibende Redner und Dichter, solche wenigstens, die noch einigen Anspruch auf diese Namen machen konnten, waren ungleich häufiger als die deutschschreibenden.
Unstreitig geht man itzt auf der andern Seite zu weit. Fast niemand mehr, wenn ich etwa noch den Kritiker ausnehme, schreibt lateinisch. Wer’s auch noch könnte, thuts nicht. Denn wer will gern ungelesen bleiben? oder hundert Verlegern umsonst gute Worte geben? Jedes noch so erbärmliche deutsche Geschmier findet Verleger und Käufer, aber lateinisch zu schreiben wird von Tage zu Tage immer waglicher.
Es wär’ endlich Zeit, die Mittelstraße zu wählen; Zeit, einzusehen, daß durch Vernachläßigung der allgemeinen Gelehrtensprache das auswärtige Kommerz mit unsern Kenntnissen und Entdekkungen in den Wissenschaften nothwendig stokken müsse, weil keine einzige Nazion so gutwillig, als wir Deutschen, fremde lebende Sprachen lernt. | [S. 161] Die lateinische Sprache ist die Brükke der Gelehrsamkeit zwischen mehrern Nazionen. Bricht man sie ab, so entstehn lauter kleine Inseln; und nicht jedes Volk hat Lust und Geschik, die Schiffahrt zu treiben.
Es ist mehr als wahrscheinlich, daß nach vier oder fünf Jahrhunderten die schönsten Werke unsrer Sprache bloß noch hie und da einen Sprach- und Alterthumsforscher beschäftigen werden. Unsterblichkeit in irgend einer lebenden Sprache, so lange sie lebt, ist Traum. Viele Erfindungen und Erweiterungen der Wissenschaften werden mit der Sprache zugleich einschlafen. Und wenn sie dereinst wieder aufwachen – wird man nicht daran denken, daß sie schon einmal wachten. – Man wird immer wieder von vorn anfangen, und da neue Länder entdekt zu haben wähnen, wo unsre Zeiten schon längst gewesen waren.
Es wäre Thorheit zu verlangen, daß alle Schriften lateinisch geschrieben werden sollten. Man sollte einen Unterschied zwischen abhandelnden oder räsonnirenden, und zwischen darstellenden Schriften machen. Die letztern, zu welchen ich vornemlich alle Werke des Geschmaks rechne, könnten und sollten immer in der Landessprache geschrieben werden. Zu ihnen füg’ ich aus der ersten Klasse noch die eigentlich gemeinnützigen Schriften hinzu, die mehr den Menschen oder den Bürger als den Gelehrten interessiren, und die mehr bloß für die gegenwärtige Zeit, als zugleich für die Nachwelt dienen sollen. Aber alle übrige | [S. 162] Schriften, aus denen man dereinst auf den Vollkommenheitsgrad der eigentlichen Wissenschaften bei uns schließen sollte, müßten wenigstens größtentheils in der angenommnen Allgemeinsprache geschrieben werden.[47] Ich sage größtentheils. Denn ich weiß wol, daß es z. E. in manchen Theilen der Philosophie schwer halten würde, sich mit eben der Deutlichkeit, und, was das wichtigste ist, mit eben der Präzision auszudrükken, wie wir’s in unsrer, itzt für die Philosophie so ungemein urbar gemachten Sprache können. Indes ist doch auch dies eine Unbequemlichkeit, die bei der griechischen Sprache schwerlich je zu besorgen gewesen sein würde.
Daß die lateinische Sprache schon halb aufgehört hat, Gelehrtensprache zu sein – rührt unstreitig auch davon her, daß man ihre Erlernung zu allgemein ausgedehnt hat. Jedermann, der in seinem Leben nichts weniger als Gelehrter werden wollte, soll diese eben darum ihm unbrauchbare Sprache wenigstens halb lernen. Kein Wunder, | [S. 163] daß daher nur so sehr wenige sie ganz lernen. Wenn eine Menge Menschen auf einer und derselben Laufbahn rennen soll, und man mit dem einen Theile schon hinlänglich zufrieden ist, wenn sie nur die Hälfte der Bahn durchlaufen – so werden unter den andern, die bis ganz zum Ziel hinrennen sollten, sicherlich nur wenige so weit kommen. Die meisten werden sich begnügen, allenfalls einige Schritte vor den erstern voraus zu sein. Darin besteht ihr ganzer Stolz, mit dem sich öfters noch die Einbildung vereinigt, sie hätten das Ziel würklich erreicht.
Die lateinische Sprache sollte Gelehrtensprache sein. Also sollte auch vernünftigerweise niemand sie lernen, der nicht künftig zu dem Stande der Gelehrten, wenigstens auf gewisse Art, gerechnet sein wollte. Und doch hat jedes kleine Städtchen, das öfters durch den bloßen Stadttitel vom Dorf unterschieden ist, und etwa alle Jubeljahr Einen Gelehrten liefert, seine lateinische Schule und seinen lateinischen Rektor, der freilich oft bei dem leichtesten lateinischen Autor sehr in Verlegenheit kommen würde, der aber doch, weil man ja andre Methoden genug hat, sein Latein dozirt, daß es eine Art hat. Und da muß denn jeder Knab ohne Unterschied, vom Sohn des Burgemeisters im Städtchen bis zum Sohn des armseligsten Schuhflikkers Latein lernen; wenn anders jenes Vokabelmemoriren und Phraseslernen, jenes unpsychologische Dekliniren und Konjugiren, und, wenn’s hoch kommt, jenes Formelmachen und Exponiren der | [S. 164] abgeschmaktlangweiligen Langischen Kolloquia Latein lernen heißen kann. – Bei Gott! es ist der unverantwortlichste unsinnigste Zeitverderb, wenn der Knabe, der zum Handwerksmann oder Libreibedienten bestimmt ist, sich 4, 5 Jahr mit widernatürlicher Erlernung einer Sprache zermartern muß, von der er künftig nur den einzigen Gebrauch des Vergessens machen kann, und statt deren er so viele andre schöne Kenntnisse hätte bekommen können, die ihn künftig, wo nicht zum geschiktern Mann in seinem Metier, doch zum vernünftigern Bürger und Menschen gemacht hätten. Aber das ist leider! der größte Fehler unsrer gewöhnlichen Schulen, daß sie alle die Form von Werkstätten der Gelehrsamkeit haben. Auch da will man Gelehrte ziehen, wo man nur Bürger ziehen sollte; kein Wunder also, daß man weder den einen noch den andern zieht. Selbst auf den Anstalten, wo man Bürger ziehen will, auf unsern Realschulen, dozirt man Latein. Wahrlich! Eher ist an keine Schulverbesserung zu denken, bis man diese Erziehungsmengerei zu Grabe trägt; bis man alle sogenannte lateinische Schulen in den kleinen Städten zu wahren Realschulen umschmilzt, und auf den Gymnasien, die der gelehrten Erziehung gewidmet sind, keinen annimmt, der nicht würklich zum Gelehrten bestimmt ist. O Resewiz, wenn kommt die Zeit, da dein Plan zur Erziehung des Bürgers kein bloßer Plan mehr ist! | [S. 165]
Aber auch der Unstudierte muß doch seinen lateinischen Terminum verstehen, und seinen Casum zu setzen wissen. – Wenn’s weiter nichts ist – wozu alle die Anstalten? Wozu alle die künstlichen Hebezeuge, um die Last von einem Pfund zu bewegen? – Es mag immer gut sein, daß auch der Unstudirte die eigentliche Bedeutung vieler aus dem lateinischen entlehnten Ausdrükke lernt, die im gemeinen Leben und in bürgerlichen Geschäften öfters vorkommen. Muß er aber darum Latein lernen? Man sammle alle Wörter der Art in ein Verzeichnis zusammen, und dis lasse man seinen Lehrling nicht auswendig lernen, sondern man erklär’ es ihm, und geb’ ihm durch Exempel anschauende Begriffe von der Bedeutung jedes einzlen Worts. So kommt man in kurzer Zeit zum Ziel; und der Schüler darf nicht, um eines einzigen frischen Trunks willen, die heißen Sandwüsten Libya’s durchwaten, um am Ende doch wol noch vor Durst zu verschmachten.
Was aber die Setzung des rechten Casus betrift, so mögt’ ich wissen, ob man diese durch blosses Dekliniren und Konjugiren lernt, und ob nicht der Unstudirte beim Gebrauch lateinischer Worte mehrentheils eben darum den falschen Kasus setzt, weil er als Knabe zum Dekliniren und Konjugiren angehalten wurde, und nicht so weit kam, die Anwendung davon zu machen. – Und muß denn bei den lateinischen Ausdrükken, die man aus Noth oder der lieben Kürze und Deutlichkeit wegen im deutschen gebraucht, durchaus förmlich deklinirt | [S. 166] werden? Ist nicht statt dessen der deutsche Artikel hinlänglich? – Wir wollen also, um, wenns nicht ganz sein soll, doch wenigstens halb deutsch zu reden, lieber den Medikus, als den Medicum befragen; lieber im Jus als im Jure bewandert seyn. Eben so mit den römischen und griechischen Namen! Alle Sprachen nehmen sich die Freiheit, ausländische Namen nach ihrer eignen Art zu biegen. Freilich sollte dieses Biegen sich eigentlich nicht weiter erstrekken, als daß wir dem unveränertgelassnen Nominativ des ausländischen Namens, wenn er in einem andern Kasus zu stehen käme, blos die Endungen unsrer Sprache liehen. Allein selbst schon die Lateiner thaten nicht bloß dieses, sondern sie veränderten auch öfters den Nominativ eines ausländischen Namens (Plato für Platon). Und nur wir wollten beim Gebrauch ausländischer, vornehmlich alter Namen lieber die lateinischen als unsre eignen Fallendungen gebrauchen? Zwar thun es itzt die wenigsten von unsern Schriftstellern mehr; aber der Himmel weiß, warum doch immer noch so manche nicht im geringsten pedantische Skribenten die alte Mode beibehalten, und von Ciceronis und Platonis Schriften reden. Warum sollen wenigsten die griechischen Namen nach der lateinischen Endung, die doch um nichts richtiger ist als die deutsche, geformt werden? – Also entweder Platon’s (nicht Plato’s), oder Platonos Schriften! – Verzeihung für diese beiläufige grammatische Abweichung! | [S. 167]
„Aber, sagt man, wenn auch das Latein an sich selbst betrachtet dem Ungelehrten zu nichts nütze ist, so ist dennoch die Beschäftigung der Seele und die Uebung ihrer verschiednen Fähigkeiten, die durch Erlernung dieser Sprache erhalten wird, eine sehr gute Sache. Mag doch die Materie nichts für ihn taugen; desto mehr die Form“. – Sonderbar! als gäb’s keine Gegenstände des Unterrichts, wo beides, Materie und Form, dem Unstudirenden nützlich wären. Bloß formeller Nutzen muß wenigstens nie zum Zwek gemacht werden. Oder soll nicht etwa auch der künftige Gelehrte die Kochkunst lernen, weil sie doch den formellen Nutzen hat, daß sie Attenzionsfähigkeit befördert?
Also noch einmal! Die lateinische Sprache ist allgemeine Gelehrtensprache. Mithin muß bloß der künftige Gelehrte und weiter niemand sie lernen.
Aber wie soll er sie lernen? Wie am leichtesten, angenehmsten, kürzesten? Da ständen wir also voll Zweifel und Unentschlossenheit, wie Herkules, am Scheidewege der Methode. Hier ein Weg, dort ein Weg. Sie mögen wol alle beide mit der Zeit zum Ziele führen. Aber unmöglich gleich kurz, weil sie wenigstens itzt in völlig entgegengesetzten Richtungen laufen. Hieher, ruft die Methode der Grammatik, hieher! Ich bin die Landstrasse nach Lazium; mich ging dein Vater und Großvater. Aber mein Schüler schüttelt den Kopf. Er ist so sandig, der Weg, und so sumpfig hie und da. – Ha! dort winkt der Fußsteig der ungrammatikalischen | [S. 168] Methode, der Methode des bloßen Sprechens. Alles so eben, so fest! Ueber lachende Felder und Wiesen weg! – Aber, wenn man mich nur nicht auspfändet! Wenn ich mich nur nicht verirre! Auch giebt’s so manchen Dornstrauch zur Seite, und mitten im Steige hie und da einen Stein, über den ich wegspringen muß. – – – Ich muß mich doch erst ein wenig besinnen.
Bei Erlernung jeder Sache wird die Methode immer durch den Zwek bestimmt. Nirgends aber gilt dies so sehr, als bei der Spracherlernung. Und der Zwek bei Erlernung einer Sprache? Er ist nicht immer derselbe. Er kann dünkt mich vierfach sein. Entweder lern’ ich eine Sprache, um sie zu sprechen, oder um die Schriften darin zu verstehen, oder um selbst darin zu schreiben, oder endlich um eine kritische Kenntnis davon zu erlangen. In dieser Stuffenfolge schließen sich diese vier Zwekke genau an einander, und meine Kenntnis einer Sprache ist um desto vollkommner, je mehrere dieser Stuffen ich erreicht habe, oder je höher die Stuffe ist, auf der ich stehe. Jeder Zwek wird am besten durch einzle ihm gemäße Handlungen nach und nach erreicht. Also fertig sprechen lern’ ich nur durch häufiges Sprechen; Bücherverstehen nur durch häufiges Lesen u.s.w. Eben darum ist’s widersinnig, den, der eine Sprache bloß sprechen lernen will, mit Grammatik und Sprachkritik zu plagen. Aber sollte nicht auch das eine unrichtige Methode sein, wenn man den, der den einzigen Zwek hat, die in einer Sprache geschriebnen Bücher zu verstehen, | [S. 169] lange Zeit hindurch nichts als sprechen läßt, und wenn man ihn also zu seinem Zwek durch ein Mittel zu bringen sucht, das nicht in völlig grader Richtung zum Zwek hinanläuft.
Die vier genannten Zwekke bei der Spracherlernung – Sprechen, Bücherverstehen, Schreiben, kritische Kenntnis – bauen eine aus vier zusammenhängenden Stuffen bestehende Methodentreppe.- Bei einer rohen ungebildeten Sprache, die keinen besondern Bücherausdruk hat, fallen die beiden mittelsten Stuffen weg, sie existiren entweder gar nicht, oder sind mit der ersten Stuffe einerlei. Aber bei gebildeten Sprachen finden alle vier Stuffen Statt.
Die gewöhnliche Methode, die mit Grammatik und Sprachkritik anfängt, ist die unnatürlichste, die sich denken läßt. Sie will uns eine Treppe herunterführen, die wir noch nicht hinaufgegangen sind.
Wenn ich jene 4 Zwekke alle mit einander erreichen will, so ist unstreitig die natürlichste Methode die, daß ich die vier Stuffen in ihrer natürlichen Ordnung eine nach der andern heraufgehe. Auf diese Art lernt und studirt ein jeder seine Muttersprache. Erst spricht er sie bloß, dann ließt er darin geschriebne Bücher, drauf versucht er selbst dann und wann einen schriftlichen Aufsatz. Endlich kommt er durch etymologisches, grammatisches, und philosophisches Studium bis zur kritischen Kenntnis seiner Sprache. Bei allen fremden Sprachen also, bei welchen ich ebenfalls alle genannte 4 Zwekke erreichen | [S. 170] will, wird dis stuffenweise Ansteigen sicherlich auch die beste und natürlichste Methode sein. Nur wiederhol’ ich meine in dem vorhergehenden Aufsatz bewiesene Regel: man lasse sein Kind nicht zu früh, nicht als Kind irgend eine fremde Sprache lernen – es geschehe nach welcher natürlichen oder unnatürlichen Methode es wolle – und man lasse es nie mehr als eine Sprache zu gleicher Zeit anfangen.
Hab’ ich unter den vier genannten Zwekken mir nur einen einzigen zum Ziel gesetzt, so ist die Sache leicht. Ich lasse alsdann alle die andern Wege liegen, oder gehe sie höchstens nur dann eine Weile, wenn sie den Weg, der zu meinem Einem Ziel eigentlich hinführt, durchschneiden. Wenn ich eine fremde Sprache bloß im gemeinen Umgang plaudern lernen will, so bekümmre ich mich nicht um die Büchersprache. Ist mir’s hingegen lediglich um’s Bücherverstehen zu thun, so halt’ ich mich nicht mit Sprachübungen auf, und nehme auch von der Grammatik grade nur so viel oder vielmehr so wenig mit, als zu meinem Zwek unentbehrlich ist. Aber auch nur die beiden angeführten Zwekke, nehmlich das Sprechen, und das Bücherverstehn, kann ich für sich allein und von den übrigen Zwekken abgesondert haben. Schreiben lern’ ich nicht eher und nicht anders, als wenn ich vorher schon viel gelesen habe. Und noch weniger ist kritische Kenntnis einer Sprache für sich allein zu hoffen ohne vorherige Erreichung des 2ten und 3ten Zweks, oder wenigstens doch des zweiten allein. Denn von | [S. 171] der 2ten Stuffe (dem Bücherverstehen) kann ich allenfalls gleich zu der 4ten (der kritischen Kenntnis) überspringen. Der Fall findet z. E. beim griechischen statt, und überhaupt bei allen todten Sprachen, die lateinische ausgenommen. Bei lebenden Sprachen würde der Sprung schon weniger zu rathen sein.
Soviel ist also richtig; Eine Stuffe kann ich zur Noth überspringen. Die Ueberspringung der ersten ist öfters (bei den todten Sprachen immer) nothwendig. Der Sprung von der 2ten zur 4ten geht, wir wir eben gesehen haben, zuweilen an. Allein der Sprung von der ersten zur 3ten Stuffe, vom Sprechen zum Schreiben, bringt mich, wie wir gleich sehen werden, höchstens nur halb, nie ganz auf die dritte Stuffe hinauf. Aber 2 Stuffen auf einmal zu überspringen, geht in keinem Fall an. In einer Sprache gleich schreiben zu wollen, ohne vorher darin weder gelesen noch gesprochen zu haben, ist ein unsinniger Einfall, und doch wenden viele diese Methode (denn das Formelmachen gehört mit hieher) auf die lateinische Sprache an. Also grade mit den beiden obersten Stuffen der Sprachvollkommenheit mit der grammatischen Kenntnis und mit dem Schreiben, fangen die gewöhnlichen Methoden an. Kein Wunder also, daß die mehresten auch nur beim Anfange stehn bleiben, und die wenigen würklich großen Linguisten, die wir gaben, fast einzig und allein durch sich selbst wurden, was sie sind. – Daß der Sprung von der ersten zur | [S. 172] 4ten Stuffe noch weniger gelingen könne, davon wird niemand erst den Beweis verlangen.
Man sollte denken, wer eine Sprache sprechen könnte, verstünde auch die Bücher darin, ja er müßte selbst darin schreiben können. Allein dem widerspricht die Erfahrung, und der Grund liegt darin, weil die Büchersprache nicht einerlei ist mit der Sprache des Umgangs. Höchstens lern’ ich also durch’s Sprechen nur eine Komödie, oder eine simple Erzälung, kurz alles verstehen, was genau in der Sprache des gemeinen Lebens geschrieben ist. Und grade nur soviel, oder vielmehr noch weniger lern’ ich nach dieser Methode schreiben. Sobald ich mich über Sachen, die nicht ganz in der Sphäre des gemeinen Lebens liegen, schriftlich ausdrükken soll, werd’ ich in Verlegenheit kommen.
Eher, dünkt mich, ist der umgekehrte Satz wahr: wer viel in einer Sprache gelesen und geschrieben hat – der kann sie auch sprechen. Aber freilich wie und was wird er sprechen? Nicht die Umgangssprache, sondern die Büchersprache.
Allein grade dis ist bei todten Sprachen hinlänglich; muß hinlänglich sein. Denn die Sprache des alltäglichen Umgangs kann ich in einer todten Sprache nie lernen. Sonst wäre sie nicht todt. Ich lerne also immer in ihr einzig und allein die Büchersprache sprechen. Aber eben diese kann ich nicht eher richtig und gut sprechen, bis ich Bücher gelesen, und viel gelesen habe.
Es versteht sich von selbst, daß die 4 verschiednen Methoden, die aus den 4 Zwekken entspringen, | [S. 173 ] nie so sehr von einander abgesondert sein können und dürfen, daß sie sich nie und auf keine Weise vermischten. Vornehmlich ist das eine Hauptregel, daß der Lehrling, sobald er zu einer höhern Stuffe der Sprachvollkommenheit gekommen, nicht die vorhergehende niedrigere ganz aus den Augen verlieren muß. Also z. E. wenn mein Schüler eine lebende Sprache ziemlich fertig sprechen kann, und ich nun mit ihm zu lesen anfange, so werd’ ich dabei das Sprechen immer fortsetzen. Oder wenn er in einer todten Sprache durch vieles Lesen endlich so weit gekommen, nachgrade selbst einen schriftlichen Aufsatz darin machen zu können, so soll er dabei doch noch immer mehrere Schriftsteller lesen. Und wenn ich endlich eigentliche Grammatik und Sprachkritik mit ihm anfange, so würde das die trokkenste und langweiligste Sache von der Welt sein, wenn ich ihn nicht zugleich immer weiter noch im Bücherverstehn und Schreiben üben wollte, und eben dabei ihm die Anwendung der Regeln zeigte, oder vielmehr sie ihn selbst machen ließe.
Aus dem allen folgt also, daß die Methode der Spracherlernung nicht überall und beständig einerlei sein kann und darf, sondern daß sie durch 2 Punkte genau genug bestimmt wird. Nehmlich einmal, ob die zu erlernende Sprache todt oder lebend ist, und sodann, was der Lernende für einen Zwek dabei hat. Die Anwendung auf die todte lateinische Sprache ist nun sehr leicht gemacht, und eben deshalb verschob ich dis allgemeine Räsonnement bis in diesen Aufsatz. Alles kommt auf die Frage an, | [S. 174] was ist der Zwek bei Erlernung der lateinischen Sprache?
Alle, die sie lernen, haben, wenn sie überall einen Zwek haben, den, die Schriften in dieser Sprache, vornehmlich die Werke der Alten zu verstehen. Die meisten haben zugleich den, selbst einmal, wenigstens erträglich, bei vorkommenden Gelegenheiten darin schreiben zu können. Viele endlich, wenigstens alle, die selbst künftig in dieser Sprache unterrichten wollen, verlangen und brauchen eine grammatischkritische Kenntnis derselben.
Aber die erste Stuffe des Sprachstudiums, das Sprechen, fällt bei der lateinischen Sprache weg. Ueberhaupt darum, weil sie todte Sprache ist, und nur in Büchern noch lebt. Die vergleichungsweise wenigen Komödien des Plautus und Terenz ersetzen den Mangel der Umgangssprache nicht; zum Theil auch schon darum nicht, weil der Theaterdialog doch schon immer etwas höher geschraubt ist, als der im gemeinen Leben.
Alle Materien, worüber man einmal als Mann Latein zu sprechen Gelegenheit hat, sind Büchermaterien. Aber wird man über diese sprechen können, ohne den Bücherausdruck zu kennen? Und woher diese Kenntnis richtiger und genauer als durch Lesen?- Ueber Sachen des gemeinen Lebens zu sprechen, hat man nie oder äußerst selten Gelegenheit. Warum soll also unser Schüler eine Sprache sprechen lernen, die er künftig nie sprechen wird? Warum soll er durch Sprechen zum Bücherverstehen | [S. 175] geleitet werden, da bei einer todten Sprache der umgekehrte Weg der natürliche ist?
Freilich läßt sich’s zur Noth auch über Sachen des gemeinen Lebens lateinisch sprechen. Aber wie? – Um nur eins anzuführen! Sehr viele ehmalige Begriffe des gemeinen Lebens sind verloschen; noch mehr ganz neue sind an ihre Stelle getreten; viele fortdaurende haben während der langen Zeit und durch die Veränderung der Sitten gewisse neue Modifikazionen bekommen: da im Gegentheil die gelehrtern unsinnlichern Begriffe um ein groß Theil bleibender und unveränderlicher sind. Wie soll man es also beim Sprechen über Gegenstände des gemeinen Lebens machen? – Hat man darüber zu schreiben, welches doch selten der Fall sein wird, so kann man sich schon eher durch längeres Besinnen und aufmerksames Lesen der gewissermassen dahin einschlagenden Schriftsteller, z. E. Plinius, Vitruvius, Kolumella u.s.w. helfen. – Es sind überhaupt nur vier Mittel möglich, die man beim Sprechen über dergleichen Materien gebrauchen kann, die aber insgesammt ihre großen Unbequemlichkeiten haben. Entweder man schaft neue lateinische Wörter – Allein dazu ist die Sprache mehrentheils zu unbiegsam und ungeschmeidig; und um dis, wo es angeht, zu können, muß doch der Lehrling vorher schon aus den Schriften der Alten die Sprachanalogie studirt haben – Oder man behält die deutschen Ausdrükke und giebt ihnen höchstens lateinische Endung. – Allein daraus entstehe Sprachenmengerei. Der Lehrling ergreift | [S. 176] aus Unwissenheit oder Trägheit dis äußerste Mittel auch da, wo es noch nicht nöthig ist, und er gewöhnt sich früh zu einem barbarischen Styl. Oder man biegt lateinische Ausdrükke zu mehr oder weniger ähnlichen deutschen Begriffen, und läßt also, um nur ein Paar auffallende Exempel zu geben, Consul Burgemeister, Tormenta Kanonen, Tibialia Strümpfe bedeuten. Man hängt den neuen Begriffen das altrömische Kleid um. Aber darf man sich wundern, daß es oft zu weit, noch öfter zu eng ist? Verwirrung und Undeutlichkeit der Begriffe, und, was noch schlimmer ist, schiefe Beurtheilung der alten Schriftsteller nach dem Maaßstab der gegenwärtigen Zeit, sind unausbleibliche Folgen dieser Methode. – Endlich die letzte Zuflucht beim Lateinsprechen über Gegenstände des gemeinen Lebens ist die Umschreibung. Allein diese hindert die Uebersicht des Ganzen, und gewöhnt den Lehrling früh zur Weitschweifigkeit und Unpräzision im Ausdruk, mithin auch zur Ungenauigkeit in seinen Begriffen. – Aus dem allen folgt: es ist äußerst schwer, ja beinah’ unmöglich, über Sachen des gemeinen Lebens würklich lateinisch (nicht deutsch-lateinisch) zu sprechen. Es ist schon sehr schwer lateinisch zu schreiben, und ich glaube sehr gern mit d’Alambert, daß ein alter Römer auch bei den besten neuern lateinischen Skribenten den Kopf schütteln würde. Und doch schreiben wir nur über Sachen, über die die Alten größtentheils auch schon geschrieben, wenn gleich in andrer Ordnung und | [S. 177] Verbindung. Wieviel schwerer muß es nicht sein, über Sachen, nicht zu schreiben, sondern zu sprechen, über die die Alten nicht geschrieben, und größtentheils noch nicht schreiben konnten. Eine lateinische Stadt, wie sie Maupertuis projektirte, ist ein Hirngespinst, und ein eben so lächerliches, als sein Vorschlag, die Erde bis auf ihren Mittelpunkt zu durchgraben.
Dis wären also meine Gründe, warum ich die von dem vortreflichen Basedow vorgeschlagne und beim Philantropin in Ausübung gebrachte Methode des Lateinunterrichts nicht billigen kann. Bei lebenden Sprachen, wenn nehmlich der Lehrling den Zwek des mündlichen Sprechens allein oder zugleich hat, also z. E. bei der französichen Sprache, wüßt’ ich keine beßre und natürlichere Methode als die Basedowische. Aber mich dünkt, die Methode bei einer lebenden, und die bei einer todten Sprache kann unmöglich einerlei sein.”
Eh’ ich weiter gehe, und die Methode, die mich selbst die natürlichste beim Unterricht in der lateinischen Sprache dünkt, noch etwas mehr entwikkele, muß ich noch zuvor ein Wort von der Methode des gelehrten Herrn Rektor Bergsträßer sagen, die er im ersten Stük des Gießenschen Archivs für die ausübende Erziehungskunst weitläufiger aus einander gesetzt hat.
Er erklärt sich zuförderst ebenfalls gegen die Methode durch’s Sprechen, wiewol mit etwas andern Gründen. „Zur Fertigkeit in einer Sprache, sagt er, wird allerdings mehr erfordert, als daß | [S. 178] man sich für die Bedürfnisse des Lebens und für die Mode des Umgangs ausdrükken kann. Wäre dis nicht, so würde man sagen müssen, daß ein jedes Baurenkind seine Muttersprache sehr fertig rede und verstehe, eben das Kind, welches fast nicht ein Wort begreift, wenn es nur ein leichtes Histörchen oder eine Fabel liest. Und ist’s denn würklich eine so leichte Sache, wenn es nach und nach eine lebendige Sprache aus dem Umgange mit andern lernt? Uns dünkt es so, weil wir keine große Mühe dabei haben. Ist ein Kind vor dem 5ten bis 7ten Jahre (bey den meisten Kindern dauert es noch länger) im Stande, in einem ordentlichen und vernünftigen Zusammenhange zu reden, welcher dem wahren Sprachgebrauche gemäß ist?”
Er trägt darauf seine eigne Methode vor, die zwischen der alten und zwischen der Basedowschen gewissermaaßen die Mittelstraße hält. Sie beruht vornehmlich auf 2 Stükken, auf Gebetsübungen, und auf katechetischer Erklärung moralischer Sentenzen. Was die erstern betrift, so liest zuerst ein Schüler die Formel eines schiklichen deutschen Gebets ab. Drauf sagt der Lehrer mit Andacht das nehmliche Gebet lateinisch vor. Nach ihm wiederholt ein zweiter Schüler noch einmal die deutsche, und ein dritter endlich die lateinische Formel, ohne sie aus dem bloßen Gedächtnis herzusagen. Mit einer solchen Formel kann die ganze Woche durch alle Tage fortgefahren werden, beides des Vor- und Nachmittags zu Anfang der Schulzeit, so daß | [S. 179] der Lehrer, im äußersten Fall, des Jahrs 50 für das Anfangsgebet aufsetzt, wovon jede wöchentlich 24mal abgelesen würde, beides in deutscher und lateinischer Sprache, wiewol man sich auch für das erste Jahr mit 25 solcher Formeln begnügen, und von Halbjahr zu Halbjahr für die Wiederholung abwechseln kann. Dis sind Herr Bergsträßers eigne Worte, wozu er noch den Wunsch fügt, daß doch irgend ein Kinderfreund taugliche Gebetsformeln zum Besten der Schuljugend in deutscher und lateinischer Sprache mögte in Druk ausgehen lassen. – Ich sage kein Amen zu diesem Wunsche, und überhaupt gesteh’ ich frei heraus, wäre diese Methode auch noch so vortheilhaft zur Erlernung der lateinischen Sprache, ich wählte sie dennoch nicht. – Das Gebet – der heiligste, erhabenste Ausbruch der Empfindung – muß dem Menschen nie und auf keine Weise Methode und Mechanismus werden. Ich hoffe überhaupt alle Formulargebete, auswendig gelernt und selbst gemacht oder nicht. Immer verwandeln sie Gefühl in Geschäft, Dankempfindung in Gankgeplärr; immer taufen und löschen sie die flammende Sprache der Inbrunft mit dem Wiswasser eines zur Gewohnheit gewordenen Tagewerks. Das Gebet sollte nicht erst Empfindung hervorbringen, sondern umgekehrt Empfindung Gebet. Man hat sehr viel Ursache, sich bei der Erziehung eines jungen Menschen in Acht zu nehmen, daß ihm das Gebet keine lästige langweilige Sache werde. Aber wie kann dis verhütet werden, wenn eine und dieselbe | [S. 180] Gebetsformel jeden Tag achtmal hergelesen wird? Ich mögte den Erwachsnen sehn, dem dabei nicht endlich die Zeit lang werden sollte. Und nun gar ein Kind! Was muß es denken, wenn es sieht, daß der Zwek seines Betens nur der ist – lateinische Vokabeln und Phrases zu lernen. Aber selbst nicht einmal dieser Zwek wird erreicht. Denn hundert gegen eins, der Lehrling giebt nicht Achtung auf das Gebet, am wenigsten auf das lateinische, das ihm durch die vorhergegangne deutsche Uebersetzung um nichts verständlicher wird, weil er noch nicht einsieht, in wie fern es Uebersetzung ist, und noch nicht im Stande ist, die Inhaltseinerleiheit zu beurtheilen. Wer die Lebhaftigkeit des kindischen Kopfes kennt, sagt Herr B., der wird begreifen, was es bei dieser Lehrart unvermerkt auch in beiden Sprachen gewinnen kann. Umgekehrt! Grade die Lebhaftigkeit und Flatterhaftigkeit dieses Alters macht diese Methode um so unwürksamer.
Die 2te Maschine in Herr Bergsträßers Methode ist dialogische Erklärung moralischer Sentenzen. „Nach dem Gebet, sagt er, wendet sich der Lehrer seitwärts gegen die Tafel. Zuerst macht er seine Zuhörer mit dem wahren Verstande der angeschriebnen Denksprüche bekannt. Dis in der möglichsten Kürze und in der Muttersprache. Er wiederholt seinen Vortrag, sobald er ihn geendigt hat, in der nehmlichen Sprache, und forscht zuletzt seine Lehrlinge durch Fragen aus, ob sie ihn gefaßt haben. Ist er damit fertig, so thut er das nehmliche lateinisch, und verbindet damit neue Fragen, | [S. 181] die pur lateinisch angestellt, und von dem Schüler sogleich lateinisch beantwortet werden. Herr B. giebt darauf ein Exempel einer solchen Erklärung des Denkspruchs: Loquitor paucula. – Auch diese Methode würd’ ich nicht wählen. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß moralische Sentenzen nichts weniger als reitzend und fesselnd für die Seele eines Kindes sind; zumal wenn ihr Inhalt so sehr allgemein ist, und weder Gedanke noch Ausdruk durch irgend einen besondern Glanz die Augen auf sich zieht. – Die Gleichgültigkeit oder vielmehr der Widerwille des kindischen Alters gegen moralische Sentenzen ist natürlich, und psychologisch. Sentenzen sind allgemeine, abgezogne Wahrheiten. Aber das Kind hat noch zu wenig Denkübung und Erfahrung, um alle die einzelnen Fälle, von denen sie abgezogen sind, zu kennen, und selbst in Gedanken diese Abstrakzion nachzumachen. Denn das thut die Seele jedesmal bei dem Gefühl, daß eine Sentenz wahr sei, oft mit deutlichem Bewußtsein, noch öfter ohne dasselbe. Sentenzen haben ferner nur dann einen Werth, wenn sie aus einer wolgeordneten Reihe von Partikularideen ungezwungen hervorspringen. Aber so einzeln hingeworfen sind es abgerißne Glieder einer Kette, zu denen nicht ein jeder Lust und Geschik hat, die fehlenden Glieder hinzuzuschmieden, vornehmlich, wenn sich’s nicht der Mühe und Kosten verlohnt. Ueberdis wird ein Kind, das zu früh mit dergleichen Allgemeinsätzen genährt wird, auf immer zum forschenden und erfindenden, wenigstens | [S. 182] zum gemeinnützigen Denker verdorben. Man wirft ihm gleich die Resultate des Denkens hin, statt daß man es stuffenweise durch Einzelideen dahinführen sollte. Ein Kind, das beständig die Treppe hinaufgetragen wird, lernt nie recht sicher und fest gehen. Was soll man nun dazu sagen, wenn gar ganze Sentenzensammlungen zum Sprachunterricht für Anfänger zum Grunde gelegt werden? Soll denn durchaus der Anfang des Sprachstudiums dem Lehrling verleidet werden? Und in der That, das thun jene Sentenzen um nicht viel weniger als die grammatischen Regeln, mit denen die alte Methode anfängt. Beide sind Abstrakzionen; diese nur mehr metaphysisch, jene moralisch.
Nach den Sentenzen läßt Herr Bergsträßer einzle an der Tafel angeschriebne Begriffe erklären, vornehmlich solche, die aus der Naturgeschichte und dem bürgerlichen Leben entlehnet sind. Dis schlägt also in die Basedowische Sprachmethode ein, und ich brauche daher nichts besondres darüber zu sagen. Itzt also nur noch etwas von meiner eignen Methode.
Den beiden vorhergehenden Aufsätzen zufolge wünsch’ ich mir zum Lehrling kein 6 oder 8jähriges Kind, das noch leer an Begriffen, und unfähig ist, seine Gedanken zusammenzuhalten und auf ein Ziel hinzuheften, sondern einen an Seel’ und Leib schon etwas herangewachsenen jungen Menschen von wenigstens 14 bis 16 Jahren, der durch vorhergehenden Unterricht schon eine Menge historischer | [S. 183] Kenntnisse eingesammlet hat, und bei dem sich die verschiedenen Seelenkräfte schon allmählich entwikkelt haben, so daß er im Stande ist, ein gemeinnütziges Buch in seiner Muttersprache mit Verstand und Nutzen zu lesen. Mit diesem werd’ ich nun sogleich einen lateinischen Schriftsteller zu lesen anfangen, und zwar ohne alles vorhergegangne Studium grammatischer Regeln, die er doch erst durch die Sprache selbst verstehen lernen müßte, und die er sich also am besten selber nach und nach abstrahirt. Denn die Sprache war eher als die Grammatik. Warum will man beim Unterricht die Methode umkehren? Selbst des ekelhaften Auswendiglernens der Paradigmen der Deklinazionen und Konjugazionen soll mein Lehrling überhoben sein. Das auf den meisten Schulen so vernachlässigte Gefühl der Analogie, das ein jeder Mensch entweder von Natur hat, oder das doch sehr früh in ihm entsteht, wird ihn die verschiednen möglichen Beugungen der Wörter und ihre Aehnlichkeits- und Verschiedenheitsverhältnisse gegen die in seiner Muttersprache sehr bald und unvermerkt wehrend des Lesens finden lassen, und sie werden sich nun weit fester eindrükken, als wenn er sie, ohne gleich ihre Anwendung gesehen zu haben, auswendig lernte. Freilich werd’ ich selber im Anfange die meiste Mühe haben. Denn noch kann mein Lehrling sich nicht auf seine Lekzion durch Hülfe eines Wörterbuchs vorbereiten, weil er noch nicht die Wurzeln der Wörter zu finden weiß. Aber er wird von Tage zu Tage durch mehreres | [S. 184] Lesen immer mehr über diese Schwierigkeit wegkommen, weil ihm von Tage zu Tage die Sprachanalogie immer heller und deutlicher ins Auge fallen wird.
Anfänglich werde ich selber also meinem Schüler vorübersetzen, dabei ihm aber die Bedeutung jedes einzelen Ausdruks genau erklären und ihm die grammatischen Verhältnisse durch Vergleichung mit seiner Muttersprache, oder, wenn er schon außerdem noch irgend eine andre Sprache kennt, mit dieser auffallend machen. Zuerst übersetz’ ich ihm nur einzle Punkte vor, die er ohne Mühe behalten und gleich nachübersetzen kann; allmälig aber immer längere Abschnitte. Weiterhin übersetz’ ich ihm nur den Tag vorher vor, so daß er alsdann durch für sich angestellte Wiederholung sich auf das eigne Uebersetzen des folgenden Tages vorbereitet. Daß er nachher die Uebersetzung zu Hause noch einmal schriftlich machen müsse, versteht sich von selbst; und diese seine Uebersetzung wird, wenn gleich hie und da unrichtig, doch sicherlich kein ganz unverständliches Kauderwelsch werden, wie sie’s fast immer bei jungen Leuten ist, die Latein lernen, ohne vorher ihrer eignen Sprache mächtig geworden zu sein.
Ich denke, es soll nicht lange dauern, so soll mein Lehrling soweit sein, daß er meines Vorübersehens entbehren kann. Er wirft den Leitzaum weg und fängt an, selbst zu gehen. Noch wird er öfters fallen, aber jeder Fall wird seinem Tritt mehr Festigkeit und Sicherheit geben. Er hat durch die anfänglichen | [S. 185] Uebungen schon eine Menge Wörter nach ihren Bedeutungen, und mannigfaltigen Beugungen gelernt. Er kan daher nachgrade schon von den mehresten Wörtern die Wurzel in seinem Lexikon aufsuchen. Mithin kann er sich schon auf die jedesmalige Lekzion vorbereiten. Anfänglich wird diese Präparazion freilich nicht viel weiter gehen, als auf die einzelen Wörter; auch wird er öfters unter mehrern Bedeutungen die hier nicht passende wählen, auch wol ähnliche Wörter verwechseln. Ohne mein Nachhelfen wird er also noch nichts übersetzen können. Aber allmälig wird er der Redverbindungen und Konstrukzionsordnung immer gewohnter werden, und mein Nachhelfen wird sich von Tage zu Tage immer mehr einschränken, bis er endlich im Stande ist, schon für sich allein einen leichten Schriftsteller lesen zu können; der ihm noch dunkeln Stellen, die er übergehen muß, werden täglich weniger werden.
Das Vorübersetzen ist freilich in den mehresten Schulen Mode. Entweder thut es der Lehrer selbst, oder die schon geübtern Schüler. Aber gemeiniglich übertreibt man’s. Man läßt, weil’s bequemer ist, auch den Schüler nachübersetzen, der mit bloßem Nachhelfen des Lehrers schon selbst übersetzen könnte. Es ist eine sehr richtige pädagogische Regel, seinem Lehrling nichts zu schwer zu machen. Aber eben so richtig und von noch größerm Einfluß ist die entgegengesetzte Regel, ihm nichts zu leicht zu machen. Traue, mögt’ ich jedem Lehrer zurufen, traue deinem Lehrling viel zu, und er wird viel leisten. | [S. 186]
Was für Schriftsteller ich mit meinem Lehrling lesen werde? – Zuförderst sicherlich kein Buch eines neuern lateinischen Skribenten, selbst nicht Ernesti’s in jeder andern Rüksicht vortreflich nutzbare Initia doctrinae solid. Also gleich einen alten klaßischen Autor, weil’s doch der Hauptzwek des Lateinlernens ist, die durch soviele Jahrhunderte bewährten Schriften der Alten verstehn zu können. Wer diese versteht, wird auch die neuern lateinischen Schriftsteller verstehen. Aber nicht umgekehrt.
Die Schriftsteller jeder Sprache theilen sich in drei Klassen, deren Grenzen sich freilich in einander verlieren, historische, poetische, philosophische, alle diese Ausdrükke in ihrer weitesten Bedeutung genommen. Dis ist zugleich die natürliche Ordnung, in der sie auf einander folgen; und der stuffenweise Gang, den, wo nicht die Schriftstellerei, doch die allmälige Ausbildung jeder Sprache geht, selbst noch eh sie Schriftzeichen und Schriftsteller hat. Erst erzälte man sich die vorgefallnen Begebenheiten; drauf kam der Dichter, der eben diesen Begebenheiten das Gewand der Poesie umwarf; endlich erst der Philosoph, der die Fakta wieder entkleidete, zergliederte, ordnete, und von ihnen zu allgemeinen Folgerungen ausging.
Eben dieser natürlichen Ordnung werd’ ich mit meinem Lehrling beim Studium der lateinischen Sprache und bei Lesung der verschiednen Schriftsteller derselben folgen. Erst also die historische. Ich würde zuerst des Heuzet Selectae ex prof. scriptis historiae nehmen (eine auf den deutschen Schulen | [S. 187] sehr stark gebrauchte Chrestomathie, wie die vielen starken Auflagen zeigen, von denen allein Herr Prof. Fischer drei oder gar vier in kurzer Zeit hintereinander besorgt hat); wenn nur der Inhalt dem Titel entspräche. Aber so ist der allerkleinste Theil Geschichte, der größte hingegen Moral, ja zum Theil noch schwerere Philosophie: also für den Anfänger nicht anziehend genung, und zu schwer. Denn daß in jeder Sprache der philosophische Styl schwerer sei als der historische, bedarf wol keines Beweises. Einzelideen sind nicht nur ihrem Wesen sondern auch ihrem Ausdruk nach faßlicher als Abstrakzionen. Ueberdis würd’ ich auch darum schon die angeführte Sammlung nicht wälen, weil ein großer Theil nicht ursprünglich lateinisch, sondern aus dem griechischen übersetzt ist. – Das beste wird daher sein, mit dem Nepos anzufangen; und ich hoffe, daß er nach meiner Methode meinem Lehrling nicht auf immer verleidet werden soll, das gewöhnliche Schiksal dieses treflichen Schriftstellers, weil man weniger darauf sieht, daß der Schüler ihn verstehen, als grammatisch analysiren lernt. Ich werde ihm sehr bald den Livius an die Seite setzen, theils um meinem Lehrling den Unterschied zwischen dem Biographen und dem Geschichtsschreiber anschauend zu machen, theils weil der Gang beider Schriftsteller sehr gegen einander kontrastirt, und der Kontrast vornehmlich beim Sprachstudium ein umgemein vortheilhaftes Hülfsmittel ist. Freilich hat Livius viel schwere Stellen. Aber der größte Theil wird auch dem Anfänger unter der Führung | [S. 188] eines geübten Lehrers nicht zuviel Mühe machen, zumal wenn man, da man ihn doch schwerlich ganz lesen kann, die interessantesten Geschichtsperioden heraushebt. Den Zäsar werd ich wenigstens nicht mit meinem Lehrling lesen. Die umständliche und trokkne Erzälung aller Kriegsanstalten und Schlachten würd’ ihm (ich rede von einem jungen Menschen, dem der lebhafteste Schriftsteller der angenehmste ist) bald langweilig werden. Eher würd’ ich, damit er gleich früh den Zizero zu kosten bekäme, die aus allen Schriften desselben von Herrn Sörgeln gesammleten Erzälungen nehmen. Auch würd’ ich bald die Lesung des Terenz anfangen, den ich, wie mich dünkt, mit Recht mehr zu der erzälenden als poetischen Klasse rechnen kann. Plautus wird seiner Archaismen wegen bis dahin verschoben, wenn mein Lehrling schon die meisten Schriftsteller des sogenannten goldnen Zeitalters gelesen hat. Die Abwechslung zwischen so verschiedenen Schrifstellern wird ihn nie ermüden lassen.
Von der historischen Lektur geh’ ich mit ihm zur poetischen über. Aber die erste wird dabei immer fortgesezt, vornehmlich auch wegen des Kontrastes. Zugleich werd’ ich meinen Lehrling anhalten, die leichtern Historiker für sich zu lesen, und dabei gestrost zu überschlagen, was ihm zu schwer ist. Endlich zur philosophischen Lektur; doch so, daß die historische und poetische immer, wenn gleich nun in wenigern Stunden, nebenher fortgesezt wird. Hier werden wir nun also vornehmlich den Zizero lesen, | [S. 189] von dem wir doch schon bei der ersten historischen Lektur, ausser den gesammleten Erzälungen, auch einige historische und freundschaftliche Briefe werden gelesen haben. Seine Reden rechne ich zur philosophischen Klasse, und in noch eigentlicherm Sinn seine rhetorischen Schriften. Doch versteht sich’s von selbst, daß wir die Reden eher als die rhetorischen und eigentlich philosophischen Bücher lesen werden. Denn es ist, dünkt mich, äusserst unnatürlich, wenn auf sehr vielen Schulen das Buch von den Pflichten in der zweiten, die Reden in der ersten Klasse traktirt werden. Die rhetorischen Schriften werden wir zu allerlezt lesen, vornehmlich die Bücher vom Redner.
Um von der Art des Uebersetzens der Schriftsteller noch etwas zu sagen, so dünkt mich, herrschen in Ansehung desselben auf den meisten Schulen vornehmlich zwei entgegengesetzte Fehler. Entweder zu wörtliche, steife, undeutsche Uebersetzung; oder zu freie, bloß den Sinn und mehrentheils nur halb ausdrükkende Uebersetzung, oder vielmehr Paraphrase, ohne daß gezeigt wird, wie dieser nun freilich verständlich ausgedrükte Sinn aus den einzlen Worten und deren Stellung herauskommt, und wie jedes Wort, jede kleine Partikel zur Darstellung dises und keines andern Sinns das ihrige beiträgt. Beide Exponirmethoden haben für den Schüler einen sehr nachtheiligen Erfolg. Bei der erstern gewöhnt er sich zu einem gedankenlosen Lesen, weil er sieht, daß sein Lehrer mit ihm zufrieden ist, wenn er nur Wort vor Wort richtig, wie’s ihm sein | [S. 190] Cellarius oder Kirsch sagte, ausgedrükt hat. Bei der zweiten gewöhnt er sich zu einer seichten Sprachkenntnis; er sucht den Sinn des Schriftstellers nicht, sondern erräth ihn, und begnügt sich mit ohngefährer Kenntnis desselben. – Beide Methoden rühren mehrentheils daher, daß es nicht nur dem Schüler, sondern gemeiniglich auch dem Lehrer an Kenntnis der deutschen Sprache fehlt. Der gelehrteste Kenner der lateinischen Sprache, der auch den schwersten Schriftsteller sehr fertig lateinisch erlernen würde, kommt sehr oft in Verlegenheit, wenn er auch nur einen leichten Autor deutsch erklären, und noch mehr, wenn er ihn übersetzen soll; und dis daher, weil’s ihm an den deutschen Ausdrükken und Wendungen, und an rascher Geschmeidigkeit in Anwendung derselben fehlt. Er kann sich also nicht anders helfen, er wird seine Zuflucht – nicht zu der ersten Methode des ganz wörtlichen lexikonsmäßigen Uebersetzens nehmen – denn nur der Dummkopf und Ignorant hüllen sich in diese Wolke ein, jener ohne es zu wissen, dieser mit Vorsatz – sondern zu der zweiten Methode des bloß paraphrastischen Uebersetzens. Aber es ist augenscheinlich, wieviel der Lehrling dabei verliert, besonders bei Lesung der Dichter. Denn gegen diese versündigt sich die gewöhnliche Exponirmethode am meisten, und sie ist Schuld, daß so viele junge Leute ganz ohne allen ächten Geschmak bleiben, daß sie entweder Pedanten oder schale Belletristen werden, weil ihnen in ihrer Jugend die Dichter der Alten durch das unverständliche und auf der andern Seite durch | [S. 191] das zwar verständliche, aber kraftlose unpoetische Uebersetzen widrig, wenigstens sehr gleichgültig wurden. Es wäre eine übertriebne Forderung, daß jeder Schulmann oder Erklärer eines alten Dichters selbst Dichter oder doch Versifikatör sein sollte. – Besser freilich wär’s. – Aber daß jeder, der es unternimmt, einen Virgil, Horaz, Homer u.s.w. zu erklären, noch etwas mehr als Kenntnis der Originalsprache haben, daß er selbst noch etwas mehr als Dichterliebhaber, daß er Kenner sein müsse, das ist, dünkt mich, keine übertriebne Forderung. Er muß die Schönheiten seines Dichters nicht bloß fühlen, er muß sie zeigen können. Und dazu ist, wenigstens auf Schulen, zugleich die Fähigkeit und Fertigkeit, dichterisch zu übersetzen, nothwendig. Dis letztre kann man, wenigstens in einigem Grade, ohne selbst Dichter zu sein. Man braucht nur seine eigne Sprache philosophisch studirt zu haben, und durch fleißiges aufmerksames Lesen der vaterländischen Dichter mit dem poetischen Ausdruk bekannt geworden zu sein. Aber gemeiniglich hält man den schon für einen ganz geschikten Schulmann, der so ziemlich Latein und zur Noth ein wenig griechisch versteht, und man bedenkt nicht, daß ein Lehrer, um seinen Schülern das Lesen der Alten angenehm und würklich sachnützlich zu machen, auch seiner Muttersprache mächtig sein müsse, und daß es nicht genug ist, daß sein lateinischer Stil, so Gott will, zizeronisch sei, sondern daß auch sein deutscher Stil nicht wie aus dem vorigen Jahrhundert aussehen müsse. Es ist nicht zu sagen, | [S. 192] wieviel ein Schriftsteller des Alterthums, besonders ein Dichter, durch eine schlechte Uebersetzung verliert. Kenneraugen zwar sehen ihn auch durch die Lumpen noch durchschimmern. Aber der Anfänger, der noch nicht das volle Gewicht jedes Ausdruks im Original kennt und fühlt, nimmt natürlicherweise zur Wagschale bei Beurtheilung des alten Dichters die Uebersetzung seines Lehrers an. Aber was für einen Begrif kann er sich nun z. E. vom Horaz machen, wenn er von dem Anfange der 2ten Ode des ersten Buchs etwa diese oder eine ähnlich Uebersetzung macht, oder von seinem der deutschen Dichtersprache unerfahrnen Lehrer hört: Der Vater hat ja nun schon hinlänglichen Schnee und erschreklichen Hagel auf die Erde geschikt, und dadurch, daß er mit seiner rechten Hand, die sich dabei ganz roth färbte, auf die heiligen Schlösser geschmissen, der Stadt sammt allen Völkern ein Schrekken eingejagt; oder gleich darauf: der Fluß, der sich von seiner Frau kommandiren läßt, und gleichsam unter dem Pantoffel steht, trit über sein linkes Ufer aus, indem Jupiter gar sehr unzufrieden damit ist. Die durch das Laster der Eltern dünn gemachte junge Mannschaft wird einmal zu hören bekommen, wie die Bürger gegen einander den Degen scharf machten, mit dem sie lieber die nachdrüklichen Perser hätten umbringen sollen. Sie wird alsdann von den Bataillen Nachricht bekommen – Grade so hört’ ich einmal bei einem öffentlichen Schulexamen übersetzen. Und ich weiß , daß man zum Theil noch geschmakloser auf vielen Schulen | [S. 193] übersetzt, ja ich könnt’ es allenfalls aus gedrukten Büchern beweisen. Wenn es möglich wäre, daß mein Lehrling auf solche oder ähnliche Art übersetzte – ich hoffe es aber nicht, weil ich voraussetze, daß er durch Lesung vaterländischer Dichter sich schon den deutschen Dichterausdruk bekannt gemacht hat – so würd’ ich ihm das matte, wässerige, steife, schiefe, schleppende in seiner Uebersetzung zeigen, und ihn fragen, ob er nicht fühle, daß etwa folgende Uebersetzung besser und des Dichters würdiger sei: Schon genug des Schnees, genug des grausen Hagels hat der Göttervater herabgesandt auf die Erde, und mit blitzgerötheter Rechte niedergeschleudert auf die heiligen Höhen. Da bebte die Stadt, da bebten die Völker – und weiterhin: Es strömt der weibgehorchende Fluß wider Jupiters Willen über sein linkes Ufer hiehin und dorthin. Hören wird einst die durch den Frevel der Väter verringerte Jugend, daß Bürger gegen Bürger den Stahl schliffen, der besser die trotzenden Perser durchbohrte; hören die Schlachten – Mein Lehrling müßte wenig Gefühl haben, wenn er nicht an einer solchen Uebersetzungsart Geschmak finden, und dabei seinen Horaz liebgewinnen sollte.
Freilich kann man weder vom Schüler noch Lehrer verlangen, daß die Uebersetzung überall gleich gut und gleich korrekt sein solle. Oft wird auch der geübteste Lehrer auf eine Stelle stoßen, die ihm unverständlich ist, sei’s nun, daß der Text korrupt ist oder aus andern Ursachen; noch öfter | [S. 194] auf Stellen, die ihm leicht zu verstehen, aber schwer zu übersetzen sind. Aber hier muß er sich auch nicht durch Winkelzüge zu helfen suchen; nicht thun, als verstünd er, was er nicht versteht, oder als hätt’ er durch seine Uebersetzung ganz ausgedrükt, was er nur halb ausgedrükt hat. Er sei vielmehr so aufrichtig, grade herauszusagen: diese Stelle versteh ich nicht ganz, die Schwierigkeit liegt da und da, soviel ich rathen kann ist der Sinn der. Und eben so zeig er öfters, warum es ihm schwer falle, diese oder jene Stelle gut zu übersetzen, weil entweder überhaupt die deutsche Sprache für dis oder jenes lateinische Wort kein ausdrükkendes Gegenwort habe, oder weil es ihm wenigstens nicht gleich beifalle. Er entdekke selbst offenherzig die Mängel in seiner Uebersetzung – je geschikter er ist; desto mehr Mängel wird er sehen – ; er zeige, wie dis und das im Original kürzer, stärker, rascher, eindringender u.s.w. gesagt sei. Zugleich ermuntre er seine Schüler, auf eine beßre Erklärung und Uebersetzung zu sinnen; und sei kein so eingebildeter Pedant, zu glauben, daß sein Schüler nicht dann und wann einen bessern Einfall als er selbst haben könne. Ist der Einfall würklich gut, so nehm er ihn mit Dank an. Nichts wird belohnender und aufmunternder für den Lehrling sein. Taugt der Einfall nichts, so zeig’ er ihm ohne Bitterkeit das untaugliche. Eine solche Methode wird den Geschmak und die Beurtheilungskraft eines jungen Menschen mehr als alles andre bilden und befestigen. Und sie hat noch überdis | [S. 195] für den Lehrer den Vortheil, daß sie ihm die Zuneigung und noch mehr das Zutrauen seines Schülers in einem hohen Grade erwirbt. Denn es ist, dünkt mich, ein sehr richtiger pädagogischer Grundsatz, daß der Lehrer sich durch nichts so sehr das Zutrauen seiner Schüler verschaffen kann, als wenn er offenherzig seine Schwäche und Unwissenheit in diesem und jenem kleinerem Punkt gesteht. Hingegen verliert man eben dis Zutrauen durch nichts so leicht, als wenn man sich seine Schwächen, statt sie zu gestehen, abmerken läßt. Nur freilich gehört zu einem solchen Geständnisse Bewußtsein des Uebergewichts auf der Schale der Vollkommenheiten. Kein Wunder, daß es so selten ist.
Ich werde mit meinem Lehrling eine zwiefache Uebersetzungsmethode, vornehmlich im Anfange, befolgen. Zuerst soll er mir eine Periode ganz wörtlich, allenfalls selbst nach der lateinischen Konstrukzionsordnung übersetzen. – Nur soll dis Uebersetzen nie so wörtlich sein, daß ich ihm bei Wörtern, die in verschiedener Verbindung verschieden ausgedrükt werden müssen, unter den mehrern Ausdrükken den ersten besten verstatte, und daß es mir gleichviel ist, wenn er z. E. auctoritas oder consilium überall durch Ansehen und Anschlag übersetzt, auch da, wo dis keinen Sinn giebt, sondern wo jenes Rath oder Exempel, dis Einsicht, Klugheit oder Absicht bedeutet. – Nach einer solchen wörtlichen Uebersetzung werd ich meinen Lehrling fragen, ob er aus diesem dunkeln Chaos den Sinn hervorschimmern sieht. Sagt er Ja, so werd | [S. 196] ich ihm nun gleich aufgeben, diesen Sinn in verständlicherm Deutsch auszudrükken. Sagt er Nein, so werd ich ihm helfen, aus der dunkeln wörtlichen Uebersetzung den Sinn herauszuwinden; ein andermal werd ich ihm sogleich den eigentlichen Sinn erklärend, nicht übersetzend sagen, und ihn darauf zeigen lassen, wie dieser Sinn in der wörtlichen Uebersetzung verborgen liegt. Es versteht sich, daß diese doppelte Uebersetzungsart nur vornehmlich im Anfange nöthig ist. Ist mein Lehrling schon weiter gekommen, so erlaub’ ich ihm gleich eine freiere Uebersetzung. Doch sobald ich merke, daß er den Sinn nur zu rathen sucht, halt’ ich ihn an, mir diesen Sinn, wenn es der richtige ist, durch wörtliche Uebersetzung zu beweisen; wo nicht, so zeig’ ich selbst ihm eben durch die wörtliche Uebersetzung die Unrichtigkeit. Bei Dichtern kommt gewissermassen noch eine dritte Art des Uebersetzens hinzu, was nehmlich die Allegorien und poetischen Bilder anbetrift. Um recht gewis zu sein, daß mein Lehrling sich nicht bloß das Bild, sondern auch die darunter vorgestellte Idee denkt, und jedesmal beide Vorstellungen, die sinnliche und die deutliche, zusammen hat – werd ich ihm öfters, vornehmlich bei seltnern kühnern Bildern, aufgeben, das poetische Bild in nakte Prosasprache zu übersetzen. So wird er zugleich am besten lernen, wie der Dichter öfters einen sehr alltäglichen Gedanken zur Neuheit herauszuputzen weiß, und wie er zuweilen selbst einer falschen Idee einen blendenden Anstrich von Wahrheit giebt, der wegfällt, sobald man den dichterischen Ausdruk aufschnürt und entkleidet. | [S. 197] So geschmaklos dis scheinen mag, so hat mich doch die Erfahrung gelehrt, daß dis eins der sichersten Mittel sei, den Geschmak junger Leute zu bilden, und sie nach und nach zu der Fertigkeit zu bringen, das dunkle Gefühl des Geschmaks, sobald sie wollen, zur Deutlichkeit der Kritik zu erhöhen, und umgekehrt das oft blendende Licht der Kritik in angenehme Dämmerung des Geschmaks und Gefühls zu verwandeln.
Jeder, der Latein lernt, will gern auch soweit kommen, daß er bei vorkommenden Gelegenheiten in dieser Sprache schreiben kann. Daß so sehr wenige es auch nur mittelmäßig lernen – davon liegt wieder der Grund in den mancherlei verkehrten Methoden. Dahin gehört zuförderst, daß man junge Leute zu früh zu lateinischen Aufsätzen anhält, noch eh’ sie einen hinlänglichen Vorrath von Ausdrükken und eine gewisse Leichtigkeit im Gebrauch derselben besitzen. Mein Lehrling soll, eh er zu schreiben anfängt, schon sehr viel gelesen haben, damit er nicht die Ausdrükke aus dem Lexikon ängstlich zusammenstoppeln darf, sondern damit sie sich ihm von selbst ungezwungen darbieten. Und das werden sie, wenn ich ihn nur über solche Materien schreiben lasse, über die er schon viel gelesen. Nicht grade dieselben Materien, sondern nur ähnliche, zu eben der Hauptgattung gehörige. Natürlich wird also mein Lehrling mit historischen Aufsätzen den Anfang machen, und dis nicht eher, bis er schon ziemliche Progressen in der historischen Lektur gemacht hat. Zu diesen Aufsätzen werd ich ihm allerlei mythologische | [S. 198] und historische Begebenheiten und Anekdoten geben, die ich ihm zuweilen bloß deutsch, zuweilen auch lateinisch mündlich vorerzählen werde. Die Anordnung und Verbindung in diesen Aufsätzen, insofern sie vom Ausdruk unabhängig sind, soll meinem Lehrling keine Mühe machen, weil ich bei ihm schon Fertigkeit und Uebung in deutschen Aufsätzen voraussetze. – Mit den historischen Ausarbeitungen wird mein Lehrling so lange fortfahren, bis er in der philosophischen Lektur schon etwas weiter gekommen. Alsdann werd ich ihn räsonnirende Aufsätze machen lassen, aber über Materien, die ihm geläufig sind. Entweder also werd ich ihm vorher vorräsonniren; oder besser durch Fragen die schon in ihm liegenden Begriffe über die aufgegebene Materie herausholen und so gleichsam auf einen Flek zusammen tragen.
Selbst lateinische Verse werd’ ich meinen Lehrling machen lassen; nicht um ihn zum lateinischen Dichter zu bilden – hat er poetische Talente, so werd’ er in seiner Muttersprache Dichter, nicht in einer fremden, nicht in einer ausgestorbenen, wo er’s entweder überall nicht werden kann, oder wo sich doch seine Dichterkraft alle Augenblikke gefesselt fühlen wird. – Höchstens also will ich ihn zum lateinischen Versifikatör zu machen suchen, den es nicht viel Mühe kostet, eine allenfalls auch unpoetische Idee ins Metrum zusammenzudrängen; und auch dies nicht sowol darum, um künftig Gebrauch davon zu machen, als vielmehr, um den Mechanisnus des lateinischen Versbau’s desto anschauender | [S. 199] kennen zu lernen. Dadurch wird er zugleich den Unterschied zwischen der Prosodie der Alten und der unsrigen einsehen, und sich nicht fälschlich einbilden, als könnten wir wirklich im Deutschen die Sylbenmaaße der Griechen und Römer genau nachbilden. Er wird nemlich durch dergleichen Uebungen lernen, daß die Prosodie der Alten sich nach Längen und Kürzen der Sylben bestimmte, die unsrige hingegen nach Höhen und Tiefen, und daß es eben daraus zu erklären ist, warum wir weder reine Spondäen noch Pyrrhichien (in zweisylbigen Worten) und noch viel weniger den Molossus (- - -) und Tribrachys (ÈÈÈ) haben.
Um gut lateinisch zu schreiben, muß man lateinisch denken. Man muß Idee und lateinischen Ausdruk unmittelbar in einander fugen können, ohne sie erst durch den deutschen Ausdruk zusammenzukitten. Dazu gehört Uebung. Der Anfänger denkt sich, wenn er lateinisch liest, immer erst den lateinischen Ausdruk, dann den deutschen, endlich die Idee, und umgekehrt, wenn er schreiben soll, erst die Idee, darauf den deutschen Ausdruk, endlich den lateinischen. Zuerst geht dis stuffenweise Denken sehr langsam und mit sehr deutlichem Bewußtsein. Mit der Zeit geht es immer schneller, und das Bewußtsein verdunkelt sich immer mehr, bis es ganz verlöscht, doch so, daß wir’s, so bald wir wollen, wieder anfachen können. – Um meinen Lehrling dahin zu bringen, werd ich ihm, wenn er nemlich schon viel gelesen und übersetzt hat, zuweilen | [S. 200] einige nicht sehr verwikkelte Perioden vorlesen, und mir darauf von ihm den allgemeinern Inhalt davon sagen lassen. Anfänglich wird er nur wenig verstanden haben, aber nachgrade wird sich die Seele immer mehr zu dem raschen Sprunge von dem lateinischen Ausdruk unmittelbar zur Idee hin gewöhnen.
Einige sehr gemeine Methoden scheinen recht mit Fleiß dazu ausgedacht zu sein, das Lateindenken zu hemmen, und damit zugleich den ächten Stil in dieser Sprache dem Schüler unmöglich zu machen. Das thut z. E. die so sehr gangbare Exerzizienmethode, da man den jungen Leuten etwas Deutsches diktirt, das sie nachher ins Lateinische übertragen müssen. Eine wahre Marter für sie! Viele von den diktirten Ideen haben sie noch nicht gehabt, haben sie wenigstens noch nicht unter lateinischem Ausdruk gedacht. Diesen müssen sie also erst in Eil herbeischaffen. Wort für Wort wird ängstlich aufgesucht im Lexikon, dessen deutsch-lateinischer Theil ihnen nun der wichtigste ist, und mit dessen Hülfe sie nun auch eine halb deutsch halb lateinisch geformte Mißgeburt zur Welt bringen. Mein Lehrling wird bei seinen eignen Aufsätzen vorzüglich den lateinisch-deutschen Theil seines Lexikons gebrauchen, und lieber seine Ideen, eben darum, weil sie sein sind, so lange drehen und wenden, bis sie in die Zahl und Form der ihm schon bekannten Ausdrükke hinein passen. Freilich wird auch bei ihm zuweilen ein Germanismus mit unterlaufen, aber lange nicht so oft als bei dem Exerzizienschüler. | [S. 201] Und wenn auch bei diesem mit der Zeit und durch Fleiß die groben Germanismen wegfallen, so behält doch der ganze Stil und Periodenbau immer etwas fremdes, so daß der Kenner es auch dem Mann noch anmerkt, ob er als Knabe durch die Exerzizienmethode gemodelt worden.
Etwas weniger nachtheilig ist jene von alten und neuern Schulmännern sehr empfohlne Methode, da man den Schüler etwas Lateinisches übersetzen, und ihn darauf diese seine Uebersetzung ohne Beihülfe des Buchs wieder ins lateinische übertragen läßt. Aber entweder gab er bei der erstern Uebersetzung genau Acht auf das lateinische oder nicht. Im letztern Falle finden eben die Unbequemlichkeiten wie bei der vorigen Methode Statt. Im erstern Fall arbeitet bei der Rükübersetzung nicht die Beurtheilungskraft, sondern lediglich das Gedächtnis, und der ganze Stil des jungen Menschen bekommt ein steifes Kopeiwesen.
Bei Verbesserung der eignen lateinischen Aufsätze meines Lehrlings werd’ ich ihn anfänglich nur auf die gröbern Fehler aufmerksam machen, allmälig aber immer strenger werden. Durch das Verbessern der wider die Grammatik begangnen Fehler wird er sich nach grade selbst Analogie und Regeln formiren, die um desto deutlicher und unvergeßlicher für ihn sein werden, weil er selbst sie von einzelnen Fällen abstrahirt hat. Auch wird es eine sehr nützlich und unterhaltende Methode für ihn sein, wenn ich ihn selbst zuweilen fremde lateinische Aufsätze, die voll Sprachfehler und Germanismen | [S. 202] sind, verbessern lasse; sei’s nun, daß ich selbst mit Fleiß dergleichen Aufsätze mache, oder die Ausarbeitungen seiner Mitschüler aus einer niedrigern Klasse dazu wäle.
Aeußerst nachtheilig für den lateinischen Stil eines jungen Menschen ist jene Pedanterei vieler Lehrer, da sie durchaus keinen Fehler im Ausdruk auf irgend einen von ihnen erklärten lateinischen Schriftsteller wollen kommen lassen, sondern wol gar würkliche Schnitzer gegen die Grammatik als besondre Eleganzen ihren Schülern verkaufen. Aber kann denn nicht den Alten in ihrer Sprache zuweilen eben das begegnet sein, was auch wol den besten heutigen Schriftstellern begegnet? Wozu die weitgetriebne Prädilekzion? Eben darum, muß ich aufrichtig gestehen, haben mir die Textänderungen, die Ernesti öfters beim Zizero und Tazitus latinitate jubente, vornehmlich in Ansehung der sogenannten Convenientia temporum gemacht hat, nie recht gefallen wollen. Immer machen diese Aenderungen dem feinen Gefühl unsers großen Kritikers Ehre. Aber sind sie darum gegründet? Es ist bekannt, daß Zizero selbst zuweilen über die grammatische Richtigkeit dieser oder jenen Art des Ausdruks zweifelhaft war. Ist’s denn schlechterdings unmöglich, daß er, vornehmlich in der Hitze des Schreibens, sich gleich manchem vortreflichen neuern Autor dann und wann einmal versehen und ein Imperfektum gesetzt hätte, wo eigentlich genauer ein Präsens stehen sollte, oder umgekehrt? | [S. 203]
Endlich nun, nachdem mein Lehrling schon sehr viel gelesen und geschrieben hat, fang ich an, eigentliche Grammatik mit ihm zu treiben. Sie wird ihm itzt kein dunkles Chaos mehr sein, wie sie’s für jeden ist, der den unnatürlichen Gang von Akstrakzion zu den einzelnen Fällen gehen muß. Der umgekehrte Naturgang von den einzelnen Fällen zur Abstrakzion wird ihm die Grammatik, diese sonst so schwere Metaphysik, ungemein hell machen. Denn in der That die Grammatik jeder Sprache ist Metaphysik. Man nehme z. E. den Begrif des grammatischen Regierens.
Mein Lehrling wird nun, nachdem er viel gelesen und geschrieben, zugleich sprechen können. Und er wird nun sicherlich kein so fehlerhaftes und unächtes Latein sprechen, wie er nothwendig gesprochen haben würde, wenn er’s früher angefangen hätte. Er wird itzt ohngefähr eben so sprechen, wie er schreibt. In einer lebenden Sprache ist’s freilich unangenehm, einen Menschen zu hören, der wie ein Buch spricht. Aber in einer todten Sprache, die nur noch in Büchern lebt, kann und muß man wie diese sprechen. Eben daher werd ich nun zuletzt immer Lesen und Sprechen verbinden, und was bei Lesung der klaßischen Autoren aus Historie, Geographie, Mythologie, Antiquitäten u.s.w. zu erklären ist, lateinisch erklären und abfragen.
Dis wäre also die Bahn, die ich mit meinem
Lehrling beim
Studium der lateinischen Sprache zu gehen gedächte; eine Bahn, die sich
nicht nur
im Privatunterricht, sondern auch in öffentlichen Schulen | [S. 204]
betreten
ließe. Ich rechne auf jedes Gymnasium nur vier Klassen. Mehr brauchen
wir
nicht. Ist die Zahl der Schüler zu groß dazu, so mache man statt neuer
subordinirten Klassen lieber Parallelklassen. Ich setze aber immer
voraus, daß
der Lehrling schon von den niedrigern Schulen Uebung seiner verschienen
Seelenfähigkeiten, eine Menge historischer Kenntnisse, und vorzüglich
auch
Geläufigkeit im mündlichen und schriftlichen deutschen Ausdruk
mitgebracht hat.
Aldann würd’ er, um meine Methode noch einmal konzentrirt darzustellen,
in
Ansehung der lateinischen Sprache diesen stuffenweisen Gang gehen:
Erste Klasse
Noch weiter nichts als historische Lektur. (Nepos, Livius, Terenz, Zizero’s Erzälungen, und einige bloß freundschaftliche und historische Briefe desselben.)
Zweite Klasse
Historische und poetische Lektur. (Sallust, der ältere Plinius nach Gesners Chrestomathie, Ovids Verwandlungen, Virgils Idyllen u.s.w.) Ferner Uebung in historischen Aufsätzen.
Dritte Klasse
Historische, poetische und philosophische, oder, wenn man lieber will, räsonnirende Lektur. (Sueton, Kurzius – Virgils Aeneis, Horaz – Zizero’s Reden u.s.w.) Uebung in historischen und räsonnirenden Aufsätzen.
| [S. 205]
Vierte Klasse
Die dreifache Lektur, wie vorher, nur in schwerern Schriften (Tazitus – Juvenal, Plautus, Lukrez – Zizero’s philosophische und rhetorische Schriften, vornehmlich von der Natur der Götter und vom Redner etc.) Fortgesetzte Uebung in historischen und räsonnirenden Aufsätzen. Mit dem Lesen und Schreiben verbundnes Studium der Grammatik und Sprachkritik. Zugleich auch lateinisches Sprechen.
In dieser letzten Klasse muß der Schüler zugleich eine Uebersicht der ganzen lateinischen Litteratur, und eine wenigstens ohngefähre Kenntnis aller alten Schriftsteller Roms bekommen. Zu dem Ende müßte keiner derselben in der Bibliothek eines Gymnasiums fehlen, und von jedem müßte, womöglich, die beste Ausgabe da sein. (Denn auch für die Schulbibliotheken müßte bei Verbesserung des Schulwesens ein Fond ausgemittelt werden). Der Lehrer könnte alsdann aus den weniger wichtigen und nicht so häufig vorkommenden Schriftstellern einen längern oder kürzern Abschnitt satzweis vorlesen, und ihn gleich mündlich übersetzen lassen. Oder wäre dazu der Schriftsteller zu schwer, so diktirte er den jungen Leuten diesen Abschnitt, daß sie ihn zu Hause schriftlich übersetzen und zur Durchsicht bringen müßten. Ueberhaupt müßte ihnen der Lehrer begreiflich machen, daß er keinen Schriftsteller deswegen mit ihnen lese, damit sie ihn ein für allemal verstünden – eben darum müßt’ er auch | [S. 206] nicht gleich böse werden, wenn sie einmal die Erklärung dieser oder jenen schwerern Stelle vergessen hätten – sondern seine Absicht sei bloß die, hermeneutisches Gefühl und Fertigkeit zu würken, und sie soweit zu bringen, daß sie sich selbst weiter helfen können.
Ich rechne mit meiner Methode für das Studium der lateinischen Sprache aufs allerhöchste 4 Jahr; die Woche nicht mehr öffentliche Stunden als man gewöhnlich dazu bestimmt, d. h. etwa 8 bis 10 Stunden; wozu denn freilich noch des jungen Menschen eigner Privatfleiß kommen muß. Ein mittelmäßig guter Kopf kann in der angegebenen Zeit fertig werden. Denn der stumpfe Kopf muß gar nicht studiren. Ein vorzügliches Sprachgenie braucht vielleicht nur 2 Jahr. Man lasse also sein Kind immerhin 14 und 16 Jahr alt werden, ehe man es Latein lernen läßt – nur verwahrlose man es nicht in andern Kenntnissen. – Je älter es geworden, und je mehr Uebung und Stärke schon seine Seelenkräfte bekommen, desto rascher wird’s mit dem Sprachstudium gehen. Und alles in der Welt müßte mich trügen, wenn nicht mein Lehrling alsdann nach Verlauf der 4 Jahre viermal so viel Latein wissen sollte, als der größte Theil der nach dem gewöhnlichen Plan unterrichteten, die doch sehr oft zwölf bis sechzehn Jahr an ihre armselige, seichte, unrichtige Kenntniß der lateinischen Sprache gewandt haben.
[S. 207]
IV.
Der größte Theil meines Räsonnements über die lateinische Sprache, und über die Methode, sie zu lernen, ist auch auf die griechische Sprache anwendbar, und ich habe daher nur wenig sie allein betreffendes zu sagen.
Es ist nicht zu leugnen, daß das Studium der griechischen Sprache seit einiger Zeit wieder etwas mehr in Gang zu kommen scheint; und die vortheilhaften Folgen davon äußern sich schon allmälig in unsrer eignen Litteratur. Aber doch wird auf unsern meisten Schulen und Gymnasien noch immer zu wenig Zeit und Fleiß auf die vollkommenste aller Sprachen gewandt. Wenigstens ist, was man für sie thut, mehrentheils so viel als nichts gegen die lateinische Sprache. Diese ist gemeiniglich der Maaßstab der Geschiklichkeiten eines Schullehrers, und wo nicht das einzige doch das Hauptziel aller seiner Bemühungen. Und doch sollte billig jedem Gelehrten die griechische Litteratur ungleich wichtiger, wenigstens eben so wichtig sein, als die lateinische. Die Griechen waren Originalvolk, die Römer in jedem Fache der Litteratur Kopei, wenn gleich oft sehr glükliche Kopei. Ueberdis ist das Studium der Griechen auch darum schon ergiebiger, weil sie mehrere Fächer des Wissens | [S. 208] ausfüllen, und weil sich überhaupt von ihren Schriften ungleich mehrere aus dem Schifbuch zu uns herüber gerettet haben, als von denen der Lateiner.
Es wäre, dünkt mich, eine sehr gerechte Forderung, daß jeder Gelehrte, seine Hauptwissenschaft sei welche sie wolle, griechisch verstehen müßte, und daß daher ohne Ausnahme alle Zöglinge eines Gymnasiums – denn nur künftige Gelehrte müßten das sein – zur Erlernung dieser Sprache angehalten werden sollten. Aber gewöhnlich schränkt man das Studium bloß auf den künftigen Theologen ein, und die mancherlei verkehrten Methoden ziehen ein so grauliches Dunkel darum, daß nur selten ein zu einem andern Fache bestimmter Jüngling Lust bekommt, diese Sprache zu lernen; ja wohl gar viele bloß darum nicht Theologie studiren, um sich nicht mit dem Griechischen martern zu dürfen. Ich selbst habe Gottlob das Vergnügen, daß alle meine Schüler, ohne Unterschied ihrer gelehrten Bestimmung griechisch lernen, und das durch eignen Entschluß, ohne allen Zwang und Widerwillen. Zwar gebe ich gern zu, daß man ein ganz guter Jurist, und ein sehr geschikter Arzt sein könne, ohne griechisch zu wissen. Aber man muß mir auch zugeben, daß man ebenfalls ein sehr guter und erbaulicher Prediger sein könne, ohne auch nur griechisch lesen zu können. – Die Frage ist nur, ob der gründliche Gelehrte dieser Sprache entbehren könne. Und das kann er in keinem einzigen Fache. Wenigstens ist so viel richtig, er wird | [S. 209] mit Kenntnis derselben es ungleich weiter bringen und ein gründlicherer Gelehrter in seinem Fache sein, als ohne sie. Denn er ist alsdann mit der Quelle aller unsrer Gelehrsamkeit bekannt. – Ist er Jurist – er wird alsdann nicht nur die Theile seines Gesetzbuchs, die ursprünglich griechisch geschrieben sind, besser verstehen, sondern nun auch im Stande sein, die Quelle so vieler Gesetze aufzufinden und einzusehn, wie und in wie weit die römische Jurisprudenz sich nach der griechischen formte. Ist er Arzt – mit welchem Vergnügen wird er seinen Hippokrates und Galen im Original lesen, und ausser ihnen noch so viele andre Ueberreste der griechischen Arzneigelehrsamkeit, theils in eignen Schriften andrer wenn gleich minder berühmter Aerzte des Alterthums, theils aber auch in den Schriften der Dichter, (z. E. Nikander) Philosophen, Historiker u.s.w., die so manches enthalten, das über den Zustand der Arzneikunde bei den Alten Licht verbreitet. – Doch in der That muß man es den Arzneigelehrten zum Ruhm nachsagen, daß die größten Männer unter ihnen gemeiniglich auch sehr gute Griechen waren. Und seit jeher gab es unter den gelehrtesten griechischen Philosophen entweder würkliche Aerzte, oder doch solche, die anfänglich die Medizin zu ihrem Studium gemacht hatten. Reiske und Schneider sind die neuesten Exempel davon. Selbst der Naturkündiger, soviel weiter auch unsre Zeiten in diesem Fache gekommen sind, kann dennoch sehr viel aus den dahin gehörigen Schriften des Aristoteles, Theophrast, Aelian, | [S. 210] Oppian u.s.w. lernen. Freilich wird er bei ihnen manche Unrichtigkeiten und Fabeln finden. Immerhin! Auch diese können ihm nutzen, indem er ihre Quelle aufsucht – und indem er sich durch die von den Alten begangnen Trugschlüsse zu desto größrer Vorsichtigkeit im Studium der Natur antreiben läßt. Und wer steht auch unsern größten neuern Naturkündigern dafür, daß man nicht über tausend Jahr in ihren Schriften eben so viel Unrichtigkeiten finden wird. In keiner einzigen Wissenschaft läßt sich so leicht eine neue Entdekkung machen, als in der Naturhistorie; aber auch in keiner einzigen läßt sich’s so leicht irren. Neuerfundne oder verbesserte Instrumente, Reisen u.s.w. werden die Nachwelt theils ganz neue Objekte, theils die alten von einer neuen Seite sehn lassen, und vieles, das itzt als baare Wahrheit angenommen wird, als Irrthum darstellen. Aber wenn die Nachwelt darum die Entdekkungen und Beobachtungen der gegenwärtigen Zeit nicht nutzen wollte, so würde sie ohne Zweifel sehr thöricht handeln. – Noch weniger kann der Mathematiker der griechischen Sprachkenntnis entbehren, da eine beträchtliche Anzahl mathematischer Schriften der Griechen, und unter ihnen die eines Euklides und Archimedes auf unsre Zeiten gekommen. – Für den Philosophen ist’s vollends schändlich, einen Plato, Aristoteles nicht von Person, sondern nur vom Hörensagen zu kennen; vom Okellus hingegen, vom Timäus, Sextus, Alexander von Aphrodis, Simplikius, Plotin, allenfalls aufs höchste den Namen zu wissen.| [S. 211]
Wie sehr verdiente nicht hauptsächlich der letzte von unsern Metaphysikern studirt zu werden. Aber ich wüßte nicht, daß man in neuern Zeiten etwas weiters, als seinen Beweis von der Immaterialität der Seele genutzt hätte. Wenn wir nur erst eine beßre, von einem Philosophen besorgte Ausgabe des scharfsinnigen Plotinus hätten! Denn bis itzt haben wir nur eine einzige sehr mangelhafte aus dem 16ten Jahrhundert – Und der Historiker? Ganz gewis sind auch darum itzt die Robertsons so selten, weil man die Robertsons der Griechen zu wenig liest und studirt, oder sie doch mehr wie Quelle als wie Muster studirt. Aber völlig unerträglich wär’s, wenn jemand die alte Geschichte zu seinem Studium machte, entweder als Geschichtsforscher oder als Geschichtsschreiber, ohne sich den griechischen Quellen nahen zu können, die doch selbst bei der Geschichte Roms weit lautrer sind, als die römischen. Bequemer ist’s freilich, schon geschöpftes Wasser zu trinken, als sich es selbst erst zu schöpfen; aber im ersten Fall läuft man auch oft genug Gefahr, Unreinigkeiten, die sich ans Gefäß angesetzt haben, mit herunterzuschlurfen. – Der Dichter endlich und der Belletrist – Schande für ihn, wenn er bekannt mit den Werken der Neuern keinen der Alten kennt. Armselige Schöngeisterei, die sich, wenn’s hoch kommt, auf die Produkte der Franzosen und Engelländer erstrekt, aber einen Homer, Pindar, Sophokles u.s.w. nur aus Uebersetzungen beurtheilt. – | [S. 212]
Verzeihung, Leser, für diese noch lange nicht vollständige Indukzion! Aber ich bin dreist genug, jeden aufzufordern, mir irgend eine Klasse von Gelehrten zu nennen, der nicht die griechische Sprache wenigstens eben so nothwendig wäre, als dem Theologen. Gemeiniglich macht man aus den Philologen eine eigne Klasse, und es hat freilich seit jeher Männer genug gegeben, die weiter nichts waren und sind, als Philologen. Sonderbar! als wenn nicht jeder Gelehrte auch Philologe sein müßte – Das Mehr oder Weniger kommt hier nicht in Rechnung – und als wenn nicht alle Sprachkenntnis erst durch ihre Anwendung Werth bekäme. Bloße Sprachgelehrsamkeit ist ein aus lauter Zimmeräxten und Sägen und Winkelhaken zusammengesetztes Haus. Wohne meinethalben darin, wer Lust hat – Wie viel bessere Ausgaben der Alten würden wir haben, wenn Philosoph nur vom Philosophen, der Dichter nur vom Dichter oder – was noch besser ist – vom philosophischen Dichterkenner edirt würde! Wie ganz anders sehn daher Heyne’s Ausgaben vom Pindar, Virgil und Tibull aus als die seiner Vorgänger! Wie ganz anders Schneiders Ausgabe vom Oppian als die von Rittershusen, und das darum, weil dieser nicht die Kenntnis der Naturgeschichte hatte, die jener besitzt! Was für eine trefliche Ausgabe des Plato könnte uns ein Mann wie Meiners liefern, wenn er wollte! – Ist’s nicht eine der lächerlichsten Forderungen, daß der Philolog alle Schriften des Alterthums, ohne Unterschied und ohne Rüksicht auf den Inhalt, gleich | [S. 213] gut verstehn soll? Und ist’s nicht eine noch lächerlichere Anmaßung, wenn irgend ein Philolog sich das Ansehn gibt, als könnt er’s? – Freilich muß wer auch nur den leichtesten Schriftsteller des Alterthums ediren will, zugleich auch in andern zu einer andern Klasse gehörenden Schriftstellern einigermaßen belesen sein, um aus diesen jenen mit erklären zu können. Aber eine ganz andre Sache ist’s doch, einen Philosophen als Philosoph, und eine andre, ihn nur in der Rüksicht zu lesen, um aus ihm Materialien zum bessern Verstehen des Historikers oder Dichters zu sammlen.
Aber man hat ja Uebersetzungen genung. O des elenden oft durchlöcherten Schildes, hinter den sich die liebe Bequemlichkeit zu verbergen pflegt. Wer ihn braucht, muß den weiten Umfang der griechischen Litteratur nicht kennen. Sind denn alle Schriftsteller übersetzt? Können sie alle übersetzt werden? Müssen und werden sie’s? Und haben die Leute, die so gern an die Uebersetzungen appellieren, einen deutlichen Begriff davon, was Uebersetzen überhaupt, und Uebersetzen eines alten Schriftstellers heißt, und daß es hundertmal leichter ist, aus dem französischen oder englischen als aus dem griechischen zu übersetzen? – Was ist jede Uebersetzung? – Kein Spiegel, sondern bloßes Porträt, ähnlich und unähnlich, schön und häßlich, je nachdem der Maler ist, und bei uns leider! mehrentheils um desto schlechter, je weniger sich bei uns die Pope’s und Drydens mit dieser Porträtmalerei abgeben. Wer also einen alten Schriftsteller | [S. 214] bloß nach der Uebersetzung beurtheilt, wählt sich eine Braut nach dem bloßen Porträt, und das schlimmste ist, daß er sie sich mehrentheils schlechter oder doch weniger schön vorstellt, als sie in der That ist. Am meisten zu beklagen ist der, der sich in ein Porträt verliebt, ohne im Stande zu sein, die bezauberte Schöne jemals von Person zu sehen. – Aber wozu macht man denn doch Uebersetzungen? – Schöne Frage! Will man nicht auch fragen, wozu man Porträts macht? Freilich besonders für den, der das Original nicht hat, nicht kennt, – für den von seiner Geliebten durch Meer und Länder getrennten Bräutigam. Aber auch dem zärtlichen Ehmann ist ein möglichstähnliches Porträt seines Weibes viel werth. Und es ist in jedem Fall gut, Natur und Gemälde beisammen und neben einander zu haben; wär’s auch nur darum, um zu sehen, wie weit dieses hinter jener zurück bleibt. Freilich trift sich’s alle Augenblikke, daß der eine ausruft: ähnlich zum Sprechen! und gleich drauf ein andrer, wie unähnlich! Im Grunde können sie alle beide Recht haben. Indes bleibt darum doch die Porträtmalerei ein sehr nützliches und angenehmes Studium, und ich kann mich nicht enthalten, bei dieser Gelegenheit meine Befremdung darüber zu äußern, daß unsre Kritiker und Editoren so wenig Rüksicht auf die Uebersetzungen ihrer Autoren in neuern Sprachen zu nehmen pflegen, da sie doch in Ansehung der griechischen Schriftsteller von den lateinischen Uebersetzungen Gebrauch machen, ohngeachtet die meisten im | [S. 215] Durchschnitt gerechnet äußerst elend sind, und schlechter als die in neuern Sprachen, vorausgesetzt, daß diese letztern nicht bloß aus jenen geschöpft sind, wie freilich nur zu oft der Fall ist. Eine gute Uebersetzung, in welcher Sprache es auch sei, ist dennoch immer Kommentar, und eben so gut als alle lateinische Noten. Sie verdient also nicht bloß die Aufmerksamkeit dessen, der die Originalsprache nicht versteht, oder doch erst mit Hülfe der Uebersetzung das Original verstehn will und kann; sondern sie muß auch dem eigentlichen Philologen nicht unwillkommen sein. Ich selbst wenigstens würd’ es verschwören, jemals irgend etwas aus dem griechischen zu übersetzen, wenn ich von niemandem gelesen zu werden hoffen dürfte, als nur von dem, der mich nicht zugleich als Uebersetzer und Erklärer prüfen und wägen könnte. Wer mich alsdann zu leicht befindet, der werfe mich immerhin weg; ich habe alsdann wenigstens den Trost, nicht ungewogen weggeworfen zu sein. –
Daß indessen unsre jungen Leute auf der Schule selten weit im Griechischen kommen, das rührt vornehmlich auch daher, weil man zu wenig Zeit zu ihrer Erlernung bestimmt. Der lateinischen Sprache widmet man allenfalls 12 und mehr Stunden wöchentlich, der griechischen zwei oder drei armselige Stunden. Und doch ist die griechische Sprache offenbar die schwerere, aber auch zugleich die, die am meisten den auf sie gewandten Fleiß belohnt. Meines Bedünkens sollte man also entweder auf beide Sprachen gleichviel Zeit rechnen, oder weil | [S. 216] doch bei der griechischen der eine Zwek, der des Schreibens, wegfällt, auf sie wenigstens ¾ der Zeit wenden, die man dem Lateinischen widmet. Zwar war es ehmals Mode, auch griechische Exerzizien machen zu lassen. Es soll selbst noch itzt hie und da Mode sein; aber auf solche Zeitversplitterung kann nur der Lehrer fallen, der sich nie den eigentlichen Zwek des griechischen Sprachstudiums deutlich gemacht hat. Hat man sehr viel gelesen, so bekommt man unvermerkt von selbst, wie in allen andern Sprachen so auch im Griechischen, ein gewisses Vermögen, sich schriftlich auszudrükken, und wol gar zur Noth einen Vers darin zu machen. Eigentliche Gelegenheit dazu wird man in Ansehung des Griechischen höchst selten finden. Aber will man, um seine durch vieles Lesen erworbne Geschiklichkeit nicht verrosten zu lassen, die Gelegenheit herbeiziehn – meinethalben! Ich lese selbst wol gern einmal zur Abwechslung ein griechisches Gedicht von Rhodomann, oder von Jones eine griechische metrische Uebersetzung eines arabischen oder persischen Gedichts (in seinem Buche de poesi Asiatica). – Aber gleich mit jungen Leuten und auf Schulen dergleichen Uebungen anzustellen, dagegen eifert selbst einer der größten Griechen, der berühmte Ernesti in der Vorrede zu seinem griechischen Lexikon.
Gemeiniglich fängt man die griechische Sprache entweder mit der lateinischen zugleich, oder doch nicht viel später an. Ich wünschte man kehrte die Ordnung um, erst griechisch, dann lateinisch, | [S. 217] und diese letztere Sprache nicht eher, als bis man’s in der erstern zu einigem Grade der Vollkommenheit gebracht hätte, und sie alsdann nur nebenher treiben dürfte. Meine Gründe liegen nicht sehr verstekt. Offenbar erhält die lateinische Sprache aus der griechischen, nach der sie sich in so mancher Absicht formte, mehr Licht, als umgekehrt diese aus jener. Man würde, hätte man zuerst Griechisch gelernt, alsdann desto eher im Lateinischen von mancher Wendung und Art zu reden vornemlich bei den Dichtern Grund und Ursprung einsehen, und auf der andern Seite würde man nicht so oft Gefahr laufen, lateinische Ideen in die griechische Sprache am unrechten Ort überzutragen. – Ein Nebenvortheil wäre, daß der Lehrling nicht früh einen blinden Glauben an die lateinischen Uebersetzungen bekäme, sondern sich bald gewöhnte, mehr die lateinische Uebersetzung nach dem Text zu beurtheilen, als diesen aus jener zu erklären.
Man kann hieraus schon von selbst meine Meinung über jene verkehrte ehmals allgemeine aber auch itzt noch auf so vielen Schulen herrschende Methode errathen, da man das griechische lateinisch exponiren läßt. In der That eine der schädlichsten Methoden für den Fortschritt in beiden Sprachen. Gemeiniglich ist der Lehrling auch im Lateinischen noch nicht gar weit; und man kann also leicht denken, wie deutlich er den Sinn des so wörtlich lateinisch übersetzten Griechen einsieht, und wie angenehm und unterhaltend ihm ein solches Lesen der griechischen Schriftsteller sein müsse. Bei den | [S. 218] Dichtern ist’s vollends kläglich. Wie kann der Lehrling Geschmack und Neigung für sie gewinnen, wenn er sie in eine Sprache übersetzen muß, deren dichterischen Ausdruk er nicht in seiner Gewalt hat, auch nie ganz bekommen kann. In gewissem Sinn ist’s freilich leichter, einen Griechen lateinisch zu übersetzen; und daher hilft sich auch gewöhnlich der Lehrer, der des deutschen Ausdruks nicht mächtig ist, mit dieser Methode. Aber von einer andern Seite ist’s offenbar leichter einen Griechen, vornemlich einen Dichter, gut deutsch zu übersetzen als lateinisch; und das darum, weil unsre Sprache sich weit mehr der griechischen nähert, und sich weit mehr nach ihren mannigfaltigen Wendungen biegen kann, als die lateinische. Man sieht dis z. E. sehr deutlich bei den Wortzusammensetzungen und bei den kleinen Partikeln der Griechen. Diese letztern sind im Lateinischen mehrentheils unübersetzbar; im deutschen weit seltner, weil wir ebenfalls eine ziemliche Anzahl von dergleichen kleinen Partikeln haben, deren Gebrauch gewisse nur dem Mann von Geschmak und Sprachkenntnis sichtbare Feinheiten und Schattirungen in den Ausdruk der Ideen und in die Ideen selbst verwebt. Bei dem Lateinübersetzen der Griechen macht sich daher der Lehrling von jenen griechischen Partikeln gar zu leicht die falsche Vorstellung, als wären’s müßige Flikwörter, die eben so gut hätten wegbleiben können; weil, wie Herr Voß sehr gut sagt, der trotzige Römer sich um dergleichen feine Ausbildungen der Sprache nicht bekümmerte. | [S. 219]
Aus eben den Ursachen wünscht’ ich, daß die Wörterbücher für den Anfänger nicht griechisch-lateinisch wären, wie meines Wissens alle sind, sondern griechisch-deutsch. Berechnen kann ich’s nicht, aber ich fühl’s wie ungemein viel der Lehrling dabei gewinnen würde. Tägliche Erfahrung lehrt mich immer mehr, daß nur die allerwenigsten Wörter, von welcher Sprache es auch sei, in einer andern Sprache genau entsprechende Gegenausdrükke haben, die gewisse allgemeine Sinnideen ausdrükken.
Hieraus ergeben sich aber von selbst die großen Schwierigkeiten bei jedem Wörterbuch einer fremden Sprache. Wählt man nun gar zur Erklärung der Wörter eine andre fremde Sprache, so kann man sich leicht vorstellen, wie unrichtige und schiefe Ideen öfters der Anfänger von der Bedeutung eines Worts bekommen muß. Bei einem griechisch-lateinischen Lexikon also stellt er sich zuerst die griechische Idee unter dem lateinischen Ausdruk vor. Schon dadurch wird die Idee weiter oder enger, als sie im griechischen ist. Aber den lateinischen Ausdruk muß er sich nun wieder deutsch denken. So wird die Idee noch immer mehr, sei’s durch Zuwachs oder Verlust, modifizirt; und am Ende ist sie durch diese doppelte Umschmelzung öfters eine ganz neue verschiedne Idee geworden. Nicht ohne Grund seh’ ich daher jene Wörterbücher als ein Haupthindernis des schnellern Fortrükkens in gründlicher griechischer Sprachkenntnis an. Mit der | [S. 220] Zeit und durch vieles Lesen arbeitet man sich freilich wol durch, und kommt endlich dadurch, daß man die Wörter in so vielen verschiednen Verbindungen angetroffen hat, so weit, daß man ihre allgemeine volle Bedeutung fühlt, ohne sie doch durch den Ausdruk genau darstellen zu können. Aber wenn man dem Anfänger gleich griechisch-deutsche Wörterbücher in die Hände gäbe, so würd’ er eher dahin kommen. Vielleicht daß ich selbst einmal meinen schon vor einigen Jahren gefaßten Entschluß ausführe, und ein vollständig griechisch-deutsches Lexikon zum Gebrauch der Anfänger herausgebe. Doch wird es sicherlich nicht eher geschehen, als bis ich die deutsche Sprache noch mehr in ihrem ganzen weiten Umfange werde studiret haben, um jedem griechischen Worte wenigstens das sich ihm am meisten nähernde deutsche Wort anpassen zu können.
Ich würde dis Lexikon nicht gradedurch alphabetisch sondern etymologisch ordnen. Nur freilich würd’ ich keine weithergeholte – wenn gleich wahre – Etymologie zum Leitfaden nehmen, sondern bloß jene gleich in die Augen fallende, nach der ein Wort von einem andern vermittelst einer kleinen veränderten Biegung abstammt, oder offenbar aus diesen oder jenen mehrern Wörtern zusammengesetzt ist. Es versteht sich von selbst, daß, weil dem ersten Anfänger öfters auch die leichteste Etymologie zu schaffen macht, ein alphabetischgeordnetes Register aller im Lexikon erklärten Wörter hinzugesetzt werden müßte, mit Bezeichnung der jedesmaligen | [S. 221] Seitenzahl. Die anfängliche Mühe des doppelten Aufschlagens würde sich dadurch hinlänglich belohnen, daß der Lehrling nun eine deutlichere Vorstellung von der Bedeutung jedes Worts und von der Ursache dieser seiner Bedeutung bekäme. Auch würd er nun durch die Bekanntschaft mit einem Worte, desto eher zur Bekanntschaft mit allen Verwandten desselben, sowol in der Seitenlinie als in der auf- und absteigenden kommen. Denn er fände jedesmal die ganze Familie, groß und klein, an einem Ort beisammen.
Viele meiner Leser werden’s aus Erfahrung wissen, wie ungemein viel man bei Erlernung einer Sprache durch ein in seinen Schranken bleibendes Studium der Etymologie gewinnt, und wie sehr dadurch dem Gedächtnis das Behalten der Wörter und ihrer Bedeutungen erleichtert wird. Dis gilt nirgends so sehr als bei den tropischen Ausdrükken, und vornehmlich bei solchen, die durch häufigen tropischen Gebrauch ihre eigentliche ursprüngliche Bedeutung beinahe ganz verloren haben. Dergleichen Wörter giebt’s in jeder Sprache die Menge, und es gehören dahin fast alle Ausdrükke intellektueller Objekte. Spracharmuth warf ihnen zuerst den tropischen Rok um; aber dieser wuchs mit der Zeit so fest mit dem Körper selbst zusammen, daß der Unerfahrne beide für Eins hält. Wie gut ist’s also, jene Anatomie, die Etymologie zu verstehen, um durch sie gleichsam das Innre eines Worts hell zu sehen! Man nehme z. E. die Wörter συγχωρεω und απορεω. Wenn Lexikon und Lehrer dem | [S. 222] Anfänger weiter nichts sagen, als daß jenes übereinstimmen, dieses zweifeln bedeute – wie verworren und mangelhaft ist alsdann seine Idee von dem Wort und der Bedeutung! Zeig’ ich ihm hingegen etymologisch, daß das erste Wort eigentlich heiße: mit jemanden einen und denselben Weg gehen, das letztre: sich an einem unwegsamen Ort befinden, und lasse ihn dann selbst daraus die uneigentliche und unsinnlichere Bedeutung des Uebereinstimmens und des Zweifelns herausziehen, so bekommt er nicht nur eine anschauendere Idee von der vollen Bedeutung des Worts, sondern er wird sie nun auch weit eher und leichter behalten. Denn das Gedächtnis würkt immer dann am stärksten und schnellsten, wenn es vereint mit der Imaginazion würkt.
Dis etymologische Herausspinnen der wahren Bedeutung eines Worts findet nicht nur bei einzelnen Wörtern Statt, sondern vornehmlich auch alsdann, wenn mehrere einzle Wörter zusammengenommen nur durch dis oder jenes Eine Wort in unsrer Sprache gegeben werden können und müssen. Dis gilt besonders von einigen griechischen Partikeln. Was für eine mangelhafte und verworrne Idee würde mein Lehrling z. E. von dem Adverb μονονουχι.oder von der Konjunkzion ου μη αλλα και. bekommen, wenn ich ihm bloß sagte, jenes heiße: Beinahe, dieses: Indessen, oder Indessen – doch. Aber um wie viel deutlicher wird seine Idee werden, wenn ich ihm sage, jenes heiße der Etymologie zufolge eigentlich: Nur nicht, dieses: Nicht doch, | [S. 223] sondern auch, und ihm dann durch mehrere Exempel begreiflich mache, wie jene freie Uebersetzung aus dieser wörtlichen herauskommt, und einerlei mit ihr ist.
Es gibt in der griechischen Sprache, wie in jeder andern, sehr viel homonymische Wörter, d. i. solche, die mehr als Eine Bedeutung haben. Die mehrern Bedeutungen eines Worts hängen indessen immer durch diesen oder jenen Tropus zusammen. Mehrentheils läßt sich dieser Zusammenhang zeigen; läßt er sich nicht zeigen, so ist das sichrer Beweis, daß entweder gewisse Zwischenideen, die ehmals die mehrern Bedeutungen zusammenketteten, verloren gegangen, oder daß es nicht verschiedne Bedeutungen, sondern verschiedne Wörter sind, die etwa bloß durch die Aussprache unterschieden wurden. – Jeder Sprachlehrer und vornehmlich jeder Lexikonsschreiber sollte hierauf genau Rüksicht nehmen, und die verschiednen Bedeutungen immer in der Ordnung stellen, wie sie auseinander hervorspringen. Der Lehrer muß daher seinen Schüler bei jedem vielsinnigen Worte zuerst auf die Urbedeutung aufmerksam machen, und ihm denn zeigen, durch was für Relazionsideen und Tropen sich die andern Bedeutungen aus ihr unmittelbar oder mittelbar herauswikkeln.
Eben darum ist es äußerst unphilosophisch, wenn man dem Lehrling statt der allgemeinen Bedeutung eines Worts gleich die speziellere sagt, die es nur in diesem oder jenem näher bestimmenden Zusammenhange | [S. 224] hat, wenn man ihm z. E. sagt: αγαθος heißt auch tapfer, εργον bedeutet auch ein Gebäude, und öfters auch eine Schlacht; und wenn man ihm dann zum Beweise eine Menge Parallelstellen zitirt, wie es Klotz beim Tyrtäus grade mit dem zum Beispiel angeführten Worten macht. Aber nicht doch! αγαθος heißt an und für sich niemals etwas anders als gut, und εργον niemals etwas anders als Werk. Daß aber beide Wörter sehr oft jene speziellere Bedeutungen haben, das brauch’ ich nicht erst durch zusammengeraffte Exempel zu beweisen. Mit ein wenig Philosophie kann ich näher dazu kommen, indem ich meinem Lehrling zeige, wie unter dem allgemeinern Begrif des Gutseins der speziellere des Tapferseins, und eben so unter dem Begrif Werk die speziellern Begriffe: Gebäude und Schlacht enthalten sind. Freilich werd’ ich ihm zugleich sagen, daß, um schön zu übersetzen, man im Deutschen öfters den speziellern Ausdruk auch da wälen müsse, wo im Original nur der allgemeinere steht; aber eben so werd’ ich ihm umgekehrt zeigen, daß ich in andern Fällen wieder im Deutschen den allgemeinern Ausdruk, statt des im Original befindlichen speziellern wälen kann und sehr oft muß, um nicht gegen den Sprachgebrauch zu verstoßen. Es ist unglaublich, wie sehr dis in Lexikons und Noten und mündlichem Unterricht so sehr gewöhnliche Verwechseln der speziellern Bedeutung eines Worts mit der allgemeinern die philosophische Kenntnis der griechischen Sprache hindert, und zu was für Albernheiten und unnützen | [S. 225] Untersuchungen sie öfters selbst sehr große Philologen und Kritiker verleitet.
Eben so schädlich ist die eben so gewöhnliche umgekehrte Verwechselung, wenn man dem Lehrling statt der speziellern Bedeutung, die ein Wort vermöge der Etymologie hat, bloß die allgemeinere nennt, wenn man ihm also z. E. sagt, αργυροπεζος, ιοπλοκαμος u.s.w. heiße weiter nichts als schön, und es ihn beständig so übersetzen läßt. Nicht doch! weder das eine noch das andre Wort heißt schön, und wenn es tausend Hesychien für einerlei mit καλος ausgäben. Jenes heißt: silberfüßig, dieses: violenlokkig. Immerhin mag der Dichter durch dergleichen individuellere Ausdrükke nur den allgemeinern Begrif des Schönseins haben erregen, wollen; immerhin mag es auch Fälle gegen, wo ich besser thue, in der Uebersetzung für diese und ähnliche Wörter einen allgemeinen Ausdruk zu wälen – Deshalb muß ich doch nicht dem Lehrling einbilden, als hätten dergleichen Wörter schon an und für sich die allgemeinere Bedeutung; noch weniger muß ich ihm bei Uebersetzung eines Dichters statt des malenden Details unbildliche Abstrakzion hinwerfen. Vielmehr muß ich ihm zeigen, wie es in allen Sprachen gewöhnlich ist, durch Ausdrükkung der Parzialidee die Totalidee desto näher vor’s Auge zu bringen.
Die bisherigen Erinnerungen, aus denen man zugleich auf den Plan meines künftigen griechischen Schullexikons schließen kann, passen größtentheils | [S. 226] auch auf jede andre Sprache. Itzt nur noch einiges die griechische Sprache allein betreffendes.
Im Ganzen beobacht’ ich völlig dieselbe Methode wie bei der lateinischen Sprache. Ich fange mit der Lektur an, und schließe mit der Grammatik, die mein Lehrling durch vieles Lesen und Vergleichen sich selbst unvermerkt stükweis abstrahirt, und nachher nur noch im zusammengefügten System zu übersehen braucht. Eben so folg’ ich in Ansehung der Lektur völlig derselben Ordnung. Erst historische, dann poetische, endlich philosophische Lektur, doch so, daß nie eine einmal angefangne liegen bleibt, sondern zuletzt alle 3 Arten der Lektur im Gange sind.
Den Anfang werd’ ich, wo irgends möglich, nie mit einem eigentlich schlechten Schriftsteller machen, damit mein Lehrling nicht gleich Lust und Geschmak verliere. Also weg aus den Händen des Anfängers mit dem abgeschmakten Paläphat, weg mit der elenden Anekdotenkompilazion des Aelian. Nur Männer, die schon eingeweiht sind zu den Mysterien der griechischen Litteratur, müssen auch dergleichen Schriften lesen, um aus ihnen Stoff zur Erklärung der bessern Schriftsteller zu sammlen. Denn das ist der nicht zu verachtende Nutzen, den auch die elendesten Schriftsteller des Alterthums gewähren – es wäre geschmaklose Pedanterei, zu leugnen, daß es dergleichen unter ihnen giebt – ein Nutzen, um dessentwillen ich selbst keinen von jenen größtentheils so jämmerlichen griechischen Romanen missen mögte. | [227]
Am wenigsten würd’ ich mit dem neuen Testament den Anfang machen, wenn’s auch nur darum wäre, um nicht das ehrwürdige Archiv unsrer Religion zum Buchstabier- und Lesebuch zu erniedrigen, und dadurch gleich früh dem Jüngling kalte Gleichgültigkeit und Widerwillen dagegen einzuflößen. Schon längst und oft haben Männer von großem Gewicht aus andern Gründen gegen diese Methode geeifert, und deutlich genug gezeigt, daß sie so sehr als irgend etwas eine gründliche Kenntnis der griechischen Sprache hindert. Noch neulich erst hat Herr Michaelis in der neuen Auflage seiner Einleitung ins N. T. sich laut dagegen erklärt. Der Streit über die Reinheit der Gräzität des N. T. ist endlich verstummt; und man hat eingesehen, daß, um sie zu behaupten, es nicht genug sei, zu zeigen, daß diese oder jene einzle Ausdrükke auch dann und wann bei Profanskribenten vorkommen, sondern daß man zeigen müßte, der ganze sich mehr fühlen als beschreiben lassende Geist der Schreibart sei nicht hebraisirend, sondern ächtgriechisch. Man darf, Gottlob! itzt dreist einen Unterschied machen zwischen Inhalt und Sprache des N. T., und man denkt hell genug, um unbeschadet des erstern von der letztern sagen zu können, daß sie barbarisch und ungriechisch sei. Und wo ist der Kenner des Griechischen, der dis nicht sagen müßte? – Gleichwol macht man immer noch auf den meisten Schulen mit dem N. T. den Anfang im griechischen, und auf vielen wird sonst überall nichts gelesen. In der That, | [S. 228] eine beinah’ eben so seltsame und verkehrte Methode, als wenn ein Ausländer unsre Sprache aus einem jüdischdeutschen Buche lernen wollte! Man mache einmal den Versuch, und gebe dem, der nie etwas anders als das N. T. gelesen, auch nur den leichtesten Profanskribenten in die Hand, und wenn er mehr als einzelne Wörter oder höchstens einzelne Sätze versteht, so will ich gelogen haben. Aber umgekehrt, jeder, der in Profanskribenten belesen ist, wird nachher ohne Mühe von selbst das N. T. verstehen, falls es ihm nicht an den anderweitigen Hülfskenntnissen fehlt. Und nun wird er den Unterschied der Gräzität sehr auffallend fühlen. Wer hingegen mit dem N. T. angefangen, und nachher erst Profanskribenten gelesen hat, fühlt diesen Unterschied nicht so leicht. Und daher wollt’ ich fast darauf wetten, daß jene ehmalige Vertheidigung der Purität des N. T., unter welchen freilich einige würklich gute Griechen waren, zu dieser Vertheidigung, ausser einer verworrnen Idee von der Inspirazion, auch mit deswegen kamen, weil sie ihr griechisches Sprachstudium mit dem N. T. angefangen hatten. Denn es ist, dünkt mich, eine allgemein zutreffende Bemerkung, daß der Uebergang vom Schlechtern zum Bessern – ich habe immer nur die Schreibart des N. T. im Sinn – lange nicht so empfindlich und auffallend ist, als der umgekehrte Uebergang vom Bessern zum Schlechtern, und daß man im letztern Fall den Unterschied beider Zustände weit stärker und lebhafter fühlt. | [S. 229]
Also gleich lieber mit einem guten historischen Skribenten den Anfang gemacht, etwa mit Xenophons historischen Schriften, oder mit einigen Biographien des Plutarch, auch allenfalls mit dem Herodian. Da man nur wenige Autoren auf Schulen ganz lesen kann, so sind Chrestomathien, wenn sie vernünftig und mit Geschmak zusammengesetzt sind, gewis nicht die verderbliche Sache, für die sie manche ausschreien. Sie geben, wenn sie nicht etwa zu kurze Stükke enthalten, dem Lehrling Gelegenheit, in der Zeit, da er sonst kaum einen einzigen Autor würde durchgelesen haben, mit mehrern hintereinander hinlänglich bekannt zu werden; eine Sache, die bei dem griechischen Sprachstudium von der äussersten Nothwendigkeit ist. Denn weil die Sprache weit gebildeter ist, als die lateinische, so ist auch der Unterschied der Schreibarten in ihr weit auffallender und markirter; daher es sich öfters zu treffen pflegt, daß jemand, der diesen und jenen Autor durch und durch versteht, dennoch bei einem andern stutzt und stokt, als wenn’s eine ganz andre Sprache wär’. Einige vorzügliche Schriftsteller oder doch einige besondre Schriften derselben verdienen es freilich, schon gleich auf der Schule ganz gelesen zu werden, z. E. Xenophons Kyropädie, die Iliade, einige ganze Stükke der Tragiker. Daher muß in Ansehung der letztern auch für Schulen Herr M. Vollborts tragische Chrestomathie ungemein willkommen sein, weil sie nicht bloß einzle Tiraden, sondern ganze Stükke enthält. | [S. 230]
Wenn wir doch nur erst von den besten Schriftstellern gute wolfeile Handausgaben hätten! Sie müßten, wenn sie würklich für Schulen nützlich sein sollten, weiter nichts als einen korrekten Text und einen griechischdeutschen Index enthalten. Itzt, da das Studium der Griechen allmälig wieder die Flügel zu heben anfängt, wäre dis in der That keine unebne Buchhändlerspekulazion. – Ungemein angenehm war mir indessen die Nachricht, daß Herr Breitkopf in Leipzig sich schon halb und halb dazu entschlossen. Selbst eigentliche Gelehrte, die öfters neben ihrer Folio- und Quartausgabe eine bequemere Handausgabe wünschten, würden’s ihm Dank wissen.
Bei Erklärung der griechischen Schriftsteller muß der Lehrer so aufrichtig sein, von schweren Stellen frei herauszusagen: sie sind schwer, – und von ihm unverständlichen: ich verstehe sie nicht, ich vermuthe allenfalls, das dis und das der Sinn sei, und so und so haben andre Gelehrte, die ebenfalls hier anstießen, vermuthet. So ein Geständnis kann für den Lehrer nichtsweniger als entehrend, für den Schüler aber wird es ausserordentlich aufmunternd sein. Besonders wird es ihm bei seiner Privatlektur, zu der man ihn ja gewöhnen muß, Muth machen; und er wird, wenn er sieht, daß selbst seinem Lehrer zuweilen Schwierigkeiten aufstoßen, sich nicht zurükschrekken lassen, wenn er hie und da nicht fortkann. Ueberhaupt bin ich sehr überzeugt, daß wenn ein junger Mensch, dem es nur sonst nicht an Fähigkeiten und Strebsamkeit fehlt, einen | [S. 231] Widerwillen gegen die Erlernung der griechischen Sprache bekommt, die Schuld sicherlich nicht an der Sprache, sondern lediglich am Lehrer und an der Methode liegt. Denn in der That giebt es keine einzige Sprache, die man, wenn man will, dem Lehrling so angenehm machen kann, als die griechische; aber auch keine, die man, wenn man’s drauf anlegt, ihm so widrig machen könnte, als eben diese.
Um von dem eigentlichen Lesen noch ein Wort zu sagen – nach den Akzenten werd’ ich meinen Lehrling niemals lesen lassen, sondern bloß nach der Prosodie, so daß er auf die Sylbe den Ton legt, die dem Griechen lang war. Ich habe viel und mancherlei über die griechischen Akzente gelesen: aber noch immer kann ich mich nicht von ihrer gegenwärtigen Brauchbarkeit überzeugen, und ich halte mit Herrn Langbein die Erlernung der Akzentuazionstheorie auf der Schule für eine der langweiligsten fruchtlosesten Zeitversplitterungen, mit der man nur einen jungen Menschen martern kann. Ihr einziger Nutzen ist das Unterscheiden der im übrigen ähnlichgeschriebnen Wörter. O des armseligen Vortheils! als wenn’s nicht in jeder Sprache verschiedne Wörter gebe, die völlig einerlei geschrieben und ausgesprochen werden, deren Bedeutung aber erst durch den Zusammenhang bestimmt wird; und als wenn nicht auch der skrupulöseste Kritiker es für die erlaubteste Art des Emendirens hielte, den Akzent zu ändern oder wegzuwerfen. Soviel ich einsehe, konnten die Akzente ehmals, als | [S. 232] noch die wahre griechische Aussprache da war – ich abstrahire indessen hier völlig von der Untersuchung ihres Alterthums oder Neuheit – nur eins von dreien bedeuten. Entweder Dehnung des Tons in Ansehung der Sylbe, auf der sie standen, oder doch in Gedanken hingesetzt wurden – oder Verstärkung – oder endlich Erhöhung des Tons. Dehnung des Tons macht die Sylbe lang. Das sollen die Akzente, wenigstens die itzigen nicht, wie jeder noch so hitzige Vertheidiger derselben bekennt. Verstärkung des Tons ist einestheils mit der Dehnung, anderntheils mit der Erhöhung des Tons einerlei. Und eben diese letztre sollte durch die Akzente (vornehmlich durch den Akutus) angezeigt und vorgeschrieben werden, wie jeder, der nur etwas darüber nachgedacht hat, zugesteht[48]. Demnach konnten die Griechen, wenn’ man will, ihre Verse nach den Akzenten lesen, unbeschadet des Sylbenmasses und des metrischen Wolklangs. Aber können wir es auch noch? Wir könnten’s, wenn unsre Prosodie einerlei mit der griechischen wär’, und wir nicht die griechischen Verse, falls wir überhaupt | [S. 233] Sylbenmaaß hören lassen wollen, wie unsre eigne lesen müßten. Der Unterschied ist, wie ich schon oben einmal gesagt habe, der: die Griechen bestimmten ihre Prosodie nach Längen und Kürzen der Sylben, wir die unsrige nach Höhen und Tiefen, und das wegen der Natur unsrer nordlichen Sprache und Kehle. Wenn ich also z. E. einen griechischen Hexameter nach den Akzenten lese, so klingt’s nicht um ein Haar anders, als wenn’s Prosa wäre, vom hexametrischen Rhythmus hör’ ich alsdann grade gar nichts. Tonlängen hör’ ich nicht, weil wir dergleichen in unsrer Sprache nicht haben, und sie daher auch nicht in der griechischen aussprechen können. Tonhöhen hingegen hör’ ich wol, aber nicht die, welche für unser Ohr einen Hexameter bilden. Ich lese also lieber den Hexameter ohne alle Rüksicht auf die Akzente, oder ich rükke sie vielmehr in Gedanken weg von ihrer Stelle, und denke sie mir auf die Sylben hin, die dem Griechen lang waren. So hör’ ich denn doch einen würklichen Hexameter, freilich nicht den griechischen, aber doch den deutschen; immer noch besser als gar keinen. Was vom Hexameter gilt, das gilt auch von allen übrigen Sylbenmaaßen; nur daß sein und des Pentameters Gang jedem Ohre hörbarer ist, als der Gang der übrigen. Was einige Vertheidiger der Akzente sagen, wir könnten Quantität und Akzent unverwechselt zugleich hören lassen, beweist, wie wenig sie über den Klang der abendländischen Sprachen und über die Prosodie derselben nachgedacht haben. Ueberhaupt kann das Lesen der | [S. 234] Dichter nach den Akzenten nur bei einem völlig unmusikalischen Ohr Schutz finden, und ich bin sehr geneigt zu glauben, daß die gegenwärtigen Akzente ihren Ursprung jenen Zeiten der Barbarei zu verdanken haben, da die Musik, wie die übrigen schönen Künste in tiefen Verfall gerathen war. – Wenn wir nun aber die Poeten unmöglich nach den Akzenten lesen können, sondern vielmehr, durch intellektuelle Wegrükkung derselben auf die langen Sylben hin, das Metrum, falls überall Metrum bleiben soll, gewissermassen nach unsrer Prosodie umschmelzen müssen – so seh’ ich nicht ab, warum wir’s nicht bei den prosaischen Schriftstellern eben so machen wollten. So wär es denn aber auch endlich einmal Zeit, die Jugend nicht mehr mit der ohnedis in vielen Punkten hin und her schwankenden Theorie der Akzente zu martern, sondern es bei einer historischen Kenntnis davon bewenden zu lassen. Es wäre Zeit, endlich einmal dem schon von einigen gegebnen Exempel zu folgen, und auch bei neuen Ausgaben griechischer Schriftsteller diese unnützen, die Korrektur nur erschwerenden Zeichen wegzulassen. Denn wenn wir uns nach ihnen bei der Aussprache nicht richten können und dürfen – so weiß ich doch in der That nicht, warum wir sie schreiben wollten. Ich mögte vielmehr mit Isaak Vossius (de poematum cantu et de viribus rhythmi) und mit Henninius (Hellenismus ορθωδος) den Vorschlag thun, statt der alten Akzente neue einzuführen, die ihre Stelle über den langen, und folglich von uns mit Erhöhung des Tons auszusprechenden Sylben bekämen. | [S. 235] Dis wäre um soviel vernünftiger, wenn es wahr sein sollte, was Vossius vornehmlich aus den alten Grammatikern höchst wahrscheinlich macht, daß grade auf diese Art die alten Griechen akzentuirt hätten, und daß die gegenwärtige Art zu akzentuiren erst damals aufgekommen, da die wahre griechische Aussprache sich allmälig verloren hatte. Er beweist zum Exempel, vor Alters habe man nicht §τοιμος, έρημος, τρόπαιον, βραδύτης, sondern ¥τοÝμος, έρ°μος, τροπαÝον, βραδυτ°ς geschrieben.
Man kann aus dem, was ich bisher gesagt habe, schon von selbst schließen, wie wenig ich glaube, daß wir itzt noch die wahre griechische Aussprache haben, ja nur haben können. Jotazismus und Etazismus, Reuchlinische und Erasmische Aussprache ist mir daher ziemlich einerlei. In einigen Punkten, dünkt mich, hat jene, in einigen diese, in andern vielleicht keine von beiden Recht. Gewissermassen geb’ ich indessen doch der Erasmischen den Vorzug, theils weil überhaupt die Reuchlinische zu weich und monotonisch ist, theils weil vornehmlich bei Dichtern sehr viele Stellen vorkommen, die einen gewissen Naturklang nachahmen sollen, und die nach dieser Aussprache das unnatürlichste widrigste Getön verursachen. Man lese z. E. nach ihr diesen Vers gleich beim Anfang der Iliade[49]:
Δεινη δε κλαγγη γεντ’ αργυρεοιο βιοιο
Dini de klangi genet’ argyreüo biüo.
Wie nervenlos und weibisch klingt der Vers! | [S. 236]
Aber wie ganz anders, wie voll und zürnend, dem Inhalt gemäß, klingt er nach der Erasmischen Aussprache:
Deinä de klangä genet’ argüreoio bioio.
Fürchterlich schwirrend erklang der silberne Bogen des Gottes.
V.
Allgemeine Erfordernisse
zur Verbesserung des Schulwesens.
Bei einer im allgemeinen und für jeden Einzelen so sehr wichtigen Sache, als das Schulwesen und dessen Verbesserung in diesem oder jenem Punkte ist, muß jeder Bürger des Staats eine Stimme haben. Es muß ihm wenigstens erlaubt sein, seine dahin abzielenden Gedanken, Zweifel, Wünsche, Hofnungen frei heraus zu sagen. Prüfe alsdann, wer will und kann. Nur frag’ er nie: wer ist der Mann, ist er alt oder jung, in einem ansehnlichen Amt, ein berühmter Schriftsteller oder nicht? sondern bloß: sind seine Vorschläge tauglich und ausführbar? Findet er sie so; gut, so würke er an seinem Theil mit zur Ausführung. Findet er sie anders – so sei’s ihm unverwehrt, sie hin in die Polterkammer unnützer Projekte zu werfen. Selbst darauf kommt’s nicht an, ob die gethanen Vorschläge und Erinnerungen auch wol schon von andern gemacht sind oder nicht. Manche Sachen wollen, eh’ sie Eingang finden, mehr als einmal gesagt sein.
Daß eine Reformazion des Schulwesens nöthig sei – wer als der Blinde oder der vom Vorurtheil des Alterthums Verblendete zweifelt daran? | [S. 238] Jederman gesteht, das Schulwesen ist im Verfall. Aber wie ist ihm zu helfen? – Durch allmälige stükweise Verbesserung? – O wenn das ganze Gebäude morsch und baufällig ist, was hilft dann alles einzle Flikken und Zumauern hie und da? Lieber niedergerissen und ein neues festes Gebäude hingebaut, das Sturm und Regen trotzt. Kann man denn doch immer aus dem Schutt die noch brauchbaren Steine und Balken hervorsuchen, und sie zu dem neuen Bau brauchen.
Daß das Schulwesen im Verfall ist – woran liegt’s? Die Frage ist oft beantwortet, und nie ganz erschöpft worden, kann’s auch nicht. Der zusammenstoßenden Ursachen, vornehmlich der lokalen, ist ein zu großes Heer. Wer hat Muth und Kraft genug, sie alle zu bekämpfen? – Ich will itzt nur 3 Haupterfordernisse zur Verbesserung des Schulwesens nahmhaft machen, und bloß im allgemeinen zergliedern. Freilich haben dis zum Theil auch schon andre gethan. Aber, wie gesagt, es kann nicht schaden, es noch einmal zu thun, und die Sache vielleicht von dieser oder jenen neuen Seite darzustellen. Es wird ohnedis noch öfter und lauter gesagt werden müssen, eh’ die vereinte Stimme durchdringt. Es fehlt also an einer hinlänglichen Anzal geschikter Schulmänner – es fehlt ferner an einer gehörigen Grenzscheidung zwischen den Schulen, insofern sie Gelehrte, und insofern sie bloß Bürger bilden sollen – und endlich an einem recht eigentlich und allein für das Schulwesen bestimmten Landeskollegium. Diese Mängel | [S. 239] fließen und würken aus und aufeinander. Wer einen heben will, nicht halb, sondern ganz heben will, muß sie alle heben. Aber sie alle gehoben, würde und müßte dem Schulwesen die Vollkommenheit geben, der es nur irgends fähig ist.
Daß es nur wenig würklich gute Schulleute giebt, die mit Wissenschaft, Lehrfähigkeit und philosophischem Studium der jugendlichen Seele und der Kunst, sie zu leiten, ganz das sind, was sie sein sollten, das ist unleugbar. Freilich muß man nicht so ungerecht sein, zu leugnen, daß es nicht noch hie und da dergleichen Männer giebt. Aber abstrahirt von diesen, abstrahirt von manchen treflichen Vorstehern einiger größern Schulen und Gymnasien – wie traurig sieht es nicht mehrentheils unter den subordinirten Lehrern der niedrigern Klassen aus, zu denen man den ersten besten Stümper nimmt, und leider! wol nehmen muß! Was für eine klägliche Gestalt haben fast alle Schulen in kleinern Städten! Denn wieviel kleine Städte von der Größe wie Ruppin giebt es, die eine Schulverfassung wie diese, und eben solche mit strebender Kraft und Erziehungsweisheit ausgerüstete Lehrer hätten, wie sich jeder davon aus ihren Einladungsschriften überzeugen kann! – Wären doch dergleichen Männer keine so große Seltenheit! – Aber wie gesagt, es ist nur zu wahr, daß die Zahl würklich brauchbarer Schullehrer klein, äußerst klein ist. Komme dis Urtheil diesem oder jenem meiner Brüder so hart vor, als es wolle. Bei aufmerksamen Umherschauen und bei einer ohne Vorurtheil | [S. 240] für unsern Stand angestellten Prüfung wird er es selbst als wahr befinden, und es bleibt ihm ja unverwehrt, sich selbst in die kleine Zahl der Ausnahmen mit einzuschließen.
Aber woher dieser sichtbare Mangel an geschikten Schullehrern? Werden etwa itzt weniger Menschen mit den dazu nöthigen Naturfähigkeiten geboren? Unmöglich. Selbst an solchen Männern fehlt es Gottlob nicht, welche die dazu nöthigen erworbnen Kenntnisse und Geschiklichkeiten besitzen. Aber daran liegt’s, daß grade diejenigen, die recht eigentlich durch Natur und Studien für den Schulstand gebildet zu sein schienen, am wenigsten Lust haben, diesem innern Beruf zu folgen – daran liegt’s, daß, wie Resewiz sagt, dieser Stand Männern von Talenten anekelt, und daß sie daher, wenn sie ihn aus Noth ergreifen, je eher je lieber das Joch wieder abzuschütteln suchen.
Wie das zugeht? – Sehr natürlich. Bloß und allein darum, weil es diesem Stande an äußerer Aufmunterung mangelt. Man lese des ebengenannten vortreflichen Resewiz Beantwortung der Frage: Verdiente der Schulstand nicht eben die Ermunterungen und Aussichten, welche andre Stände im gemeinen Wesen genießen? (im ersten Stück seiner Gedanken zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung 1777).
Es sei mir erlaubt, diesen Mangel der Aufmunterung etwas genauer zu zergliedern, damit man ihn desto auffallender sehe. Ich rechne dahin zuförderst die zu große Last von Arbeit, womit man | [S. 241] den Schullehrer gewöhnlich überhäuft und nirgends mehr als in kleinern Städten. Fünf, sechs, ja wol sieben öffentliche Stunden täglich in der Schule zu unterrichten, sieht man als Kleinigkeit an. Will der Mann nicht im eigentlichen Sinn des Worts verhungern, so muß er noch außerdem drei bis 4 kümmerlich bezahlte Stunden in den Häusern geben, und über das alles muß er an vielen Orten, sobald es das Ministerium verlangt, willig und bereit sein, für sie zu predigen. Ich kenne sogar manche Schulen, deren Rektor zugleich Kantor und Organist und beständiger Nachmittagsprediger ist. – Darf man sich wundern, daß von einer solchen Last zusammengedrükt Körper und Geist ihre natürliche Federkraft endlich ganz verlieren? – Und was kann das für ein Unterricht werden, wenn der Lehrer ganz und gar keine Zeit zur Vorbereitung auf seine Lekzionen behält; eine Arbeit, auf die ein Lehrer, der sein Amt nicht obenhin verwalten will, wenigstens eben so viel Zeit verwendet, als auf die Lekzionen selbst. Aber wie kann das der gewöhnliche Schulmann bei der engen Beschränkung seiner Zeit? Wie kann er überhaupt in seinen Kenntnissen weiter fortrükken oder sich sogar nur auf der in seinen Jünglingsjahren, wenn er fleißig war, erreichten Stuffe erhalten? Woher soll er die Zeit nehmen, sich durch Lesung und Prüfung pädagogischer Schriften immer mehr zum vollkommnern Mann in seinem Amt auszubilden? Ich wundre mich daher eben nicht, wenn so sehr viele Schulleute einen Basedow, Resewiz, Rochow | [S. 242] u.s.w. selbst nicht einmal dem Namen nach kennen. Gebükt unter der Last, die auf ihnen liegt, versinken sie allmälig in eine träge schlaffe Gleichgültigkeit, und belächeln es höchstens, wenn sie zufälliger Weise von diesem oder jenem Vorschlage zur Verbesserung der Schulmethoden hören. Sie haben nicht Zeit über dergleichen Gegenstände, so nah sie ihnen auch liegen, nachzudenken. Sie lassen’s also – und wer kanns ihnen verdenken? – geruhig beim Alten, unterrichten, wie sie selbst unterrichtet wurden, ohne sich’s auch nur im Traum einfallen zu lassen, daß es leichtere und für sie selbst und ihre Schüler unterhaltendere Methoden geben könne. –
Wenn man bloß und allein nach Stundenzählung rechnet, so haben freilich sehr viele andre Stände eben so viel und wohl noch mehr Arbeit als der Schulmann. Allein man sei so billig, auch das in Rechnung zu bringen, daß keine einzige Arbeit Geist und Körper so sehr anstrengt und bei längerm Anhalten ermattet, als mündlicher Unterricht, wobei denn doch noch der akademische Lehrer den Vorzug hat, daß sich bei seinem hinter einander fortlaufenden Diskurs die Seele immer nur auf einen Punkt heftet, dagegen sie beim Schulmann bald diese bald jene Wendung nehmen, und bald schreiten, bald springen muß, um immer der Aufmerksamkeit und Fassungskraft seiner Schüler zur Seite zu bleiben. Mancher meiner Leser denkt vielleicht, daß ich hier nur eigentlich meine eigne Sache führe. Wäre dem so – wahrlich! ich | [S. 243] wäre der Mann nicht, zu heucheln. Aber wollte der Himmel, ich könnte nur allen meinen mittelbaren Amtsgenossen so viel von ihrer Last wegwünschen, daß der Rest nicht schwerer wäre, als das Maaß von Arbeit, das mir und meinen unmittelbaren Kollegen die weise Billigkeit unserer Patronen auflegt. Aber was sind Wünsche!
Doch der Schulmann würde immer noch mit Lust und ohne Murren arbeiten, würde ihm seine Arbeit nur belohnt, oder doch verhältnismäßiger und ihrem Einfluß entsprechender belohnt. Es ist wahr, die Arbeit des Schullehrers hat gewisse innre ihr eigenthümliche Belohnungen, die für ein fühlendes Herz von großem Gewicht sind. Für mich wenigstens ists eine der süßesten Freuden, unter meinen Händen die junge Menschheit aufblühn und sich für Wahrheit und Weisheit entknospen zu sehn. Und ich kann mir das stolze Entzükken vorstellen, das dem bejahrten Schullehrer die Brust schwellt beim Anblik eines Manns, der sein Schüler war, und der nun schon wieder in seiner Sphäre rund um sich her Segen verbreitet. Es muß ihm so wohl dabei sein, sich hinsetzen zu können unter den Schatten des Baumes, den er selbst pflegte und begoß, und sich beim Anblik der Früchte all der Mühe, die er auf ihn wandte, in der Rükerinnerung zu freuen. Allein theils haben leider nur wenige den Sinn für dergleichen Belohnungen des innern Gefühls; theils wird selbst bei dem anfänglich noch so sehr von Enthusiasmus glühenden Mann der Eindruk dieses Gefühls mit der Zeit immer | [S. 244] schwächer und schwächer, wenn er von außen her gar nicht unterhalten wird. Und wird er das? O wie kann er’s, wenn es so fortdauert, daß in Ansehung der äußern Umstände der Schulmann unter alle übrige Klassen der Gelehrten, die doch von ihm ihre erste Bildung und Richtung erhielten, tief herunter gedrükt ist.
In vielen kleinen Städten bringen es die Schullehrer, besonders die untersten, kaum etwas über hundert Thaler. Verhungern müßten sie, wenn ihnen nicht noch etwa die reichsten Bürger des Städtchens mit den Chorschülern gleiche Wohlthat wiederfahren ließen, und sie, wie diese, durch Freitische unterstützten. Aber wenn sie gar noch um und neben sich Weib und Kinder mit sich darben sehn müssen – o all des häuslichen Jammers, der dann in Fluten auf sie zuströmt!
In großen Städten und bei eigentlichen Gymnasien stehn sich die Lehrer freilich um ein groß Theil besser, und es wäre auch schlimm, da man von ihnen schon mehr würkliche Gelehrsamkeit fordert. Indessen schätzt man doch den Mann schon ziemlich glüklich, der es dabei etwa auf vierhundert Thaler bringt, und man sagt: er hat eine ganz gute Stelle. Es mag sein. Aber wie muß dem Mann zu Muthe werden, wenn er den Zivilbedienten, der sechshundert Thaler Einkommen hat, sich über seine schlechte Stelle bei den itzigen Zeiten beklagen hört, und wenn er sieht, wie’s ihm durch Geschiklichkeit und Fleiß und Glük gelingt, allmälig seine Lage für sich und seine Familie ansehnlich | [S. 245] zu verbessern? Wie muß ihm zu Muthe werden, wenn er den ersten besten von seinen Schülern, und oft den, von dem er die wenigste Hoffnung hatte, sich in kurzer Zeit in eine weit glänzendere Lage hineinschwingen sieht, als er selbst je zu erreichen hoffen darf? Ja, sagt man, der Zivilbediente muß auch mehr Aufwand machen. Eine herrliche Antwort, die grade das beweist, was ich wollte, – Herunterwürdigung des Schulstandes. Immerhin, sage man, äußrer Glanz ist Tand. Es sei wahr. Aber wenn doch jeder andre Mensch würklichen Werth darauf zu legen scheint – wie kann man von dem Schulmann mit Fug und Recht verlangen – gesetzt daß er auch weise genug dazu ist – daß er allein so übermenschlich denken solle, es nicht zu thun?
Hermes verlangt in seinem Roman: Sophiens Reisen, der überhaupt voll ist von Bemerkungen und Räsonnements, die man nicht da vermuthen sollte, daß der Direktor eines Gymnasiums nebst freier Wohnung 2000 Rthlr., der erste Lehrer 1800, der letzte wenigstens 600 Rthlr. an Gehalt haben müsse. Mags sein, daß in Ansehung der beiden ersten Summen die Saiten zu hoch gespannt sind. Aber es ist eine alte Regel, viel zu fordern, um wenigstens etwas zu erhalten. Was mir indessen an Herr Hermes Plan gradezu nicht gefällt, ist die Ungleichheit, die er unter den Lehrern beobachtet wissen will. Der Direktor einer Schulanstalt muß freilich in Rang und Gehalt um einige Stuffen höher stehen, als die ihm untergeordneten | [S. 246] Lehrer. Aber warum soll wieder unter diesen eine stuffenweise Ungleichheit beobachtet werden? Ich irre mich sehr, oder eben diese Ungleichheit, die auch nach der gegenwärtigen Lage fast bei allen Schulen herrscht, ist keine der kleinsten Ursachen des Schulverfalls. Denn so ist’s kein Wunder, wenn sich für die untersten Stellen mehrentheils nur Stümper finden, und wenn diese denn doch mit der Zeit nach hergebrachter Gewohnheit oder aus Barmherzigkeit höher hinauf gerükt werden, so muß die Schule sinken, und wäre sie vorher wer weiß wie sehr im Flor gewesen. Man würde hingegen weit eher geschikte Männer auch zur Bildung der Anfänger finden, die ihrer fast am meisten bedürfen, wenn alle subordinirte Lehrer einer Anstalt sich in Rang und Titel und Gehalt völlig gleich gemacht wären, und wenn man alsdann bei erfolgter Direkzionsvakanz ohne Rüksicht auf Priorität und Anziennität den geschiktesten und zur Direkzion des Ganzen tauglichsten Lehrer auswählen könnte.
Und in Ansehung der bürgerlichen Achtung – wie ist nicht auch darin der Schulstand unter alle übrige Stände der Gelehrten heruntergedrükt! Wie spricht man nicht gleich von Aufgeblasenheit und Stolz, wenn ein Schullehrer von edlen Gefühls seiner selbst es wagt, jedem mit noch so glänzendem Titel prangenden Mann dreist ins Gesicht zu sehen, ohne sich kriechend zu Pantoffelkuß herunterzubükken! Ergrimmen muß jeder Schulmann, oder er verdients nicht zu sein, wenn er z. E. in | [S. 247] Murrs Denkmal auf Klotzen in einigen Briefen dieses letztern liest, wie er’s seiner nur darum unwürdig hält, sich mit Andreas Götz in Nürnberg in einen Streit einzulassen, weil dieser nichts weiter als ein Schulmann, er hingegen Geheimerrath sei. Und giebt’s nicht der eingebildeten Narren und Gekken genug, die es dem Schulmann in ihrem äußern Betragen gegen ihn mächtiglich fühlen lassen, daß sie mehr in der bürgerlichen Welt sind als er? Wem bei solcher Nichtachtung, die, dem Himmel sei Dank! doch noch nicht ganz allgemein ist, wem dabei nicht Muth und Thätigkeit erschlafft – der muß mehr als ein gewöhnlicher Mensch sein. Zwar auch der geistliche Stand klagt über Nichtachtung. Und in der That seine Klagen sind gegründet, auch ist’s eben darum kein Wunder, daß die Religion immer mehr von ihrer Kraft verliert, weil ihre Diener immer tiefer herunter gewürdigt werden. Aber immer noch hat der geistliche Stand vor dem Schulstand einen großen Vorsprung; wenigstens sind die bürgerlichen Aussichten für den, der sich auszeichnet, immer doch ungleich heller. Resewiz hat wol sehr Recht, den Schulstand den verachteten Nachtrab des verachteten geistlichen Standes zu nennen. Und wenn nur dabei nicht der Einfluß des Lehrers auf seine Schüler so ausserordentlich litte! Es ist unmöglich, daß diese Achtung für ihren Lehrer behalten, wenn sie sehn, wie wenig ihre Eltern aus ihm machen, oder wenn sie wol gar zu hören bekommen, wie er von den Scholarchen bei der und | [S. 248] der Gelegenheit angeschnarcht worden. Mich dünkt bei aller lächerlichen Uebertreibung liegt dennoch etwas wahres in jenem Einfall eines englischen Schulmanns, der, bei einem Besuche Königs Karl II. in seiner Schule, den Hut aufsetzte, und auf Befragung zur Antwort gab: meine Schüler müssen nicht glauben, daß ein vornehmerer Mann als ich in der Stadt sei.
Die gewöhnliche Subordinazion der Schulen unter die Aufsicht der Geistlichkeit schreibt sich, wenn ich nicht irre, noch aus jenen Zeiten der Möncherei und des Aberglaubens her, da man jedem Lichtstral reinerer Erkenntniß, der etwa aus den Schulen hervordämmern konnte, den Weg zu versperren suchte. Die Ursache hat aufgehört. Warum dauert die Folge fort? – Man würd’ es sonderbar finden, wenn ein Zivilbedienter zum Aufseher über ein Korps Soldaten bestellt würde. Aber das Verhältniß ist beinah dasselbe. Um einen Schulmann beurtheilen und leiten, und, wenn er fehlt, zurecht weisen zu können – muß man zwar nicht nothwendig selbst Schulmann sein, aber doch durchaus die Kenntnisse eines Schulmanns haben. Es ist wahr, viele Prediger haben sie, und mancher würde vielleicht ein treflicher Schulmann gewesen sein. Aber kann man wol mit Billigkeit dergleichen Kenntnisse von jedem Geistlichen ohne Unterschied erwarten und fordern? Er kann ohne sie ein sehr brauchbarer Mann in seinem Stande sein; aber zum Schulaufseher taugt er ohne theoretischpraktische Kenntniß des Schulwesens schlechterdings | [S. 249] nicht. Kommt gar noch Eigendünkel bei ihm hinzu, so wird er mehr Schaden als Nutzen stiften. Unstreitig würd’ es also besser und zugleich für den Schulmann aufmunternder sein, wenn Schulmann unter Schulmann subordiniret wäre; und wenn man zu diesem Behuf die Schulinspekzion eben so wie die geistliche in Diözesen vertheilte, und dem tüchtigsten Schullehrer der größern Städte und Schulen die Aufsicht über alle zu einem gewissen Distrikt gehörige kleinere Schulen auftrüge. Führt’ ich vorhin nicht meine eigne Sache, so führ ich sie itzt wahrlich noch weniger. Hätten alle Schulen solche Männer zu Aufsehern, wie die Schulen in Berlin – ich hätte kein Wort gesagt. Aber ich weiß es zu gut, wie oft an andern Orten der geschikte Schulman in einen edlen Unwillen, den ihm kein Mensch verdenken kann, geräth, wenn er sich von einem Mann, der nicht im Stande ist, ihn und seine Lehrart zu beurtheilen, meistern und wol gar bei diesen oder jenen vortheilhaften Aenderungen der Methode verhindern lassen muß. Geschähe ihm dasselbe von einem Manne seines Standes und Amtes, so würd’ er – sich freilich nicht immer überzeugt fühlen, aber doch mit wenigerm Unmuth gehorchen.
Ich rechne auch das zum Mangel der Aufmunterung des Schulstandes, daß man zu wenig für den durch Alter untüchtig gewordnen Schulmann sorgt, oder wenn man es thut, es entweder nur halb thut, indem man ihm einen Adjunkt giebt, oder – noch schlimmer – auf Unkosten der | [S. 250] Schule und der übrigen Lehrer. Gemeiniglich denkt man auch bloß an physische Untüchtigkeit; und vergißt, daß es beim Schulmann auch eine durch Alter entstehende psychologische Untüchtigkeit geben könne. Und diese letztre entsteht gewöhnlich weit früher als die erstre, und überhaupt findet sie sich bei keinem Stande eher ein, als beim Schulstande. Es kann einer im 60sten und 70sten Jahr der gründlichste Gelehrte und der vortreflichste Schriftsteller von der Welt sein; – aber schwerlich wird er in diesem Alter noch ein brauchbarer Schullehrer sein. Und doch braucht darum noch keine physische Untüchtigkeit Statt zu finden. Aber allmälig verliert sich mit zunehmendem Alter die Munterkeit und Lebhaftigkeit, ohne die jemand lieber alles andre, als Schulmann werden und sein sollte. Die Sinne werden stumpfer, die Aufmerksamkeit, die bei dem jüngern Mann getheilter ist heftet sich mehr auf einen Punkt. Dadurch gewinnt der Vortrag zwar an Gründlichkeit und Gedankenfülle; aber eben darum macht er der Fassungskraft des Lehrlings mehr Mühe. Auch verliert sich bei den Schülern allmälig jene zutrauliche Gesinnung, ohne die ich wenigstens nicht Schulmann sein mögte. Sie verwandelt sich, wenn’s gut geht, in bloße, oft sehr kalte Ehrfurcht, die eine Kluft von Zurückhaltung zwischen Lehrer und Schüler befestigt. Vornehmlich sollte man den jüngern Schülern, soviel möglich immer einen jungen Lehrer geben; und eben darum würd’ es sehr vortheilhaft sein, in manchen Stükken den Unterricht in den untern | [S. 251] Klassen durch die geschiktesten Schüler der ersten Ordnung besorgen zu lassen. Dis würde zugleich für diese letztern von ungemein großem Nutzen sein, zumal wenn ein solcher Auftrag als Belohnung des Fleisses ertheilt würde. Ueberhaupt, dünkt mich, lernt das Kind am liebsten vom Knaben, der Knabe am liebsten vom Jüngling, der Jüngling am liebsten vom blühenden Mann, der Mann am liebsten vom Greis. Eine Bemerkung, die man täglich durch die Erfahrung bestättigt sehen kann.
Genug von dem Mangel an Aufmunterung für den Schulstand! Man heb’ ihn, und der Mangel an geschikten Lehrern wird zugleich mit gehoben sein. Es werden sich alsdann brauchbare Männer genug finden, die die Schule nicht mehr als einen bloßen Durchgang zum Predigtamt ansehn werden. Wünscht aber dennoch einer und der andre mit der Zeit, sein Amt mit einer Predigerstelle zu vertauschen – gut! Man lasse ihn. Er wird nun ein desto besserer Prediger werden, je mehr er Gelegenheit hatte, das menschliche Herz zu der Zeit, da es noch am offensten ist, zu studieren, und je mehr er durch den Schulunterricht sich die Gabe des faßlichen Vortrags erwarb. Ueberhaupt wünscht’ ich nicht, daß man aus dem Schulstand einen so ganz eignen abgezäunten Stand machte, daß der Uebergang zu einem andren Stande unmöglich wäre. Allerlei physische und psychologische Ursachen lassen öfters den besten Schulmann eine Veränderung des Standes wünschen. Und wenn er Gaben für mehr | [S. 252] als einen Stand hat, warum wollte man ihn verhindern, durch ihren Gebrauch nach und nach in verschiednen Sphären nützlich zu sein? Sobald ein Schulmann aufhört, gern Schulmann zu sein, sobald hört auch seine Brauchbarkeit auf.
Aber freilich sollte man auch auf der andern Seite niemals den Stand des Schulmanns und den des Geistlichen sich so genau verkettet denken, daß man es als ein nothwendiges Erfordernis zum Schulmann ansähe, Theologie studirt zu haben. Es müßte völlig gleichgültig sein, bei welcher Fakultät er seine Kollegien gehört hätte. Indes müßten billig alle Universitäten, wie für die Bildung der andern gelehrten Stände, so auch vornehmlich für die Bildung des Schulmanns sorgen. Die philologischen Seminarien in Göttingen, Erlangen und Halle[50] sind daher sehr wolthätige Institute, und mich dünkt, der Nutzen, den die pädagogischen Vorlesungen auf diesen und einigen andern Universitäten stiften, ist sehr beträchtlich. Aber doch würde dieser Nutzen vielleicht noch größer und ausgebreiteter sein, wenn auf jeder Universität ein ganz eigner durch ein vorheriges Schulamt gebildeter Professor der Pädagogik angesetzt würde.
Das zweite Haupterfordernis, ohne welches man an keine würkliche Verbesserung des Schulwesens denken darf, ist eine sorgfältige Grenzscheidung zwischen Schulen, die zur Bildung des | [S. 253] Gelehrten, und zwischen solchen, die bloß zur Bildung des Bürgers bestimmt sind. Denn so wie die Sachen itzt stehen, ist keine einzige Stadtschule, die nicht gewissermassen gelehrten Zuschnitt hat. Es ist wol sehr augenscheinlich, wie schädlich eine solche Erziehungsmengerei für den Staat ist, da die Gelehrten doch immer nur den kleinsten Theil der Bürger eines Staats ausmachen. Bei der gegenwärtigen Einrichtung läßt sich diese Vermengung der doppelten Erziehung durchaus nicht vermeiden; wird sie doch selbst nicht auf den sogenannten Realschulen vermieden. Denn auch hier wird, soviel ich weiß, der auch nicht zum Gelehrten bestimmte Knabe zum Lateinlernen angehalten. Ich fodre jeden Kenner und Denker auf, folgenden allgemeinern Plan zu prüfen und zu berichtigen, und, falls er überall nichts taugt, einen bessern an seine Stelle zu setzen:
1) Die Schulen in einem Staat müßten außer den Landschulen in zwei ganz voneinander abgesonderte Hauptgattungen abgetheilt werden, in Bürgerschulen und Gelehrtenschulen, oder Gymnasien. Eigne Anstalten zur Bildung dieses oder jenes besondren Standes, z. E. des künftigen Offiziers oder Kaufmanns, würden darum nicht unnütz, ob sie gleich nicht unumgänglich nothwendig wären.
2) Auf den Bürgerschulen würde überhaupt der Mensch und der Bürger, und besonders der Bürger eines bestimmten Staats gebildet. Denn verschiedne Staatsverfassung erfordert auch verschiedne | [S. 254] Erziehung. Hier müßten die mancherlei Seelenfähigkeiten des Menschen entwikkelt und gebildet werden. Die jungen Leute müßten zum Denken und Räsonniren geleitet werden. So würde man auch unter den niedrigern Ständen mehrere erfindende Genies bekommen. Resewizens Plan zur Erziehung des Bürgers fände hier seine volle Anwendung. Besonders müßten die jungen Leute auch mit der gesetzlichen und obrigkeitlichen Verfassung ihres Vaterlandes genau bekannt gemacht werden.
3) Auf diesen Bürgerschulen würde jeder künftige Bürger ohne Unterschied gebildet. Also der künftige Handwerker, Künstler, Kaufmann, und selbst der künftige Gelehrte. Bei diesem letztern Stande würde man alsdann künftig weniger jene tiefe Unwissenheit in Dingen des gemeinen Lebens finden, in der sich jetzt mancher große Gelehrte befindet, ohne daß man’s ihm verdenken kann, weil er nach der gewöhnlichen Einrichtung zu früh zum Gelehrten gebildet wurde, eh er überhaupt zum Bürger gebildet worden war.
4) Aber auf keinen einzigen dieser verschiednen Stände würde eigne besondre Rüksicht genommen, sondern der Unterricht müßte durch und durch allgemeinnützlich sein. Folglich auch keine Anweisung zu irgend einem besondern Metier, die ohnedis der blos theoretische Schulmann nur sehr schlecht geben würde. Der Handwerksmann und Künstler bekommt diese besondere Anweisung nirgends besser als in der Werkstätte seines Meisters; | [S. 255] der künftige Kaufmann nirgends besser und deutlicher als auf dem Comtoir seines Handlungsherrn, so wie der Gelehrte auf den Gelehrtenschulen und Universitäten. Aber eine allgemeine Uebersicht aller möglichen Gewerbe und Handthierungen und des mannigfaltig verketteten Zusammenhangs derselben unter einander müßte als eine gemeinnützliche Sache jedem Lehrling auf diesen Schulen verschaft werden. Alsdann würde zugleich jene Fremdheit oder wohl gar Verachtung der verschiednen Stände gegen einander um ein Großes verringert werden.
5) In jeder kleinen Stadt würde statt ihrer bisherigen lateinischen Schule eine solche Bürgerschule angelegt. In größern, vornehmlich in Hauptstädten könnten und müßten ihrer mehr als eine sein. Auch müßten die in den größern Städten mehrere Klassen und Lehrer als die in den kleinern haben. Der künftige Handwerksmann müßte nicht nothwendig bis zur obersten Klasse fortzurükken brauchen. In dieser würden schon mehr solche Kenntnisse erworben, die mehr für die gesittetern höhern Bürgerstände nützlich wären. Vornehmlich würde also in ihr auch die französische Sprache gelehrt, und zwar nach der Basedowischen Sprechmethode, weil bei den meißten Lehrlingen bloße Sprechfertigkeit der Hauptzwek sein würde.
6) Die Lehrer an diesen Bürgerschulen brauchten zwar keine eigentliche Gelehrte zu sein. Aber doch, dünkt mich, würde man am vortheilhaftesten diese Lehrstellen mit Kandidaten des Predigtamts besetzen; und zwar so, daß niemand sich um eine | [S. 256] Predigerstelle bewerben dürfte, der nicht eine längere oder kürzere Zeit an einer solchen Bürgerschule gearbeitet hätte. Dis würde für sie zugleich eine trefliche Vorbereitung zum Predigtamt sein; um so mehr, da sie’s als Prediger nie eigentlich mit dem Gelehrten als Gelehrten, sondern nur mit dem Menschen und Bürger zu thun haben sollen. Statt der gewöhnlichen lateinischen Titel, bei welchem sich der gemeine Mann gar nichts, andre immer einen Pedanten denken, könnte man diesen Lehrern den allgemein verständlichen und gewis ehrenvollen Titel: Erzieher, beilegen. Uebrigens müßten sie sich alle an Rang und Gehalt gleich sein, den Schulvorsteher ausgenommen. Wer von diesen Lehrern sich ganz dem Schulamt widmen wollte, würde, wenn er die nöthigen gelehrten Kenntnisse besäße, mit der Zeit an eine Gelehrtenschule hinbefördert.
7) Aus diesen Bürgerschulen ginge der nicht zum Studiren bestimmte, wie gewöhnlich, in die Lehre zu diesem oder jenem Meister oder Künstler, dessen Metier er sich gewält hätte. Der künftige Gelehrte hingegen ginge aus ihnen über zur Gelehrtenschule, auf der keiner angenommen würde, der nicht alle Klassen der Bürgerschule durchgegangen wäre, weil der Plan der Gelehrtenschule genau in den der Bürgerschule einpassen müßte, so daß sie für den künftigen Gelehrten eben das wäre, was für den künftigen Handwerksmann die Werkstatt seines Meisters ist – besondre Vorbereitung. Mögte doch allenfalls der zum Gelehrten bestimmte Jüngling erst im 16ten Jahr die Bürgerschule verlassen. | [S. 257] Könnt’ es früher geschehen – gut! Aber wenn auch nicht, er hätte noch immer Zeit genug zur gelehrten Vorbereitung. Denn er müßte ein ziemlich stumpfer Kopf sein – aber dann würd’ er überhaupt nicht zugelassen zum Studiren – wenn er nicht in 4 Jahren auf der Gelehrtenschule fertig werden könnte.
8) Der Gelehrtenschulen müßten im Verhältnis gegen die Bürgerschulen nur sehr wenige sein, weil ihre Schüler nur aus dem kleinsten Theil der auf den Bürgerschulen unterrichteten jungen Leute bestünde. An jedem Orte, der eine Gelehrtenschule hätte, wär auch eine Bürgerschule, aber beiweiten nicht umgekehrt. Mich dünkt, für ein Land von der Größe, wie die Mark Brandenburg, wären 4 Gelehrtenschulen ziemlich hinreichend.
9) Diese Gelehrtenschulen müßten freilich in den größern Städten angelegt werden, weil sich hier eine größre Anzahl von zum Studiren bestimmten jungen Leuten finden würde. Aber doch würd’ ich’s nicht für rathsam halten, eine Gelehrtenschule an einem Orte anzulegen, wo eine Universität wäre, damit dem Schüler nicht zu früh der Student in den Kopf führe. Der Professor der Pädagogik würde daher mit seinen Zuhörern die praktischen Uebungen nur in der an seinem Ort befindlichen Bürgerschule anstellen können. Und dis würde auch unstreitig besser sein, als wenn er es in einer Gelehrtenschule thäte, weil seine Zuhörer doch zunächst nur Lehrer an den Bürgerschulen werden sollten. – So würde zugleich am besten verhindert, | [S. 258] daß nicht jeder Bürger einer solchen Stadt den Einfall bekäme, seinen Sohn, weil’s ihn ja nur wenig kostete, studiren zu lassen.
10) Und eben darum, weil die Gelehrtenschulen immer sehr viele aus andern Orten gebürtige Lehrlinge haben würden, so müßte man, soviel irgends möglich, die Anstalt zu treffen suchen, daß sie nicht zerstreut in der Stadt, sondern zusammen unter der Aufsicht der Lehrer wohnten. So würde zugleich für ihre moralische Bildung besser gesorgt. – Bei den Bürgerschulen wär’ ein solches Beisammenwohnen der Lehrlinge nicht nöthig, weil diese mehrentheils nur Kinder derselben Stadt sein würden.
11) Auf den Gelehrtenschulen würde der Gelehrte überhaupt gebildet. Also würden auf ihnen ausser dem jeden Gelehrten als Gelehrten nöthigen wissenschaftlichen Kenntnissen, und ausser der historischen Vorkenntnis aller künftig auf der Universität eigentlich zu treibenden Disziplinen, besonders die beiden Gelehrtensprachen, die griechische und lateinische getrieben. Itzt, nachdem der junge Mensch schon soviele Uebung seiner Seelenkräfte und soviele allgemeinere Vorkenntnisse von der Bürgerschule mitbrächte, da er schon mehr den Nutzen der Spracherlernung zu begreifen vermögte, und überhaupt durch sein mehreres Alter spracherlernungsfähiger wäre, itzt würd’ es mit Erlernung der beiden Gelehrtensprachen ungleich rascher gehn, als es bei der gegenwärtigen Einrichtung geht und gehn kann. Doch das glaub’ ich in meinem Aufsatze über das Sprachstudium | [S. 259] hinlänglich gezeigt zu haben. Nur wiederhol’ ich das einzige, man mache den besondern Plan womöglich so, daß nicht beide Sprachen zu gleicher Zeit angefangen werden, sondern daß die eine bei Erlernung der andern Maßstab sein könne.
12) Aber die Gelehrtenschule muß auf keine Weise einen Eingrif in die Rechte der Universität machen, sie soll nur den Gelehrten überhaupt, die Universität hingegen den Gelehrten von dieser oder jener besondern Klasse bilden. Mithin muß auf der Gelehrtenschule kein Unterricht gegeben werden, an dem nicht alle Lehrlinge ohne Ausnahme Theil nehmen könnten. Wozu also z. E. das Hebräische auf Schulen? Man überlasse es, weil es nur einer besondern Klasse von Gelehrten nützlich ist, den Universitäten.
13) Wünschte irgend ein nicht eigentlich zum Gelehrten bestimmter Jüngling, etwa z. E. ein künftiger Kaufmann, Oekonom oder Offizier, dennoch auch einen Platz auf einer Gelehrtenschule, zumal wenn er durch vorzüglichere Fähigkeiten und Fleiß auf der Bürgerschule früher als andre seine Studien zu Ende gebracht hätte – so müßt’ er nicht zurükgewiesen werden. Aber er würde sich dann auch nicht beschweren, daß er Dinge lernen müßte, die nicht ganz unmittelbar mit seiner Bestimmung in Beziehung ständen. Es würde ihm, wofern er nemlich noch Zeit genug dazu hätte, in mancher Absicht vortheilhaft sein, allgemeine Gelehrtenbildung erhalten zu haben, wenn er sich | [S. 260] gleich zu keiner besondern Gelehrtenklasse bestimmt hätte.
14) Die Lehrer an den Gelehrtenschulen würden, so viel möglich, aus den Lehrern der Bürgerschulen gewählt. Nur weil man von ihnen mehr forderte, müßten sie auch in Rang und Gehalt höher als diese stehen, auch vornemlich zur Generalaufsicht über die Bürgerschulen bestellt werden. Wollte man ihnen nicht den Titel Professor zugestehen – wenigstens eifert Herr Michaelis in seinem Räsonnement über die protestantischen Universitäten dagegen – so könnte man ihnen den der Edukatoren geben, wofern nicht etwa einer und der andre unter ihnen zu Mitgliedern des Schulkollegiums, von dem ich gleich reden werde, ernennt würde.
15) Der Direktor der Anstalt würde bei erfolgter Vakanz aus den subordinirten Lehrern erwält, und zwar ohne Rüksicht auf Anziennität. Wenn sie vorher völlig gleich gewesen wären, so hätte alsdann keiner Ursache zu klagen, man habe durch den seinem Kollegen gegebnen Vorzug seine Rechte gekränkt. – Im Zirkel herumgehende Direkzion hält Herr Michaelis schon äußerst nachtheilig für Universitäten. Aber noch schädlicher würde sie für Schulen sein, weil es bei ihnen noch mehr als bei jenen drauf ankommt, daß Einförmigkeit des Plans erhalten werde.
16) Die Bürgerschulen wären abhängig von den Gelehrtenschulen, weil diese ihre Lehrlinge von jenen bekämen; sie stünden nur mittelbar unter dem | [S. 261] Schulkollegium, hingegen die Gelehrtenschulen unmittelbar.
Und nun von eben diesem Schulkollegium noch ein Wort! Schon Ehlers und Basedow, und der vortrefliche pädagogische Rezensent in der Allgemeinen Bibliothek haben ein solches Kollegium vorgeschlagen. Und in der That verdiente eine für jeden Staat so wichtige Sache, als das Schulwesen, wol ein eignes Landeskollegium, weil, wenn die Aufsicht ins Detail gehen soll, der Geschäfte viel zu viel sind, als daß sie mit irgend einem andern Kollegium verbunden werden können. Uebrigens müßte ein solches Kollegium gleiche Autorität mit den andern Landeskollegien haben, und wie diese im Namen des Landesherrn schreiben. Die Mitglieder wären außer den Chefs und einigen, so zu reden, weltlichen Räthen, die besonders das Juristische und Kameralistische zu besorgen hätten, würkliche Schulleute, theils gewesene – welche angemeßne Belohnung für den im Schulamt graugewordnen verdienten Lehrer, der untüchtig zu eignem fernern Lehren dennoch eben durch seine vieljährige Erfahrung ein vortreflicher Schulaufseher sein würde – theils wenigstens ein noch würklich im Schulamt stehender Lehrer. Was für eine lokkende aufmunternde Aussicht für Männer von Genie! Man könnte dazu den jedesmaligen Dirktor der an demselben Ort befindlichen Gelehrtenschule wählen. Denn die Gelehrtenschulen müßten hauptsächlich in den Städten, wo ein Schulkollegium wäre, angelegt werden, um desto unmittelbarer unter der | [S. 262] Aufsicht desselben zu stehen. Die Geschäfte eines solchen Kollegiums würden außer der allgemeinen Einrichtung und Aufsicht über das Schulwesen hauptsächlich folgende sein:
1) Besetzung aller erledigten Stellen sowol an den Bürger- als Gelehrtenschulen. Doch könnte man in Ansehung der erstern, um den Magisträten nicht ihr Patronatrecht zu nehmen, das Mittel treffen, daß das Schulkollegium diesen 2 oder 3 gleichgeschikte Subjekte zur Wahl aufstellte. So würde keinem sein Recht genommen, und doch könnte nie ein Mißgriff geschehen, wie bei der gegenwärtigen Einrichtung öfters geschehen muß, weil es der menschlichen Natur zufolge würklich unmöglich ist, daß sich Männer, von denen kein Mensch theoretische und praktische Kenntnis des Schulwesens mit Recht fordern kan, und die bei dieser Kenntnis vielleicht weniger geschikt in ihrem Fach sein würden, daß sich, sage ich, diese Männer nicht zuweilen in Wahl und Beurtheilung eines Schulmanns versehen sollten. – Die Besetzung der Gelehrtenschulen müßte dem Schulkollegium allein überlassen werden, weil die Lehrlinge derselben nicht für eine gewisse Stadt, sondern für den ganzen Staat bestimmt wären.
2) Die Prüfung der neuen Lehrer an beiderlei Schulen. Diese geschähe praktisch in der Bürger- oder Gelehrtenschule des Orts, je nachdem der Lehrer für die eine oder die andre Art bestimmt wäre. Nur müßten ihm wenigstens den Tag vorher die Lekzionen, über welche er bei der Gelegenheit | [S. 263] unterrichten sollte, genau bestimmt werden. Denn grade der geschickteste Lehrer würde zu schüchtern sein, um gleich aus dem Stegereif über alle ihm aufgegebne Punkte vor einer Versammlung von Kennern gut zu doziren. Der dummdreiste Halbwisser würde sonst immer am besten fahren, eben weil er nicht Kenntnis und Gelehrsamkeit genug hätte, um die Schwierigkeiten zu fühlen. Ueberhaupt hab ich bemerkt, daß die unwissendsten Schulleute sich grade am wenigsten auf ihre Lekzionen zu präpariren pflegen; den Fall ausgenommen, wenn sie sich selbst unwissend fühlen. Alsdann aber sind sie auch schon auf dem besten Wege, es nicht lange mehr zu bleiben.
3) Die Prüfung aller zum Studiren bestimmten jungen Leute. Und zwar müßte jeder zweimal geprüft werden. Das erstemal, wenn er die Bürgerschule mit der Gelehrtenschule vertauschen wollte. – Durch diese Prüfung würde überhaupt bestimmt, ob ein junger Mensch zum Studiren tauge, und ob er wenigstens mittelmäßige Fähigkeiten habe. Denn mehr brauchte es nicht; wenn nur keine würkliche Dummköpfe zugelassen würden: Mittelmäßige Köpfe braucht der Gelehrtenstand mehr als irgend ein andrer. – Die zweite Prüfung würde mit dem jungen Menschen angestellt, der die Gelehrtenschule mit der Universität vertauschen wollte, und durch diese würde also nur das bestimmt, ob und wenn der Jüngling reif zur Universität sei. Die erste Prüfung wäre also eigentlich Fähigkeitsprüfung, die zweite Kenntnisprüfung. Das | [S. 264] Nichtbestehen in jener schlösse ganz vom Studiren aus, und der junge Mensch hätte dann noch Zeit genug ein andres Metier zu ergreifen. In dieser hätt’ es bloß die Folge, daß er noch etwas länger auf der Gelehrtenschule bleiben müßte. O wie würden bei einer solchen Einrichtung der Dummköpfe und Stümper in jedem besondern Gelehrtenstande bald weniger werden, da es itzt überall davon wimmelt. Ganz untergehen würden sie freilich nie. Aber merklich verringert würde ihre Zahl werden; und in demselben Verhältniß würde Staat und Gelehrsamkeit gewinnen.
4) Die Aussetzung eines jährlichen Preises für die beste Beantwortung dieser oder jenen noch nicht hinlänglich aufgestellten pädagodischen Frage, für Vorschläge neuer, anwendbarer Methoden, für Ausarbeitung eines Schulbuchs in dieser oder jenen Kenntnisart u.s.w.
Doch weg, ungeweihte Wünschelruthe! Gesetzt daß du mir auch hie und da würklich den richtigen Ort, wo ein Schatz verborgen lag, anzeigtest – wer kann, wer will ihn herausheben, und Segen über Mitwelt und Nachwelt ausbreiten? Aber ja – man will. Die Frage ist nur, ob man kann? Woher, frägt man, der Fond zu einer so totalen Schulverbesserung? – Man lese das folgende Gespräch; vielleicht findet man wenigstens ein brauchbares Projekt. Wo nicht – so verzeihe man mir wenigstens meine gewiß patriotische Absicht.
[S. 265]
VI.
Woher der
allgemeine Fond zur Schulverbesserung?
– – –
Ein Gespräch zwischen mir und W***.
– – –
W.
Hier, Freund ! Ich halte mein Versprechen. Ich bring Ihnen den Süßmilch
Ich. Ich dank’ Ihnen, mein Bester! Aber ich werd’ ihn wol schwerlich brauchen. Ich habe mich besonnen, daß Süßmilch mir nicht leicht über die Punkte, über die ich’s am liebsten hätte, Data an die Hand geben kann, weil sie sich zu wenig bestimmen lassen, und man vermuthlich ohngeachtet der Nützlichkeit noch nicht drauf gefallen, öffentliche Zählungslisten darüber aufzunehmen. – Sie sehn indes, ich bin hier schon mitten im Kalkuliren begriffen.
W. Darf ich fragen, was Sie eigentlich ausrechnen?
Ich. Chimären – Projekte! Denn dabei wird’s freilich wol nur bleiben. Ich rechne, woher | [S. 266] wol der Fond zur Schulverbesserung kommen könnte, wenn – -
W. Darnach wollt’ ich Sie neulich schon fragen, wie Sie mir Ihren Entwurf mittheilten. Denn freilich woher der Fond zu einem besondern Oberschulkollegium, und den untergeordneten Schulkollegien in den Provinzen, woher weiter der Fond zu beßrer Besoldung der Lehrer, zu Pensionen für durch Alter unbrauchbar gewordne Schulmänner, zu Schulbibliotheken, zu jährlichen Schulprämien, und zu so mancherlei andern Dingen, von denen Sie mir damals sagten. Ohne Geld kommt man mit allen noch so herrlichen Projekten und Planen nicht um einen Schritt weiter. Denn der Hauptgrund des Schulverfalls ist und bleibt, daß beim Schulstande zu wenig für die äußerliche Zufriedenheit eines Mannes, der sich fühlt, gesorgt ist, sodaß derjenige, der der beste Schulmann von der Welt geworden sein würde, nun lieber wer weiß was anders ergreift, wobei er mehr Brot und bürgerliche Ehre vor sich sieht. Die moralischen Triebräder von Edelmuth und Größe des Geistes, und Begierde Nutzen zu stiften, sind eine schöne Sache, und ich denke nicht so schlecht von dem Menschen, daß ich sie ihm abdisputiren sollte. Nur, dünkt mich, müssen diese Triebräder immer erst von aussen her in Bewegung und Umlauf gebracht werden. Es trift sich wol dann und wann einmal, daß sie von selbst durch innern Anstoß in Bewegung gerathen, vornehmlich in den Jahren der raschen Lebhaftigkeit. | [S. 267] Allein mit der Zeit fangen sie sicherlich an zu rosten und zu stokken, wenn niemand nach ihnen sieht. – Die straffgespannte Saite springt endlich, wenn man sie zu lange in der Kälte läßt.
Ich. O nur zu wahr! Von Ihnen wenigstens kann ich also versichert sein, daß Sie mir’s verzeihen, wenn ich ein Paar müßige Stunden mit Projekten zubringe, woher wol der Fond zu den bei einer Schulverbesserung durchaus nöthigen Kosten zu nehmen sein würde; und wenn ich dann diese Projekte getrost ins Publikum hinwürfe. Es wäre doch möglich, daß einer im Vorbeigehn eins aufhüb’, und näher betrachtete -
W. Und wieder hinwürfe, wenn er fände, daß der Projektmacher, statt ein Finanzier und Statistiker zu sein, nichts weiter als ein Schulmann wäre, der sich einmal aus seiner engen Sphäre verirrt hätte.
Ich. Das ist mehr als möglich, und ich kann mich ziemlich sicher zum voraus darauf gefaßt machen. Es giebt der Leute zu viele, die keine Uhr für gut halten, die nicht in London gemacht worden, oder wo nicht wenigstens London draufsteht.
W. Wie lauten denn also ihre Projekte?
Ich. Ich bin noch nicht soganz im reinen damit. Doch – Sie mögen sie mir ein wenig sichten helfen.
W. Wenn Sie’s haben wollen – Nun?
Ich. Am leichtesten wär’s freilich, zu sagen: der Landesherr muß alle Kosten hergeben. Allein | [S. 268] die Forderung wär’ unüberlegt und unbillig. Wir wollen nur bei unserm Lande stehn bleiben. Wieviele bloß königliche Erziehungsinstitute haben wir nicht! Und welch ein königliches Kapital hat unser großer Monarch zur Verbesserung der Landschulmeisterstellen in der Churmark, und, wie ich neulich hörte, nun auch in Ostfriesland ausgesetzt! Ja ich bin überzeugt, unser Friedrich – ich bin stolz darauf, unser sagen zu können – würde noch mehr thun, auch für die Schulen in den Städten, wenn er die Lage der Sachen genau kennte. Aber, wie gesagt, alles vom Landesherrn zu fordern, wenn er ohnedis soviel zum Flor seiner Staaten thut als der unsrige – ist ungerecht, wie auch neulich noch der Minister von Zedlitz in seiner vortreflichen Vorlesung auf der Akademie erinnerte. Der Partikulier von allen Ständen muß zutreten, zumal da sich auf diese der Vortheil von einer guten Erziehungsart im Staat am unmittelbarsten verbreitet.
W. Aber wie? Durch milde Stiftungen und Vermächtnisse, durch freiwillige Geschenke und Beiträge?
Ich. O die Zeiten sind so ziemlich vorbei! Sie wissen ja, wie’s mit Basedow gegangen. Hat er wol mit aller seiner Beredsamkeit die dreißigtausend Thaler, die er zur Anlegung eines ordentlichen Philantropins verlangte, aus ganz Deutschland zusammenpredigen können? Man könnte zwar wol jährlich einigemal eine allgemeine Landeskollekte zum Behuf des Schulwesens veranstalten. Allein ich | [S. 269] zweifle, ob die Summe sehr erkleklich sein würde. Unser Publikum ist noch immer viel zu lau für die Sache der Erziehung, und der Luxus, der alle wolthätige Neigungen und allen Gemeingeist erstikt, ist zu groß. Jedermann spricht von den Fehlern der Schulverfassung; aber wenn doch nur der tausendste dran dächte, daß sich diese Fehler nicht mit dem Munde wegblasen lassen, und sich dann entschlösse, für seinen Theil so viel als er könnte, zur Wegschaffung derselben nicht durch kalten Rath allein, sondern auch durch That beizutragen. Allein die meisten denken: ich kann nicht, aber das: ich will nicht, schläft im Hintergrunde. Mit Lobreden und Komplimenten ist man gemeiniglich sehr freigebig, aber mit reeller Hülfe desto geiziger. Die gesetzgebende Gewalt muß dazu kommen und der Maschine einen Stoß geben.
W. Also eine allgemeine Kopfsteuer zum Besten des Schulwesens? Nicht?
Ich. Nein, Freund! Auch das wäre ungerecht. Nicht alle Stände haben gleichen Vortheil von einer verbesserten Erziehungsart, und nicht alle legen der Erziehung gleich viele und gleich große Hindernisse in den Weg. Nach diesen Bestimmungen müßten also die Auflagen – denn die würden’s freilich sein müssen – vertheilt werden. Sie müßten vornehmlich auf gewisse Entbehrlichkeiten gelegt werden, ich meine auf solche zum Theil schädliche, und für die Erziehung schädliche Verhältnisse, die in jedes Menschen eignem Belieben stehen, so daß er | [S. 270] also auch von diesen Auflagen würde frei sein können, sobald er wollte.
W. Also zum Exempel? –
Ich. Eine jährliche Auflage auf die Hofmeister und Privaterzieher, oder vielmehr auf diejenigen, die sie halten. Die Auflage träfe also nur die, die sie am wenigsten fühlen würden; und wer diese Taxe nicht bezahlen wollte, dürfte seine Kinder nur zur öffentlichen Schule schikken, wie’s billig jeder Bürger eines Staats ohne Unterschied des Standes thun sollte. Aber so hält sich itzt ja fast jeder Pächter einen Hofmeister, der denn mehrentheils auch darnach ist.
W. Aber ich glaube doch in der That nicht, daß itzt soviele Hofmeister und Privaterzieher sind, als etwa vor 30 oder 40 Jahren.
Ich. Sie haben Recht; und das kam hauptsächlich daher, weil damals der Studirenden und der Kandidaten weit mehrere waren. Drum konnte man damals auch einen Hofmeister zu acht bis zehnstündiger Arbeit des Tags für baare 40 Thaler Lohn miethen. Durch Seltenheit der Waare ist der Preis gestiegen. Aber doch ist sie noch immer häufiger, als es dem Staat frommt. Was zu thun? Die Waare für Konterbande erklären? Man würde nur Schleichhandel veranlassen. Also lieber einen nicht gar zu niedrigen Impost! – Der Schaden, den die Menge der Privaterzieher den öffentlichen Schulanstalten zufügt, ist sehr augenscheinlich. Die Frequenz auch der sonst blühendsten | [S. 271] Schulen nimmt dadurch immer nehr ab, und die Schulleute verlieren immer mehr von ihrer Achtung, wenn die angesehnern Stände im Staat sich schämen, ihre Kinder zu ihnen zu schikken. Auch wird dem Schulstande so mancher brauchbare junge Mann entzogen, der sich nun bei einem Partikulier verdingt, weil er’s da besser zu haben glaubt. Und wenn nur nicht die Erziehung überhaupt so sehr dabei litte! denn es ist doch längst ausgemachte Wahrheit, daß, beide Fälle gleich gesetzt, die öffentliche Erziehung unendlichen Vorzug vor der Privaterziehung habe, und daß diese letztere nur dann erst eigentlich vortheilhaft sei, wenn sie mit der erstern vereinigt wird. Die Sache würde sich freilich allmälig von selbst geben, wenn erst die öffentlichen Schulen durchgängig besser eingerichtet wären. Alsdann würden viele Eltern von selbst lieber ihre Kinder hinschikken; auch würden sich dann weniger Leute zur Privaterziehung finden, weil jeder ein öffentliches Schulamt vorziehen würde, wo er gleich sein hinreichendes Auskommen zu erwarten hätte, ohne dem Eigensinn eines einzigen unterworfen zu sein. Alle Privaterziehung schlechterdings zu verbieten, wäre hart, und oft unbillig. Es lassen sich wenigstens manche Fälle denken, wo ich selbst die häusliche Erziehung vorziehen würde. Aber erschweren sollte man sie, damit nicht jeder darnach griffe: und sie müßte den Schaden, den sie den öffentlichen Erziehungsanstalten zufügt, für diese auf eine andre Art vergüten. | [S. 272]
W. Nicht mehr als billig. Könnte man damit nicht zugleich eine Auflage auf die sogenannten Pensionsanstalten verbinden?
Ich. Wie so? Das sind ja öffentliche Anstalten.
W. Oeffentliche? wenn sich jeder, der Lust hat, zum Erzieher aufwirft, und eine Menge Kinder an sich zieht, die sonst in die öffentlichen Schulen wären geschikt worden? Ich denke so. Niemand sollte solche Pensionsanstalten, die ohnedis mehrentheils bloß ein Werk des Eigennutzes sind, anlegen, der nicht gewissermaßen vorher seinen pädagogischen Kursus vor dem Schulkollegium gemacht hätte, und darauf nach Befinden seiner Tüchtigkeit mehr oder weniger autorisirt wäre. Es ist eine vortrefliche Einrichtung in unserm Staat, daß keiner, wenn er gleich schon zum Doktor der Arzeneigelehrsamkeit promovirt ist, öffentlich praktiziren darf, wofern er nicht vorher vor dem dazu bestellten Kollegium seinen anatomischen Kursus gemacht hat. Warum soll denn jeder, dem es einfällt, an der Erziehung doktern können? Die Eltern können’s nicht immer beurtheilen, ob ihre Kinder in dieser oder jenen Pensionsanstalt eine gute Erziehung bekommen werden. Dis müßte also das Schulkollegium vorher beurtheilt haben, und alle dergleichen Privatinstitute müßten auch nach dieser Autorisirung noch unter der Aufsicht dieses Kollegiums stehen, ob sie gleich hier nicht so genau ins Detail zu gehen brauchte, wie bei den | [S. 273] öffentlichen Schulen. Und da diese letztern doch immer von der Vervielfältigung solcher Privatanstalten sichtbaren Nachtheil haben, so wäre nichts billiger, als daß ihnen das durch eine, wenn gleich mäßige Abgabe, die für jedes ihnen auf die Art entzogene Kind entrichtet werden müßte, vergütet würde.
Ich. Bravo, Freund! Aber weiter! Wie wenn das Schulkollegium auch auf die Ammen eine Taxe legte? Man hat gegen dis Uebel, das für den Staat so schädlich als irgendeins ist, nun schon seit zweitausend Jahren und drüber philosophirt. Aber was fruchtet alles Eifern und Philosophiren? Noch neulich hat der Professor Büsch in seinen vermischten Abhandlungen sehr nachdrüklich den Nachtheil gezeigt, den besonders die Bevölkerung eines Landes dabei leidet; indem gewöhnlich die Kinder der Ammen, die anderwärts ausgethan werden müssen, aus Mangel der Pflege umkommen. Aber alles das hilft im Ganzen grade soviel als nichts. Was könnte also der Staat thun? – Gradezu das Ammenhalten verbieten? Man würde über Despotismus und Grausamkeit schreien. Und es kann freilich zuweilen Fälle geben, wo eine Mutter ihrer Gesundheit wegen verbunden ist, sich der süßesten Mutterpflicht zu entledigen. Aber der Fälle werden doch nur immer sehr wenige sein, und mehrentheils nur bei dem verzärtelten Frauenzimmer der höhern Stände vorkommen. Gewöhnlich indes ist die Liebe zur Bequemlichkeit, die eigentliche Ursache. Man sollte also wenigstens die Mütter, | [S. 274] die sich zu vornehm oder zu reich dünken, ihre Kinder selbst zu säugen, diese Bequemlichkeit bezalen lassen. Vielleicht würde, wo nicht die Taxe selbst, doch die immer etwas beschämende Nothwendigkeit, sich durch Erlegung derselben erst von dem Schulkollegium einen Erlaubnisschein zur Haltung einer Amme zu lösen, diese überflüßigste und schädlichste Art von Domestiken immer mehr verringern.
W. Ich glaube selbst. Aber wenn diese projektirten Auflagen proporzionirt und nicht zu groß und drükkend sein sollten, so würde, dünkt mich, doch noch immer nicht genug herauskommen.
Ich. O ich hab’ ein andres Projekt bei der Hand, das vielleicht das einträglichste sein mögte.
W. Und was wäre das?
Ich. Eine Taxe auf die Hagestolzen. Man braucht nur die jährliche Listen der Getrauten einige Jahr durch zu vergleichen, so sieht man sehr augenscheinlich, wie die Zahl der Ehen immer mehr abnimmt, mithin das Heer der Hagestolzen immer mehr Rekruten bekommt. Wir wollen nur einmal bei Berlin stehen bleiben. Warten Sie, hier werden wir den Süßmilch brauchen können. Ja – Sehn Sie! Im Jahr 1712 heirathete in Berlin der 49ste Mensch, und 1755 nur der 52ste. Sie sehn aus diesen Listen, in allen größern Städten und Provinzen hat sich die Anzal der Ehen immer mehr verringert. Im Herzogthum Magdeburg ward zu Anfang dieses Sekulums unter 85 Personen eine Ehe geschlossen, von 1752-55 nur unter 128. | [S. 275] Freilich würd’ es eine große Unerfahrenheit in der politischen Arithmetik verrathen, wenn man verlangen wollte, daß in großen Städten das Verhältnis eben so sein sollte, wie z. E. in den holländischen Dörfern, wo unter 64 zugleich lebenden Menschen jährlich ein heirathendes Paar sein soll, so daß also immer der 32ste Mensch heirathet. Es kommen sehr viele politische Umstände zusammen, die in manchen Ländern und vornehmlich Städten die Zahl der Ehen verringern helfen. Aber es ist doch sehr in die Augen fallend, daß es das nicht allein sein könne, sondern daß der von Jahr zu Jahr steigende Luxus[51], und allerlei andre moralische Ursachen das ihrige reichlich dazu beitragen. Nach unsers größten Statistiker Büschings Berechnung heirathete von 1692 bis 1700 der 51ste Mensch in der Churmark, itzt nur der 61ste. Daher war denn auch, wie ich nach dieser Büschingischen Tabelle (wöchentl. Nachr. 9tes Stük 1778) ausgerechnet, die Mittelzal der neuen Ehepaare in Berlin von 1762 bis 1774 nur 902, da sie sich doch nach dieser Süßmilchischen Tab. von 1752-56 noch auf 1148 belaufen hatte. Hätte statt des 61sten der 51ste Mensch geheirathet, so wären – sehn sie hier meine Rechnung – statt 902 neuer Ehen, 1078 geschlossen worden. Aber im vorigen Jahre (1777) hat gar nur der 78ste Mensch in Berlin | [S. 276] geheirathet, und der neuen Ehepaare sind nur 901 gewesen. Wir wollen zwar nicht hoffen, daß es die folgenden Jahre eben so kommen werde; wiewol es sehr leicht möglich ist, daß die Zahl noch immer kleiner wird, da in den 12 letzten Jahren die Mittelzahl der neuen Ehen nur 824 betrug. Hätte indes im vorigen Jahre wieder der 51ste Mensch geheirathet, so wären der neuen Ehen 1378 gewesen, also über die Hälfte mehr. Sehn Sie, so nimmt die Zahl der Ehen von Jahr zu Jahr ab. Und doch bring’ ich das gar nicht einmal mit in Rechnung, daß doch die Zahl der Einwohner von Berlin und allen großen Städten sich jährlich ungemein vermehrt. Man sollte glauben, die Verringerung der Zahl der Ehen, und die Vermehrung der Zahl der Einwohner widerspräche sich. Allein die letztre kommt daher, weil immer mehr Leute vom Lande weg nach den Städten, und vorzüglich nach der Hauptstadt, als der vermeinten Insel der Seligen hinschwimmen, und die Differenz, die zwischen den Zahlen der Einwohner in den Dörfern und der Stadtbewohner sein sollte, immer mehr verkleinern.
W. Es ist wahr, der Ausfall an der Zahl der Ehen ist groß, und der Schaden, den die Landesbevölkerung dabei leidet, noch größer. Ich begreife nur nicht, wie man nicht schon längst drauf gefallen, durch allerlei politische Triebräder das Heirathen zu befördern. Wenigstens machte man es so in den alten griechischen und römischen Staaten. Und an manchen Orten, wissen Sie, war für die zu einem | [S. 277] gewissen Alter gekommnen Hagestolzen übel leben, z. E. zu Sparta[52]. | [S. 278]
Ich. Recht, Freund! Ein solches politisches Triebrad würde z. E. eine jährliche Taxe auf alle Hagestolzen sein, die in öffentlichen Bedienungen stehen, oder als Kapitalisten, oder Besitzern von Landgütern leben. – Denn weiter herunter auf die niedrigern Stände mögt’ ich’s doch nicht gern ausdehnen. – Die Taxe müßte freilich nicht zu groß sein, um nicht das Ansehen von Strafe zu haben, weil sich sehr viele vermuthlich noch eines bessern besinnen würden. Allenfalls könnte sie mit jedem ehelos verlebten Dezennium nach geometrischer Proporzion wachsen, weil mit der Länge der Zeit die Hofnungen des Staats immer mehr schwänden. Der schiklichste Zeitpunkt, von welchem die Hagestolzenschaft angerechnet würde, wäre das 30ste Jahr. Doch wenn Sie etwa glauben, daß auch eine solche Taxe, wenn sie nehmlich nicht zu fühlbar drükken sollte, noch keine sonderliche Summe bringen würde – desto mehr würde eine andre Auflage auf die Hagestolzen nach ihrem Tode bringen.
W. Wie meinen Sie das?
Ich. So, daß von dem Vermögen jedes verstorbenen Hagestolzen – er sei wes Standes und Vermögens er wolle – der 6te oder allenfalls auch nur der 10te Theil der allgemeinen Erziehungskasse anheim fiele. Dis würde sicherlich ihr reichster Fond sein. Dabei könnte sich auch niemand über Bedrükkung und Ungerechtigkeit, wie etwa bei den übrigen Auflagen, beschweren.
W. Nicht? Ich sollte denken, die erbenden Anverwandten des Hagestolzen –
Ich. Würden sich freilich beschweren. Aber gegründete Ursache dazu hätten sie nicht. Sie müßten denken: wenn ihr Bruder oder Onkel – oder was er sonst gewesen sein mag – geheirathet und dem Staat Kinder gegeben hätte, so hätten sie nichts bekommen. Sie müßten also sehr zufrieden sein, daß sie doch 5/6 oder gar 9/10 von der Verlassenschaft erhielten. Daß Kinder ihren Vater beerben – ist, dünkt mich, der Natur gemäß, ob ich gleich weiß, daß viele Lehrer des Naturrechts die untestamentliche Sukzeßion der Kinder nach dem Naturrechte in Zweifel ziehen. Daß aber in Ermangelung von Kindern andre Verwandte Erben sind, ist politische Einrichtung, gegen die ich übrigens nichts habe. Aber billig wenigstens wär’s, daß diejenigen, die dem Staate nicht selbst rechtmäßig erzeugte Kinder gegeben, ja nicht einmal den Willen dazu äußerlich gezeigt haben, doch wenigstens nach ihrem Tode, wo sie keine Taxe mehr belästigt, durch einen Theil ihres Vermögens dazu beitrügen, daß andrer Leute Kinder desto besser erzogen, und durch die Erleichterung der Erziehung die Ehen selbst bei andern Lebenden mehr befördert | [S. 280] würden. Dis zu fordern hat, dünkt mich, der Staat ein sehr gegründetes Recht.
W. Aber wenn nun alle diese Taxen den Erfolg hätten, daß der Privaterzieher, der Pensionsanstalten, der Ammen, der Hagestolzen merklich weniger würden. –
Ich. So wäre das der erwünschteste Erfolg, den sie haben könnten.
W. Aber die allgemeine Erziehungskasse würde dabei zu kurz kommen.
Ich. Gewiß nicht. Die Zinsen von dem Kapital, daß aus diesen Auflagen die ersten Jahre herauskommen müßte, würden mit dem jährlichen Zufluß, gesetzt daß er auch immer kleiner würde, dennoch zur Bestreitung der jährlichen Kosten hinreichend sein, wenn allenfalls noch ein ausschließender Buchhandel mit allen Schulbüchern hinzukäme, die, wie sich von selbst versteht, auf allen Schulen dieselben sein müßten, und eben darum für einen sehr wolfeilen Preis würden gegeben werden können. Aber glauben Sie im Ernst, daß der Ertrag der Taxen sich von Jahr zu Jahr verringern würde. O eine zum Bedürfnis oder zur Mode gewordene Sache läßt man sich durch noch so hohen Impost nicht nehmen. Man zukt die Achseln, murrt, und – bezalt den Impost. – Doch Freund, verzeihen Sie, meine Schüler warten. Wollen Sie unterdessen so gut sein, meine Berechnungen ein wenig durchzusehn? – – –
[S. 281-284]
VII.
eine
Ode.
Du, Nordalbiens
Sohn, flammest die Fakkel an,
Schwangst die
sprühende mit mächtigem Herkulsarm,
Daß sich
hiehin und dorthin
Weit
ihr Schimmer verbreitete.
Zwar es sauste der Sturm.
Vor ihm erbebten des
Waldes Fürsten, und
tief beugten sie zitternd sich;
Doch sein
schlagender Fittig
Trug
noch weiter den Fakkelglanz.
Aus dem finstern
Gewölk riß sich ein Hagelguß
Mit entfesselter
Wuth, prasselte fürchterlich.
Aber
dennoch verlosch Dir
Deine
wehende Fakkel nicht.
Viele rannten
herbei, zündten an Deinem Licht
Ihre Fakkel nun an.
Heller und heller ward’s,
Daß der
Schnarcher selbst auffuhr,
Und
die blinzenden Augen rieb.
Bei dem leuchtenden
Glanz bautest, ein Jason Du,
Dir voll Heldenmuths
ein anderes Argoschif,
Daß es
holte des Wissens
Goldbewolletes
Wahrheitsvlies.
Muthig fuhrest Du
hin, hin durch die brausenden
Wogen, achtetest
nicht jenes ergrimmeten
Sturms,
der fürchterlich heulend
In
die flatternden Segel bließ.
Zwar, den Klippen
schon nah, drohte zu scheitern Dein
Wellenfurchendes
Schif. – Ha! wie sie standen am
Strand,
die laurenden Gaffer
Und
des Augenbliks harreten!
Doch Du lenktest
vorbei, Steuererfahrener,
Du, des Busen mit
Muth Pallas bepanzerte.
Schnell
flog, über die Fluthen,
Schnell
und spottend Dein Kiel dahin.
Eile weiter mit Glük
– Siehe die Palme winkt! –
Bis Du ankerst am Ziel,
wo Du erkämpfest den
Preis, und
siegend zurükkehrst
Ueber
trotzende Kolchier.
[1] Ich setze nach ηδη ein Punktum, und laße also den Genitiv μεθης nicht, wie bisher in allen Editionen, von κονωνειν, sondern von απαθεις regieren. Unmöglich konnte und wollte Aristoteles sagen, daß junge Leute irgend jemals ebrietatis consortes seyn dürften, wie’s Lambin übersetzt. [Anm. zu S. 4]
[2] Für το γαρ ηθος της πολιτειας les ich τ. γ. η. τ. παιδειας. Aus der gewöhnlichen Lesart kommt entweder gar kein Sinn heraus, oder doch ein äußerst gezwungener, der noch dazu den ganzen Zusammenhang zerreißt. Beide Worte konnten, da sie sich hier alle Augenblicke begegnen, sehr leicht einmal verwechselt werden. Die folgenden Worte και καθιτησιν εξ αρχης haben ebenfalls bei der Lesart πολιτειας keinen Sinn. [Anm. zu S. 6]
[3]Für ελευθεριων επιστημων les ich ανελευθερων, eine Lesart, die bei der Du Valschen Edition auf dem Rande bemerkt ist, | [S. 9] und ich begreife nicht, wie Herr Reiz (in seinem 1776 herausgegebnen einzlen Stükken aus der Politik) diese schöne Lesart oder Konjektur hat übersehen können. Denn in der That wär es des Aristoteles, der es selbst in vielen Wissenschaften soweit gebracht hatte, völlig unwürdig, gleich nachher zu sagen, daß man nicht bis zur Vollkommenheit in anständigen Geschiklichkeiten und Wissenschaften streben müsse. Nein, Aristoteles will vielmehr haben, man solle sich auch von den Handwerkern, die damals größtentheils nur von Sklaven getrieben wurden, eine, wiewol nicht zu genau ins Detail gehende, Kenntnis erwerben. Ein treflicher pädagogischer Grundsatz, der auch von unsern Erziehern und Schulvorstehern beherzigt zu werden verdient! [Anm. zu S. 8-9]
[4] Am Ende des vorigen Buchs war von der Ehe und deren Einrichtung geredet worden. [Anm. zu S. 14]
[5] Ist es nicht in der That sonderbar, daß Platon, der doch sonst in seinem Erziehungssystem nicht wenig paradox ist, grade zu einige bei unsern neuesten Erziehungstheoretikern so verschriene Methoden und Gewohnheiten in Schutz nimmt? Wie z. E. kurz vorher das Wikkeln, und hier das Wiegen. Denn die Art der Bewegung, die hier Platon für Kinder verlangt, wird doch wol durch nichts so sehr hervorgebracht, als durch unsere gewöhnliche Wiegen. Mich wundert’s daher, wie Brechter in seinen Briefen über den Emil (S. 74) so gradezu dem Alterthum den Gebrauch des Wiegens, den ich, wenn’s nöthig wär, auch allenfalls noch aus andern Schriftstellern darthun könnte, absprechen kann. Wollten wir Autorität gegen Autorität abwägen, so dürfte Platon wenigstens eben so schwer sein, als Rousseau und Brechter. Aber auch nach Erwägung der beiderseitigen Gründe muß ich gestehen, daß ich noch nicht von der völligen Verwerflichkeit des Wiegens überzeugt bin. Soviel ist richtig, es muß nicht zu hastig und heftig geschehen, und man muß es eben darum nicht, wie gewöhnlich, von Kindern verrichten lassen, die, wie Brechter sagt, aus Ungeduld die Wiege hin und herreißen, um nur bald wieder an ihr Spiel zu kommen. Heftige fortgesetzte Erschütterung der Art in der frühsten Kindheit hat sicherlich über lang oder kurz äußerst nachtheilige Folgen, besonders für das noch zarte, weiche Gehirn; und es klinge so seltsam wie es wolle, ich bin fest überzeugt, daß die Ursache von der unnatürlichen Dummheit mancher Menschen grade hierin zu suchen sei. Aber wenn zu heftige Bewegung in der ersten Kindheit schädlich ist, muß man darum gleich auch alle mäßige Bewegung verwerfen? Und wodurch kann diese in der ersten Zeit, | [S. 20] eh der junge Mensch anfängt, gehen zu lernen, und sich also eine aktive Bewegung durch eignen Anstoß seiner Kraft verschafft, beßer erhalten werden als durchs Wiegen? Aber wol gemerkt, der Zweck des Wiegens ist also Bewegung, nicht, wozu es gemeiniglich gebraucht wird, Hervorbringung des Schlafs. Und dis ist, wenn ich nicht sehr irre, auch Platons Meinung. Kinder sind in den ersten Jahren schon von selbst hinlänglich zum Schlaf geneigt, ohne daß man erst nöthig hat, sie durch Betäubung in Schlaf zu bringen. Denn auf keine andre Art bringt doch das Wiegen Schlaf hervor. Bewegung schlechthin und unmittelbar kann ihrer Natur nach niemals Schlaf würken, sondern würkt vielmehr immer das Gegentheil. Nur, wenn sie aufhört, Reitzung der innern Kraft zu sein, und in Entspannung der Kraft und Ermüdung ausartet – dann erst hat sie diesen Effekt. Man wiege also Kinder, nicht um sie schlafen zu machen, sondern um sie zu bewegen; nicht bei Nacht, oder dann, wenn sie schon von selbst zum schlafen geneigt sind, und gewiß schlafen werden, wenn man nur diesem oder jenem physischen Bedürfnis, das sie martert und unruhig erhält, abhilft – sondern grade dann, wenn sie am muntersten sind, wenn sie ausgeschlafen haben. Und sicherlich wird alsdann diese Bewegung, so lange sie nicht heftig ist, statt Schlaf hervorzubringen, grade die entgegengesetzte Folge haben, das Kind munter und frölich zu erhalten. – Was nun aber das Wikkeln betrifft, das sowol Plato als Aristoteles beim ersten Anblick zu billigen, ja zu fordern scheinen, so kann ich mich schwerlich überreden, daß diese beiden scharfsinnigsten Denker des Alterthums, von denen vornemlich der letztre den menschlichen Körper so gut kannte, wie ihn zu seiner Zeit nur irgend ein Mensch kennen konnte, die bei uns zu Lande gewöhnliche Art des Wikkelns gebilligt haben würden. Ich glaube vielmehr, daß sie eben so laut, wie soviele ältere und neuere Aerzte und Erzieher, wie Des Essarz, Ballexserd, Rousseau und Brechter dagegen geeifert haben würden, als gegen eine für Gesundheit und Wachsthum höchst gefährliche Gewohnheit. Ob mit mehrerm Erfolg? daran zweifle ich. Denn giebt’s irgend einen redenden Beweis von | [S. 21] der Macht verjährter Vorurtheile, so ist’s dis. Wieviel physiologische und psychologische und historische Gründe hat man zusammengehäuft! und doch bleibt’s immer beim Alten! – Zur Ehre Platons und Aristoteles versteh ich sie daher so, daß sie nur eine solche Art des Wikkelns verlangen, die dem Kinde freien Gebrauch aller seiner Gliedmaßen, besonders der Hände, läßt, die die Ausdünstung und das Athemholen, und die Circulation des Blutes nicht erschwert u.s.w. [Anm. zu S. 19-21]
[6] Schon Stephanus sah daß bei πανταπασιν αγαπητον τι etwas fehlen müßte; aber er schlägt kein Mittel vor, die | [S. 22] Lükke zuzustopfen. Mir scheint zwar nichts zu fehlen; aber das Wort πανταπασιν ist mir verdächtig. Ich lese dafür παραπασσει und schiebe nach τι noch ein και ein. Externus ille motus adspergit nescio quid jucundi &c. Auch andre griechische und lateinische Schriftsteller reden auf eben die Art. [Anm. zu S. 21-22]
[7] Für παντελως lese ich πανθηλικων, ein mit *** [unleserlich: ιση... μεσηλιξ ?] analogisches Wort. [Anm. zu S. 22]
[8] Ich lese προειπον statt προσειπον. [Anm. zu S. 25]
[9] ταις τρεφομεναις für τοις τρεφομενοις ist sicherlich nur ein Schreibfehler, der sich aber in alle gedruckte Ausgaben eingeschlichen. [Anm. zu S. 26]
[10] Der ganze Zusammenhang zeigt, daß man für παιδίων lesen müsse παιδιÇν. [Anm. zu S. 26]
[11] Für κοσμουσαν lese ich κοσμουσων. [Anm. zu S. 27]
[12] Wozu diese frühe Trennung beider Geschlechter von einander? Um beide recht fremd gegen einander zu machen und zu erhalten? um in das gegenseitige Betragen desto mehr unnatürliche Höflichkeit oder (wenn man’s so nennen will) Galanterie und kalte Zurückhaltung hineinzubringen? Wenn’s das nur allein wäre. Aber die gewöhnlichste Folge davon ist, bei dem männlichen Geschlechte entweder zitternde Blödigkeit und Scheu vor einem anständigen Frauenzimmer (und was sonderbar ist, grade aus dieser Blödigkeit entsteht am allerersten Liederlichkeit und niedrige Ausschweifung) – oder Gekkerei, die bei jedem Mädchenlächeln Feuer fängt; und in Ansehung des weiblichen Geschlechts entweder zu leichte Verführbarkeit oder Koketterie, so entgegengesetzt | [S. 28] beides auch ist. Bis zum 10ten Jahr könnte und sollte man (wenigstens in unserm kältern und spätere Geschlechtsreife würkenden Klima) beide Geschlechter durch einander aufwachsen, sie einerlei Leibesübungen und Spiele treiben, und in den mehresten Punkten (freilich nicht in allen) einerlei Unterricht geniessen lassen. Nachher wäre noch immer Zeit genung, sie zu trennen, und dadurch von selbst die vorige kindische Vertraulichkeit zur freundschaftlichen Bekanntschaft herabzustimmen. So bekäme jedes Geschlecht gegenseitige genauere Kenntnis von dem Karakter und den Neigungen des andern, sowol im allgemeinen als auch in Rüksicht auf einzle Personen, und zwar in den Jahren der Herzensoffenheit. – Denn die Neigungen des frühen Alters lassen uns immer auf das spätere ziemlich sicher schließen, sie selbst dauren fort, nur die Gegenstände ändern sich – Und bei dieser früh erlangten Kenntnis würden der unglücklichen Ehen sicherlich weit weniger werden. [Anm. zu S. 27-28]
[13] Ich muß gestehen, in Platons ganzem Räsonnement über die Erziehung hat mir nichts so sehr gefallen, als dieser sein Eifer gegen den unnatürlichen Nichtgebrauch der linken Hand. Verschiedne neuere Pädagogen haben eben so sehr dagegen eifert. Man lese z.E. im deutschen Museum (Aug. 1777) das launige Bittschreiben der linken Hand an ein künftiges Erziehungstribunal. Die Antwort darauf im 2ten Stück der pädagogischen Unterhandlungen gibt wenigstens | [S. 31] zu, daß in Dingen, wo es blos auf Stärke ankommt, rechte und linke Hand gleich geübt sein sollten. Aber warum denn nicht auch in manchen Arbeiten, wo es auf Geschik ankommt? Freilich wenn man erst in spätern Jahren die linke Hand dazu gewöhnen wollte, so würde man zuviel Zeit dazu brauchen. Aber in den eigentlichen Uebungsjahren der Kindheit, wo man noch nicht arbeiten, sondern sich erst dazu vorbereiten soll, würde man auch zu solchen Uebungen, die ohnedis bei noch nicht geschehener Verwöhnung weit leichter von Statten gehn müßten, immer Zeit genung übrig haben, und sich in spätern Jahren über die erweiterte Äußerungskraft körperlicher Geschiklichkeit freuen. Aber gemeiniglich hält man’s für eine Art von Uebelstand, die linke Hand zu gebrauchen, und nöthigt daher das Kind gleich früh, sich nach dieser widersinnigen Wolstandsidee zu formen. Diese Idee muß sehr alt sein, weit älter als Platon. Denn die ungemein alte Idee vom Vorzuge des Platzes zur rechten Hand rührt unstreitig daher. Aber darum ist die Vernachläßigung der linken Hand um nichts weniger unvernünftig. Daß es möglich sei, die linke Hand mit eben der Stärke und Geschwindigkeit als die rechte zu gebrauchen, das zeigen die Exempel so vieler Leute, die links essen, schlagen, schreiben u. s. w. Dis letzte, das Linksschreiben, wünscht’ ich vornemlich, daß man Kindern zur Uebung machte. Selbst ein schon erwachsner Mensch, der die aus dem Nichtgebrauch entstandene Art von Lähmung schwerlich mehr ganz wegschaffen wird, kann’s doch hierinn durch Uebung bals zu einiger Fertigkeit bringen, und es reut mich selbst nicht, dann und wann einige müßige Minuten auf diese Uebung verwandt zu haben, um nun mit der linken Hand beinah eben so gut oder schlecht als mit der rechten schreiben zu können. Kinder sollten von ihren ersten Jahren an gar keinen Unterschied im Gebrauch der Hände machen. Und von selbst würden sie’s auch gewis nicht. Man gewöhne und zwinge sie nur nicht der einen Hand den Vorzug zu geben. [Anm. zu S. 30-31]
[14] Ich habe der gewöhnlichen Lesart οικουντας das auf dem Rande der Stephanischen Ausgabe bemerkte ουκ οντας vorgezogen. [Anm. zu S. 35]
[15] Für παρα γυναικας δε αυτας lese ich π. γ. δ. ταύτας [Anm. zu S. 38]
[16] Plato fordert unstreitig von dem weiblichen Geschlechte zu viel; unsre gewöhnliche Erziehung deßelben thut | [S. 39] zu wenig. Der athenische Philosoph will die Weiber alle zu einhauenden Dragonern bilden (Rousseau widerlegt ihn im 4ten Theile seines Aemils sehr gut); wir formen sie zu plaudernden Puppen. Giebt’s denn keinen Mittelweg? Man lese in Brechters Briefen über den Aemil den 34sten Brief, der die gewöhnlichen Fehler in der Erziehung des weiblichen Geschlechts, besonders was den Körper betrifft, sehr richtig entwikkelt. – Rousseau zeigt gründlich gegen Plato, daß die Erziehung des männlichen und weiblichen Geschlechts nicht ganz einerley sein könne und müsse. Freylich kann aus dem Weibe, vornehmlich in Ansehung der psychologischen Ausbildung, alles werden, was aus dem Manne wird. Es kann aus ihr eben so gut ein Newton und Leibnitz werden, wie eine Sappho oder Dacier. Aber eine andre Frage ist’s, muß alles das aus ihnen werden, und wär’s gut, wenn man darnach den allgemeinen Erziehungsplan für das weibliche Geschlecht einrichtete? Sonst freilich ist die Seele des Weibes, was die Seele des Mannes ist, von Natur und unmittelbar um nichts zärter und weicher. Der große sichtbare Unterschied rührt lediglich aus den verschiedenen Bau des Körpers her, und aus der verschiednen Erziehung, der körperlichen besonders; großentheils aber auch daher, daß man die Frauenzimmer früh in eine so enge Sphäre von Begriffen einkerkert, so daß jede etwas neue ungewohnte Vorstellung ihre noch nicht zu derselben oder zu einer ähnlichen Vorstellung gebrauchte Fibern mehr erschüttert, und in stärkere und schnellere Schwingung bringt. Daher die größre, oft freilich nur in Affektation und Tändelei bestehende Empfindsamkeit, die größre Furchsamkeit und Weichheit des weiblichen Karakters, die größre Gesprächigkeit u.s.w. Der Orient sperrt den Körper seiner Weiber in Harams ein. Wir schieben eine Menge psychologischer Riegel und Schlagbäume der Ausdehnung ihrer Kraft vor. Es ist ein herrlicher Anblik, ein Weib zu sehen, das einen und den andern dieser Riegel durch eigne Kraft zersprengte, sich wenigstens über die vordersten Schlagbäume wegschwang, und ward, was sie sollte – Gehülfin des Manns, nicht leitend, aber auch nicht an der Kette nachgezerrt, sondern begleitend. [Anm. zu S. 38-39]
[17] Der Zusammenhang und der Gegensatz εξω στρατευσθαι scheinen zu verlangen, entweder daß man περι την πολιν lese, oder daß man doch περι πολεως eben dis bedeuten lasse. Denn περι heißt auch zuweilen, wenn gleich ziemlich selten, mit dem Genitiv circa. [Anm. zu S. 44]
[18] Für das zu allgemeine τροφην lese ich τροπην, in der Bedeutung von Lenkung, Richtung. Kurz vorher ward das Zeitwort τρεπειν in dem Sinne gebraucht. [Anm. zu S. 48]
[19] Aber nie gebe weder Vater noch Lehrer bei irgend einem Kinde, wenn’s auch noch so stumpf anfänglich wäre, alle Hoffnung auf. Die verschlossensten Köpfe wurden und | [S. 52] werden öfters die offensten, wie dis die Biographien großer Männer zeigen. Man überlasse es nur der Zeit und dem Zufall den Schlüssel zu finden. Die Methode Vulkans, mit dem Beil in der Hand, ist bei Menschenköpfen nicht sonderlich probat. Aber Eltern sollten sich nicht minder vor dem noch gewöhnlichern entgegengesetzten Fehler hüten, sich zuviel Hoffnung von ihrem Kinde zu machen, und in jeder Miene und in jedem Lallen desselben Funken von Genie zu entdekken. Fehlgeschlagne Hoffnung der Art ist eine der unangenehmsten Empfindungen. [Anm. zu S. 51-52]
[20] Herr Prof. Henke hat in seiner Uebersetzung dieser Stelle grade den entgegengesetzten Sinn: „Stumpfe und ungelehrige Köpfe erscheinen eben sowol auf eine nicht widernatürliche Art unter den Menschen, als Misgeburten von Körpern und ungestalte Ungeheuer”. Entweder ist das nicht durch einen Druckfehler eingeschoben, oder Herr Henke hat für non magis gelesen non minus. Aber sollte Quinktilian haben glauben können, daß Stumpfheit der Seele und völlige Genielosigkeit jemals nicht widernatürlich sein könnten? oder gar, daß Mißgeburten nicht widernatürlich, sondern | [S. 53] ganz natürlich und regelmäßig wären? Unmöglich. Noch eine Kleinigkeit! Corpora monstris insignia übersetzt Herr Henke: ungestalte Ungeheuer. Aber monstrum und corpus monstro insigne sind, dünkt mich nicht einerlei. Jenes sagt mehr als dis; jenes ist eine Misgeburt, dis ein mit irgend einem widernatürlichen Theil z. E. mit einem Muttermale gezeichneter Körper. [Anm. zu S. 52-53]
[21] Herr Henke übersetzt diese Stelle so: freilich übertrift einer den andern an Fähigkeit, das gebe ich zu; doch nur sofern, daß er mehr oder weniger leisten kann u.s.w. Diese letzten Worte, muß ich bekennen, versteh ich in dieser Verbindung nicht. Wer ist der leistenkönnende? Soviel seh ich indes, daß der Herr Prof. die Worte sed ut plus efficiat aut minus, als eine nähere Einschränkung des concedo angesehen. Mich dünkt, sie wären besser als Parenthese zu betrachten, und auf das folgende nemo, qui nihil sit consecutus zu beziehen. [Anm. zu S. 53]
[22] Besser, der Hoffnung einen Menschen, und einen Bürger zu bilden. Denn nur dis muß die Absicht der ersten Erziehung sein. Ein Kind schon früh gleich, eh’ sich seine Fähigkeiten und Neigungen entknospet haben, zu einer Lebensart zu bestimmen – ist in mehr als einer Hinsicht schädlich. Man muß selbst bei Wählung einer Lebensart für sein Kind nicht zuviel auf die anfänglichen kindischen Aeußerungen von Prädilektion für einen gewissen Stand bauen, und | [S. 54] nicht eben glauben, daß das Kind, das schon itzt gern den Prediger spielt, einen Naturberuf zum geistlichen Stande habe. Kinder beurtheilen alles nur nach dem sinnlichen Eindruk. Man warte also ja, bis sie etwas fähiger sind, die Dinge in der Welt von mehr als einer Seite anzusehn, und man drehe ihnen alsdann die Dinge so, daß sie’s können. Behalten sie auch nun noch Neigung für die Lebensart, in der sie schon als Kind sich spielend übten – wol! so mag’s meinethalben Stimme und Drang der Natur gewesen sein. [Anm. zu S. 53-54]
[23] Die Kinderwärterinnen zu Sparta waren Muster. Plutarch (im Lykurg) macht folgende Beschreibung von ihnen: „Sie wußten mit vieler Sorgfalt und Geschicklichkeit die Kinder groß zu ziehen, ohne sie zu wikkeln, und so, daß ihr Körper und ganze Gestalt ein freies ungezwungenes Wesen bekamen. Sie gewöhnten sie zu schlechter Kost, zur Unerschrokkenheit im Finstern, zur Furchtlosigkeit, wenn sie allein gelassen wurden; allen unanständigen Eigensinn und Geheul gewöhnten sie ihnen ab. Daher kam’s, daß auch Auswärtige für ihre Kinder spartanische Wärterinnen anschaften.” – Wollte der Himmel, unsere Wärterinnen wären den spartanischen ähnlich. Aber werden sie das ohne Anweisung je werden? Die Stiftung einer Art von Seminarium für Kinderwärterinnen würde ein wahres Verdienst um die Menschheit sein. Man hat hie und da Hebammenschulen angelegt, und die Erfahrung spricht für die Wohlthätigkeit eines solchen Instituts. Aber nicht minder wolthätig würde ein Institut sein, das die Ausbildung der Personen zur Absicht hätte, die auf die erste Entwikkelung des Verstandes und vornemlich des Karakters einen so großen und daurenden Einfluß haben. Ich verlange nicht, daß die Kinderwärterinnen Philosophen sein sollen; und ich glaube | [S. 55] auch nicht, daß Chrysippus gelehrte Wärterinnen verlangte, wie Herr Henke hier das sapientes übersetzt. Aber es ist doch in der That nicht genug, daß sie die nöthigen physischen Geschiklichkeiten, und ein heitres fröhliches Temperament besitzen. Und wie selten wird selbst hierauf gesehen, da man gemeiniglich alte Weiber dazu nimmt, denen schon durch ihr Alter eine gewisse mürrische Gemüthsart natürlich ist, die sich überhaupt bei alten Leuten des weiblichen Geschlechts eher und öfter als bei denen vom männlichen Geschlechte einfindet. – Eine gute Kinderwärterin muß außerdem so manche psychologische Geschiklichkeit besitzen, um der sich allmälig entwikkelnden Seele keine schiefe Lage zu geben, sondern sie in der graden Richting der Natur fortwürken zu lassen, und ihr bloß dabei nachzuhelfen. Hätte man erst Kinderwärterinnen von der Art, so würde der Kopf des Kindes nicht mehr mit abgeschmakten Märchen von Gespenstern und Hexen, und mit grausenden Mordgeschichten angefüllt werden. Wie tief dergleichen frühe Eindrükke der Furcht und des Schreks sich in die Seele eingraben, und nachher auch im männlichen Alter durch alle noch so berichtigte Einsichten und Ueberzeugungen nicht weggetilgt werden können – wer weiß es nicht, wem ist’s nicht selbst mehr oder weniger aus eigener Erfahrung bekannt? [Anm. zu S. 54-55]
[24] Sapor, quo nova imbuas. Herr H. übersetzt: so wie der Geruch in dem frisch gefüllten Faß immer derselbe bleibt. Warum der Geruch? und warum ein frischgefülltes Faß? das könnte auch ein altes Faß sein. Nova sind aber hier unstreitig, wie das recens in der angeführten horazischen Stelle, neuverfertigte Gefäße. [Anm. zu S. 55]
[25] Um zu verhüten, daß sich das Kind an keinen dergleichen Fehler in der Aussprache und im Ausdruk gewöhnte, müßte man sie gleich auf der Stelle immer korrigieren, und öfters sich mit Fleiß stellen, als verstünde man sie nicht, damit sie sich von selbst anstrengten, sich deutlich zu machen. Aber dafür lallt man lieber dem Kinde nach, und veranlaßt es dadurch, zu glauben, es habe richtig geredet. So was verlernet sich schon wider, denkt man. Aber sehr oft verlernet sich’s auch nicht. Das Sprachorgan bietet öfters aller Uebung, einen eingewurzelten Fehler in der Aussprache auszurotten, Trotz. Und es ist doch z.E. in der That eine höchstwidrige Empfindung, einen erwachsnen Menschen R und L, L und N, K und T. u.s.w. in der Aussprache verwechseln zu hören. Man beuge also dergleichen Angewöhnungen gleich in der frühsten Kindheit vor, wo das Sprachorgan noch seine ganze Geschmeidigkeit hat. [Anm. zu S. 56]
[26] Was sie thun sollen? den Körper üben. Diesen lasse man nur erst zu einiger Festigkeit und Fertigkeit im Gebrauch aller sinnlichen Werkzeuge gekommen sein, alsdann wird es mit der Entwikkelung der Seele von selbst desto rascher gehen. [Anm. zu S. 60]
[27] Denn das sind hier wol offenbar die minora, so wie majora voher schon einen gewissen höhern Grad von Kenntnissen bedeutet. Herr Henkens Uebersetzgung: – so wird doch das Kind in dem Jahre alsdenn das mehrere lernen, in welchen es das erstere wenige haätte lernen müssen – ist also, dünkt mich, wenigstens nicht deutlich genug. [Anm. zu S. 60]
[28] Aber kann man wol sagen, daß die erste Zeit verloren geht, wenn man bewürkt, daß die Kinder sich ganz ihres Daseins freuen; wenn man sie zwar zu keinen Beschäftigungen anhält, deren Nutzen sie noch nicht einsehen, zu keinem Vergnügen, das für sie noch nicht Vergnügen ist, aber sie dafür in solche Lagen und Umstände setzt, daß sich ihre Fähigkeiten und Kräfte in der Ordnung der Natur von selbst entwikkeln. Und also zuerst der Körper mit allen seinen Fähigkeiten und Vermögen. Die Seele schläft noch in den ersten Jahren der Kindheit. Warum will man sie gewaltsam aufschreien | [S. 61] oder aufrütteln? Man lasse sie lieber ausschlafen, damit sie desto munterer von selbst aufwache. In dieser Zeit (mehrentheils die ersten 4 Jahre durch) arbeitet zwar die Seele schon, sie sammlet Begriffe von außen ein, und wird sich dadurch der Dinge außer sich bewußt. Aber weit später erlangt sie das deutliche Bewußtsein ihrer selbst, und das Vermögen, sich nicht nur von andern Dingen, sondern auch sich, das denkende Subjekt, von der sie umgebenden körperlichen Masse zu unterscheiden. Dis zeigen viele Erfahrungen, unter andern diese, daß Kinder erst spät anfangen, sich als ein Ich anzusehen und so von sich zu reden. Sie reden anfänglich blos in der dritten Person von sich, so wie sie hören, daß andre sie nennen, z.E. Karl will Brod haben, anstatt: ich will. Sie fülen also ihre Ichheit noch nicht. Warum will man denn aber durchaus schon die Seele bei Menschen bilden, die noch nicht wissen, daß sie eine haben? [Anm. zu S. 60-61]
[29] Ich sage Blaren. Denn dis, dünkt mich, ist das eigentliche Wort für das lateinische vagitus. Lallen, wie es Herr Prof. Henke übersetzt, drükt das nicht ganz aus, und ist vielmehr die incerta vox, von der Quintilian gleich redet. „Aber Blaren ist ein zu niedriges Wort für die Büchersprache.” Mag’s! So verdient es wenigstens, daß es durch öftern Gebrauch hervorgezogen und veredelt werde. Warum wollten wir uns so ausdrükkende schon durch den Klang begriferregende Wörter nehmen lassen, und lediglich in die Pöbelsprache verweisen? Mehrere trefliche Ausdrükke, vornehmlich Klangwörter, haben dis unverdiente Schiksal gehabt. Wenn wir uns mit Recht erlauben, im Nothfall Wörter aus andern Sprachen zu borgen – warum wollten wir nicht aus unserm eignen Sprachschatze nehmen, was wir nehmen können, und allenfalls den Rost, der sich angehängt hat, abwischen? [Anm. zu S. 62]
[30] Quinktilian will sich offenbar vertheidigen, warum er so kleine pädagogische Regeln gebe. Er argumentirt so: was einer mit Recht in seinem Haufe thun kann, warum sollte er das nicht auch in Schriften vortragen? Ich wüßte nicht, was in publicum promere hier anders heißen könnte und sollte. Ich kann nicht anders glauben, als daß Herr Henke eine andre Lesart vor sich gehabt oder ersonnen. Denn er übersetzt die ganze Periode so: Wie kann man es an einem Vater mißbilligen, wenn er auch diese frühe Aufmerksamkeit auf seinen Sohn vernachläßigt, da man es keinem übel nimmt, seine häusliche gute Verfassung brauchbar zu machen? [Anm. zu S. 63]
[31] Eine sehr wahre Idee! Und doch nimmt man gemeiniglich zu den untersten Schulbedienungen die schlechtesten, unwissendsten Leute, weil man glaubt, die Anfangsgründe zu lehren erfordre wenig Kopf und Kenntnis. Aber das hat alsdenn die Folge, daß nachher die obersten Lehrer desto mehr Mühe haben, die eingezognen falschen oder nur halbwahren Begriffe bei den jungen Leuten wieder wegzuschaffen und zu berichtigen. [Anm. zu S. 63]
[32] Ein eiziges Wort in der Uebersetzung ausgelassen entkräftet den Sinn öfters außerordentlich. So z. E. hier, wo Herr H. das quanquam suus cuique dignus est blos so übersetzt: wiewol, es verdient sie (die Aufmerksamkeit) ein jedes Kind, und also das suus und die darin stekkende Feinheit des Gedanken übersehn hat. – Wenn er gleich drauf übersetzt: sollt ich mich schämen ihn in den ersten Anfangsgründen auch jene Kleinigkeiten zu lehren? so ist auch dis, wie mich dünkt, nicht ganz richtig. Compendia docendi sind wol nicht Kleinigkeiten, sondern verkürzte Lehrmethoden, und Quinktilian redet nicht von dem, was er das Kind, sondern, was er das Publikum lehren wolle und dürfe. [Anm. zu S. 64]
[33] Die Konjektur des Galläus discreta ist wegen des Gegensatzes conjuncta unstreitig besser als die gewöhnliche Lesart certa. Von der Sache selbst, vom Buchstabiren red’ ich in meinem Aufsatze vom Lesenlernen. [Anm. zu S. 66]
[34] Quinktilian billigt diese Methode. Das zeigt offenbar der ganze Zusammenhang. Aber Burmann bildete sich ein, er tadle sie – Ich glaube, er schloß dis aus dem quod difficillimum est. – Aber das non rationis modo, sed usus quoque est stand ihm zu augenscheinlich im Wege, und sagte zu deutlich das Gegentheil. Also frisch emendirt! Entweder: non modo non rationis, sed lusus quoque est, oder: non rationis, sed usus modo est. Wenn man doch weiter nichts als Kritiker ist! – Weg mit der Emendation! Quinktilian war viel zu vernünftig und scharfsinnig, als daß er eine Methode tadeln sollte, die den großen Vortheil hat, die Aufmerksamkeit der Seele zwischen zwei Vorstellungen so zu theilen, daß doch keine dabei verliert. Mit dem quod difficillimum est will er also weiter nichts sagen, als wie die Worte gradezu lauten, daß die Sache schwer sei. Und das ist sie freilich anfänglich für das lesenlernende Kind. Aber noch grade gewöhnt man sich daran, und alle Erwachsene lesen ja auf die Art, daß sie mit dem Auge etwas (zuviel muß es freilich nicht sein) voraus sind. Stellte man mit jungen Leuten mehrere ähnliche und noch schwerere Uebungen an, so könnte man sie nach und nach zu der ungehinderten Vertheilung der Aufmerksamkeit bringen, die man immer an Cäsar und einigen andern Genies, die z. T. mehrere Briefe zu gleicher Zeit diktiren konnten, als etwas übermenschliches anstaunt. Uebung kann alles ausrichten. Aber diese Uebung muß früh geschehn, ehe die Seele fest und hart geworden, und eher bricht, als sich biegen läßt. [Anm. zu S. 67]
[35] Aber nur nicht Wörter, deren Zusammenknüpfung keinen oder doch einen sehr läppischen Sinn gibt; noch weniger bloß eine Menge unbekannter schwerauszusprechender Namen, ob ich gleich weiß, daß es viele für eine schöne Lesemethode halten, Kinder die Geschlechtsregister in den Büchern der Chronika und anderswo lesen zu lassen. Plaudite! [Anm. zu S. 69]
[36] Verbindung der öffentlichen und der Privaterziehung ist in der That die schönste Methode zur Ausbildung des Herzens und der Geistesfähigkeiten eines jungen Menschen. Nur muß der Privaterzieher auch im Stande sein, die Lükken, die bei dem öffentlichen Unterrichte für seinen Lehrling übrig bleiben, auszufüllen. [Anm. zu S. 72]
[37] Herr Henke übersetzt die Worte: possunt autem id demum, quod in proximo est so: das können sie gemeiniglich schon längst, was ihnen nur erst soll gesagt werden. Dis wäre, wenn sich’s auch aus den Worten herausbringen ließe, doch Quinktilians Meinung zuwider. Denn wie könnte er, was gar nicht seine Absicht ist, die frühzeitigen Genies mehr loben, als durch ein solches Urtheil? Hingegen setzt er ihren Werth gar sehr, und wie mich dünkt, zu sehr herunter, indem er sie nur Dinge begreifen läßt, die nah vor ihnen liegen. Dis bestättigt auch das folgende. Die Worte gleich darauf: verba continuant scheinen nun aber wieder etwas mehr sagen zu sollen als blos: sie setzen Worte zusammen. Sie beziehn sich, wie mich dünkt, auf die gleich beschriebne Dreistigkeit solcher Kinder, gleich alles gelernte auszukramen. [Anm. zu S. 79]
[38] So übersetz’ ich die Worte: alios continuatio extundit, und der Gegensatz; in aliis plus impetus facit, bestättiget meine Uebersetzung. Ich sehe nemlich extundere gewissermaßen als ein Kunstwort der Bildhauerei an, und so, dünkt mich, ist’s auch beim Virgil (Georg. I, 133 und IV, 315) zu nehmen. (Beim Horaz Sat. II. 2.15 lese ich mit Bentlei lieber expulerit.) So, glaub ich, brauchen wir alle die kritischen Künsteleien nicht, die man bei dieser Stelle angebracht, da einige für continuatio lieber comminatio lesen wollen, andre für extundit contundit, und Burmann aliis für alios, so daß extundere einerlei mit exprimere wär. Herr H. übersetzt diese Stelle: andre schlägt ein fortgesetztes Anstrengen gänzlich zu Boden. Bei andern würkt sie das Gegentheil und ermuntert sie noch mehr. [Anm. zu S. 80]
[39] qui victus fleat übersetzt Herr Henke: der von seinen Fehlern überführt weine. Es ist wahr, vincere wird zuweilen für convincere gebraucht. Aber sollte nicht hier die eigentlichste Bedeutung des victus einen pädagogischern Sinn geben? Und in der That, die Kinder, die bei Ueberführung von einem Fehler weinen – sind nicht so häufig, als die, die, wenn sie sich von einem ihrer Mitschüler, der ihnen sonst gleich oder schlechter als sie war, übertroffen sehen, ehrgeizige Thränen fallen lassen. Freilich ist jenes Weinen edler als dieses; aber darum doch seltner. Denn man muß das Weinen eines Kindes bei Ueberführung von einem Fehler, und das bey nachdrüklichen Schimpfen und Schelten nicht verwechseln. Das erstre entsteht durch ein gewisses moralisches Gefühl, und die Ehrliebe würft nur verstekter mit; das letztere entsteht so wie das Weinen bei dem Uebertroffensein einzig und allein aus gekränkter Ehr und Eigenliebe. [Anm. zu S. 80]
[40] Nach diesen Bemerkungen sollte man die jugendlichen Spiele einrichten, daß sie nehmlich außer dem sinnlichen | [S. 82] Vergnügen und der körperlichen Bewegung auch den Kindern Gelegenheit gäben theils die sinnlichen Werkzeuge und das Nachdenken zu schärfen, theils den Karakter zu entfalten. Nur muß der Lehrer diese beiden letztern Zwekke so zu verstekken wissen, daß sein Lehrling sie nicht merkt. Sonst wird ihm das Spiel bald ein Ekel, weil er sich’s nun nicht mehr als Spiel denkt; und von einer andern Seite lernt er alsdann sehr früh, sich zu verstellen. – Jedes Kinderspiel muß Unterricht und psychologische Uebung sein; nur muß dis, wie gesagt, das Kind ihm auf keine Weise ansehen. Aber eben so dünkt mich, muß auch der Unterricht nie eigentliches Spiel sein, und er kann auch ohne das dem Kinde, das nur nicht zu früh zum Lernen hingepeitscht wird, angenehm genug gemacht werden; vornehmlich, wenn Unterricht und Spiel abwechseln. Kinder müssen früh lernen Arbeit und Spiel zu unterscheiden, oder sie werden nach der verschiednen Behandlung eins von beiden, Murrköpfe oder Faseler. Arbeit werde ihnen also nie eigentliches Spiel, aber freilich noch weniger Spiel Arbeit. [Anm. zu S. 81-82]
[41] Für πτωματιζει les ich πτωκαζει. [Anm. zu S. 85]
[42] Für γενικα, das hier gar keinen Sinn giebt, les ich γενναια. [Anm. zu S. 86]
[43] Den
5. Junius 1777.
[44] Um dis zu bewürken gefällt mir die geographische Methode sehr, die ich vor kurzen, ich weiß nicht mehr bei | [107] welchem neuern pädagogischen Schriftsteller gefunden habe: daß man nehmlich, wenn man mit dem Lehrlinge eine ordentliche Karte durchgenommen hat, ihm noch ganz leere Karten in die Hände giebt, auf welchen blos der Umriß der Grenzen und der Gang dieses oder jenes wichtigen Flusses zu sehen ist; und daß man dann die Namen der Provinzen und hauptsächlichsten Städte von dem Kinde zuschreiben läßt. Hat man dis eine Zeit lang getrieben, so könnte man den Versuch machen, den Lehrling aus dem bloßen Kopf eine eigne Karte von einem ihm nun schon bekannten Lande machen zu lassen, worin er die Gränzen, die Haupteintheilungen und die wichtigsten Oerter bezeichnete. Die begangnen groben Fehler würden nachher durch Vergleichung einer ordentlichen Karte gezeigt und verbessert. „Aber diese Karten würden ziemlich ungenau werden, vornehmlich in Ansehung der Entfernungen?” Das würden sie. Aber was schadete das? Es wäre dis doch die beste Methode, – das bloße noch so aufmerksame Anschauen einer richtigen Karte könnte dis lange nicht so gut thun – der Imaginazion ein wo nicht völlig, doch ziemlich ähnliches Bild von einem Lande einzudrükken; ein Bild, das hinlänglich wäre, um nicht bei jedem historischen Faktum, wobei es just nicht auf die allergenaueste geographisch richtige Vorstellung ankäme, erst eine förmliche Karte nachsehn zu dürfen. Dis wäre auch die beste Art, die geographischen Profektus eines Kindes zu prüfen, tausendmal besser als die gewöhnliche Art, da man sich freut, wenn es eine Menge Namen hintereinander herschnarren kann, die doch gewiß bald wieder verlöschen, wenn kein Bild der Imaginazion sie begleitet. Freilich da nach meiner Methode das Kind Geograhie noch eher studieren soll, als es lesen und schreiben kann, so würde es zur Bezeichnung der wichtigsten Ortbenennungen nicht Buchstaben- sondern Bilderschrift gebrauchen müssen. Allein selbst dis würde für den Lehrling mannigfaltigen Nutzen haben, so wie es überhaupt in vieler Rüksicht besser für ihn sein würde, wenn er der Natur gemäß erst zeichnen lernte, eh er zu schreiben anfinge. [Anm. zu S. 106-107]
[45] Selbst manche einzle Sylben werden von vielen in der Aussprache falsch akzentuirt z. E. Glükseligkeit (mit Dehnung der zweiten Sylbe) statt Glükseligkeit. Noch ärger klingt’s, wenn man auch Mühseligkeit auf eben die Art ausspricht, so daß der Akzent auf se zu liegen kommt, da er offenbar auf den Hauptbegrif Müh liegen sollte, und Seligkeit in dieser Art der Zusammensetzung weiter nichts als Fülle, Ueberfluß bedeutet (z. E. redselig, arbeitselig, holdselig). So sprechen viele: Widerwärtigkeit, da vielmehr der Akzent immer auf dem Vorwort wider als dem Hauptbegrif liegen sollte. Einer meiner Freunde hatte neulich den Einfall, ob es nicht gut wäre, Akzentzeichen in unsrer Sprache einzuführen, nicht sowol Sylbenakzente, weil doch ein Einländer nur selten darin fehlte, als vielmehr Wortakzente, so daß nehmlich immer der Hauptbegrif durch den Akzent kenntlich gemacht würde. Mich dünkt Deklamazion und Vorlesungskunst würden sehr dabei gewinnen, weil man zumal nicht immer voraus wissen kann, welches das Hauptwort sein wird. | [S. 115]
[46] Siehe Erinnerungen über einen wichtigen Gegenstand von einem Böhmen. S. 121 sqq. [Anm. zu S. 151]
[47] Selbst
d’Alembert, der in einem Aufsatz im
5ten Theil seiner Mélanges ziemlich hitzig gegen das Lateinschreiben zu
Felde zieht,
macht denselben Unterschied. Er sagt unter andern p. 561: Mais autant il seroit à souhaiter, qu’on n’écrivît jamais des
ouvrages
de gout que dans sa propre langue, autant il seroit utile, que les
ouvrages de
science, comme de Géométrie, de Physique, de Médecine, d’érudition mème
ne
fussent écrits qu’en langue latine, c’est à dire dans une langue qu’il
n’est
pas nécessaire en ces cas – là de parler élégamment, mais qui est
familiaire à
presque tous ceux, qui s’appliquent à ces sciences, en quelque pays
qu’ils
soient placés. [Anm. zu S. 162]
[48] Erasmus sagt in seinem Buche de Pronunt. linguae lat. et graecae: sunt quidam adeo crassi, vt non distinguant accentum a quantitate, quum sit longe diversa ratio. Aliud est enim acutum, aliud diu tinnire; sicut aliud intendi, aliud extendi. Herman von der Hardt (in seinem arcano accentuum graec.) macht dis durch Vergleichung mit der Musik deutlich. Die lange Sylbe ist gleichsam eine Viertelnote, die kurze eine Achtelnote. Der Akzent hingegen verändert nicht den innern Gehalt der Note, sondern rükt sie bloß eine Linie höher hinauf. [Anm. zu. S. 232]
[49] Ilias
1,49 [A.F.]
[50] Vornehmlich
nach seiner neulichen, eines
Zedliz so ganz würdigen Umschmelzung.
[51] Um das
jährliche Steigen des Luxus nur durch Ein Exempel zu beweisen – in
Berlin waren
zu Ende des vorigen Jahrs (1777) 121 Domestiken männlichen Geschlechts
mehr als
in dem vorhergehenden, in allen 3027. Nach Süßmilch waren ihrer A. 1756
nur
2500.
[52] Herr D. Krüniz erzählt im roten Theil seiner ökonomischen Enzyklopädie unter dem Artikel Ehe alle Aufmunterungen und Triebfedern, die die Alten zur Beförderung der Ehen gebrauchten. Strafen und Belohnungen, Ehre und Schande wurden angewandt. Und bei uns? Höchstens überläßt man’s dem Dichter, den Ehescheuen in seiner verächtlichen Gestalt auf die Bühne zu führen, und wir können von Glük sagen, wenn Dichter wie Dorat und Gotter Gegenstände der Art bearbeiten. Allein die Eindrükke eines Schauspiels sind, so stark sie sein mögen, dennoch sehr vorrübergehend. Eine gute gesetzliche Verfassung ist, wie Plato sagt, das schönste Drama. Warum spielt man denn auf diesem großen Theater noch nicht den Ehescheuen zum Frommen des Staats? – Herr Krüniz schlägt am angeführten Ort die völlige Aufhebung der Aussteuer und Mitgift als ein Beförderungsmittel der Ehen vor. Das Frauenzimmer soll, meint er, weiter nichts als ihren Körper und ihre Seele haben. Die Ehen würden alsdann weit glüklicher gerathen, weil man sich bloß nach Liebe und Neigung verheirathete. – Sehr gut gemeint! allein ich befürchte nur, daß, wenn dieser Vorschlag einmal ausgeführt werden sollte, die Zahl der Ehen noch kleiner werden würde. Eigentliche Liebe, so eine starke Triebfeder sie für fühlende Herzen ist, würkt auf den großen rohern Haufen nur schwach. Das Vermögen hat für die meisten mehr magnetische Kraft. Zu gutem Glük entsteht indessen doch öfters aus der Liebe des Vermögens Liebe der Person. Amor, sagt die Mythologie, war ein Sohn Merkurs. Ich wünschte daher lieber, man ahmte in gewisser Rüksicht den alten Babyloniern nach, die die mannbaren Mädchen veraukzionirten. Bei den schönen war die Frage: wer giebt das meiste? bei den häßlichen, die nun von dem für die schönen eingekommenen Gelde ausgestattet wurden: wer nimmt das wenigste? Bei einem Volke, bei dem das weibliche Geschlecht im unnatürlichen Sklavenstande lebte, ging das an, und hatte wenigstens die Folge, daß nicht leicht ein Mädchen sitzen blieb. Aber auch bei unsern bessern Sitten ließe sich die babylonische Mode insofern vortheilhaft nachahmen, daß jeder einen gewissen Theil der erheiratheten | [S. 278] Mitgift, etwa 1/20 oder die Interessen eines Jahrs zur Ausstattungskasse der unbemittelten Mädchen zahlen müßte, die dann nach Proporzion ihres Standes und ihrer persönlichen Reize mehr oder weniger bekämen. Wie manches unbemittelte Mädchen ward aus Mangel einer solchen Einrichtung das abscheulichste, was ein Weib werden kann. | [S. 279]