Heft 4, 2004   

 

Does religion matter? Zum Verhältnis von Religion und sozialer Bewegung

Otto Kallscheuer, Kirche als Bewegung? Das Pontifikat Johannes Pauls II, FJ NSB 4/2004, S. 7-15.

Die internationale Struktur der römisch-katholischen Kirche entspringt weniger der allumfassenden Mission Jesus Christus´ als dem Ergebnis der päpstlichen Revolution des 11. Jahrhunderts gegen die christliche Machthaber und der Reaktion auf Nationalismus und Liberalismus des 19.Jahrhnderts. Letztere führten zur Niederlage der Idee weltlicher Macht der Kirche, die mit dem 2.Vatikanischen Konzil letztendlich eingeräumt wurde. Darauf wurde allerdings eine andere Art internationaler Führung möglich. Das Pontifikat Papst Johannes Paul II. stellte eine sehr starke Variante dieser neuen meta-politischen Möglichkeiten. Mit Johannes Paul II. stieg der Vatikan zu einem internationalen Akteur auf, der als moralische Supermacht agiert. Wichtige Teile seiner Idee der Ecclesia liegen in der polnischen Geschichte und dem antitotalitärem Widerstand der Solidarnosc-Bewegung begründet. Allerdings bleiben unter ihm die weiteren Versprechen des 2. Vatikanischen Konzils, strukturelle und theologische Reformen, unerfüllt.

Marie-Theres Wacker, Gender Trouble im Vatikan, FJ NSB 4/2004, S. 16-20.

Ein Schreiben der vatikanischen Glaubenskongregation vom Juli 2004 hat neben der feministischen Patriarchatskritik erstmals auch die sex/gender-Dekonstruktion als nicht in Übereinstimmung mit den römisch-katholischen Perspektiven einer "Förderung der Frau" zurückgewiesen. Der Beitrag rekonstruiert textimmanent die Anthropologie des Dokuments, analysiert kritisch dessen Hermeneutik und benennt als Kontext insbesondere die öffentliche Diskussion um rechtliche Gleichstellung hetero- und homosexueller Partnerschaften.

Dieter Rucht und Mundo Yang, Wer demonstrierte gegen Hartz 4, FJ NSB 4/2004, S. 21-27.

In einer aktuellen Untersuchung zu der Frage, wer demonstrierte im Frühherbst 2004 gegen Hartz IV kommen die beiden Berliner Sozialwissenschaftler vom Wissenschaftszentrum Berlin, Dieter Rucht und Mundo Yang, zu folgenden Erkenntnissen: Der typische Demonstrant kommt aus dem Osten, ist männlich, im Alter zwischen 50 und 55 Jahren, steht in einem unsicheren Arbeitsverhältnis oder ist arbeitslos. Er kehrt sich von den etablierten Parteien ab und tendiert am ehesten zur PDS. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung gibt es unter den Demonstrierenden keine markante Hinwendung zu rechtsradikalen Parteien. Vielmehr ist der typische Demonstrant deutlich links und postmaterialistisch orientiert; er betrachtet den Sozialismus als eine gute Idee, die aber schlecht ausgeführt worden sei. Rucht/Yang betonen zugleich, dass mit dieser Charakterisierung lediglich Tendenzen bzw. Schwerpunkte bezeichnet werden. Es wäre falsch zu behaupten, nahezu alle Demonstrierenden entsprächen diesem Bild.

Ulrich Willems, Religion und soziale Bewegungen - Dimensionen eines Forschungsfelds, FJ NSB 4/2004, S. 28-41.

Anders als in den Sozialwissenschaften insgesamt hat die Renaissance der Religion als Faktor der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit in der Bewegungsforschung noch nicht zu einer angemessenen Berücksichtigung des Verhältnisses von Religion und sozialen Bewegungen geführt. Nach wie vor wirken vor allem das Säkularisierungstheorem sowie die Überzeugung vom traditionalistischen oder gegenmodernen Charakter der Religion als kognitive Barriere. Ihre kritische Überprüfung zeigt jedoch, dass sie diesen blinden Fleck der Bewegungsforschung nicht zu rechtfertigen vermögen. Der Beitrag entfaltet anschließend vier Dimensionen einer Erforschung des Verhältnisses von Religion und sozialen Bewegungen, nämlich (1) Religion als Ressource sozialer Bewegungen, (2) gemeinsame Herausforderungen und Probleme sozialer und religiöser Bewegungen, (3) neue religiöse Bewegungen als Akteure sozialen und politischen Wandels und (4) die religiöse Dimensionen neuer sozialer Bewegungen.

Michael Minkenberg, Die Christliche Rechte in den USA als politischer Akteur, FJ NSB 4/2004, S. 42-51.

Im vorliegenden Beitrag wird die politische Rolle der Christlichen Rechten in den USA, insbesondere ihr Aktionsrepertoire und ihr Aktionsradius untersucht. Hierzu werden die Agenda der Christlichen Rechten sowie Wandlungen in ihrem Organisationsfeld im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert aufgezeigt und sodann in Beziehung zum politischen Umfeld, insbesondere der Republikanischen Partei gesetzt. Es wird die These vertreten, dass die Eigenständigkeit der Christlichen Rechten einer zunehmenden Unterwerfung unter die Regeln der Parteipolitik und einer Instrumentalisierung durch die Partei gewichen ist.

Michael Haspel, Organisierte religiöse Akteure:Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und die Bürgerbewegung der DDR, FJ NSB 4/2004, S. 53-60.

Die evangelischen Kirchen in der DDR und die schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA stellen zwei der wenigen Beispiele von nicht-fundamentalistischen protestantischen Kirchen dar, die in gesellschaftlichen Transformationsprozessen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Bei beiden war ein wichtiger Faktor, dass sie durch den Grad ihrer Institutionalisierung und die Verfügung über Ressourcen eine bedeutsame Rolle für die jeweilige soziale Bewegung spielen konnten. Dass sie aber auch bereit waren, ihre Möglichkeiten zur Unterstützung der Anliegen der sozialen Bewegungen einzubringen, wird in dieser Analyse auf die Veränderung ihrer theologischen Reflexion, auf eine bewußte Kontextualisierung in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation zurückgeführt.

Dietrich Reetz, Aktuelle Analysen islamischer Bewegungen und ihre Kritik, FJ NSB 4/2004, S. 61-68.

Der Beitrag setzt sich mit der Verwendung der Begriffe Fundamentalismus, Islamismus, Radikalismus und Militanz in der wissenschaftlichen Literatur auseinander. Er befürwortet eine erweiterte Auslegung des Islamismus-Begriffs, die über politische und ideologische Aspekte hinaus auch religiösen Aktivismus erfasst. Zugleich erscheint eine gesonderte Beachtung religiöser Antriebskräfte unerlässlich. Dabei gilt es, sowohl die Dynamik der Reinigungsdiskurse als auch die Vielfalt von Interpretation und Praxis im Islam zu berücksichtigen. Nur in einer doppelten Zuordnung politisch-sozialer wie auch religiöser Momente lässt sich eine genauere Verortung islamistischer Gruppen vornehmen. Dies wird an vier angenommenen Grundtypen islamistischer Bewegungen veranschaulicht: politischen Parteien, militanten Gruppen, Sozialverbänden sowie religiösen Erweckungs- und Missionsbewegungen. Diese machen die Notwendigkeit eines multifokalen und interdisziplinären Analyseansatzes deutlich.

Iris Wieczorek, Soziale und politische Aktivitäten "neuer religiöser Bewegungen" in Japan, FJ NSB 4/2004, S. 69-77.

Das Phänomen neuer religiöser Bewegungen ist in Japan im Vergleich zu den USA und Europa stärker ausgeprägt. Gegenwärtig existieren über 600 religiöse Gruppen und etwa 10% bis 20% der japanischen Bevölkerung beteiligt sich an ihnen. Daher spielen die neuen religiösen Bewegungen in Japan eine bedeutende gesellschaftspolitische Rolle. Dies wird im vorliegenden Beitrag anhand der Aktivitäten verschiedener Religionsgemeinschaften illustriert. Dabei wird untersucht, inwieweit sich Aspekte des Wertewandels und der politischen Gelegenheitsstrukturen auf die Mobilisierungsaktivitäten religiöser Bewegungen in Japan auswirken. Ein besonderer Stellenwert wird den religiösen Bewegungen Aum Shinrikyô und Sôka Gakkai beigemessen, die das Verhältnis zwischen Religion und Politik nachhaltig verändert haben.

Joachim Süss, Der Sektenkomplex. Zur Delegitimierung religiöser Alternativen durch einen pluralisierungskritischen Diskurs, FJ NSB 4/2004, S. 78-85.

Der Beitrag befasst sich mit den religiös-weltanschaulichen Pluralisierungsprozessen, die in den westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jh. einsetzten und beschreibt gesellschaftliche wie staatliche Reaktionen. Am Beispiel der Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zum Thema sogenannte Sekten und Psychogruppen und dem Gutachten der Bayerischen Staatsregierung über gesundheitliche und rechtliche Risiken bei Scientology werden charakteristische Postulate des pluralisierungskritischen Diskurses sowie seiner Akteure analysiert. Abschließend wird nach der Intention dieses Diskurses gefragt. Sie wird darin gesehen, den Wettbewerb zwischen alten und neuen religiösen Systemen zu beschränken, indem moderne Alternativen zu den etablierten Religionsgemeinschaften von vorne herein diskreditiert werden.

Alexander Leistner: Geburtshelfer oder Jungbrunnen? Das Verhältnis von Religion und sozialer Bewegung am Beispiel der DDR-Friedensbewegung, FJNSB 4/2004, S.86-90.

Der Forschungsbericht versucht, exemplarisch an den Biographien von Akteuren der ostdeutschen Friedensbewegung, die über 1989 hinaus bis heute aktiv sind, die Ursachen für die Langlebigkeit des Engagements zu rekonstruieren. Fokussiert auf das Thema das Heftes wird gezeigt, dass beziehungsweise wie die christliche Religion einen wesentlichen Beitrag für die Mobilisierung, Legitimation und für die Dauerhaftigkeit der Friedensarbeit leistet.

Claudia Ritter: Ein Chamäleon und das Biest. Kollektive Identitätsbildung in der Europäischen Union, FJNSB 4/2004, S.91-95.

Angesichts des Demokratiedefizits der Europäischen Union stellt sich die Frage, wie kollektive Sensibilitäten für eine demokratische Einbeziehung und transnationale Solidaritäten ausgebildet werden können. Entscheidend ist dabei nicht so sehr, dass eine europaweite Identität entstehen kann, sondern welche spezifischen Konstruktionen europäischer Identitäten hervorgebracht werden. Anhand eines Beispiels aus der kanadischen politischen Theorie soll verdeutlicht werden, wie der an Nationalstaaten geschulte theoretische Blick auf die EU für Konstellationen von multination polities geöffnet werden kann.