Heft 1, 2002   

 

Transnationale Aktionsnetzwerke.
Chancen für eine neue Protestkultur?
Abstracts (deutsch)

Pierre Bourdieu: Plädoyer für eine europäische soziale Bewegung, FJNSB 1/02, S. 8-15.

In einem seiner letzten Texte zieht der verstorbene französische Soziologe noch einmal Bilanz: Mit deutlichem Nachdruck fordert er die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen - Gewerkschaften, Intellektuelle, soziale Bewegungen - auf, sich vereint gegen die Politik der Globalisierung zu stellen. Die Zeit sei reif, dass sich die betroffenen Gruppen endlich sammeln würden, um die soziale Bewegung zunächst einmal in Europa in Kraft zu setzen und Widerstand gegen die Machtergreifung der multinationalen Unternehmen und Institutionen und die Herrschaft der Aktionäre zu leisten. Bourdieu zeigt Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften auf, fordert den kollektiven Intellektuellen auf, seinen Elfenbeinturm zu verlassen und mahnt die sozialen Bewegungen sich nicht durch Spannungen, Spaltungen und Konflikte fragmentieren zu lassen, sondern die effektive Kooperation zwischen den gesellschaftlichen Akteuren zu verfolgen.

Dieter Rucht: Herausforderungen für die globalisierungskritischen Bewegungen, FJBNS 1/02, S. 16-21.

Dieter Rucht arbeitet sich in Form von acht Thesen an wichtigen Fragen hinsichtlich der Anforderungen, Hintergründe und Widerspüche der globalisierungskritischen Bewegungen ab. Den Fokus legt er auf nationale und internationale Protestgruppen, die anlässlich der Gipfeltreffen internationaler Organisationen in Seattle, Prag, Göteburg und Genua mobilisiert haben. Der Autor widmet sich sowohl der Vorgeschichte als auch den medial erzeugten Überhöhungen der globalisierungskritischen Bewegungen. Um auch zukünftig handlungsfähig zu bleiben, werden mehreren Faktoren benannt, die das Sammelsurium von teils lose verknüpften, teils völlig unverbundenen Gruppen, Netzwerken und Einzelbewegungen erfüllen müssen.

Albrecht von Lucke: Made by Attac - Eine Marke und ihr Marketing, FJNSB 1/02, S. 22-26.

Der Autor untersucht das Medien- und Markenphänomen Attac. Entscheidend für die Fokussierung der Medien auf diese Bewegung waren die Ereignisse während des G8-Gipfels in Genua. Lucke bewertet die unterschiedlichen Leitartikel zu Attac, in denen der Bewegung Skepsis und Geringschätzung entgegenschlägt. Und dies, obwohl die Autoren allesamt aus dem linksliberalen Spektrum kommen. Lucke vergleicht Bewegung und Mobilisierung rund um Attac mit der 68er Bewegung und kommt zu dem Schluss, dass Attac, anders als die 68er, weder einen Generationenkonflikt ausfechtet noch einen Avantgardeanspruch hegt. Ob Attac es allerdings schafft, eine stabile Bewegung zu werden, hängt davon ab, wie sich das Label ‚attac' - die Marke für Globalisierungskritik - auf dem Bewegungsmarkt konsolidiert.

Kaisa Eskola und Felix Kolb: Attac - Erfolgsgeschichte einer transnationalen Bewegungsorganisation, FJNSB 1/02, S. 27-33.

In ihrem Beitrag beschäftigen sich Kaisa Eskola und Felix Kolb mit den Faktoren, die die Entstehung von Attac in Frankreich, dem Geburtsland dieser Bewegung, und deren Verbreitung in mittlerweile über 30 Ländern begünstigten. Obwohl sich Themen, Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen von Attac von Land zu Land unterscheiden, gelingt es den AutorInnen einige zentrale Merkmale zu umreißen, die das Profil und gleichzeitig den Erfolg der Bewegung ausmachen: Attac ist bislang die einzige transnationale Bewegungsorganisation mit explizitem Fokus auf Globalisierungsthemen und Teil der globalisierungskritischen Bewegung. Außerdem weiß Attac die Vorteile zu nutzen, die die besondere Bewegungsmischung aus Netzwerk und Organisation bietet. Um aber zukunftsfähig zu bleiben, so die AutorInnen, muss Attac seine internationale Handlungsfähigkeit ausbauen und sich neben dem Thema Finanzmarkt weiteren Globalisierungsbereichen öffnen.

Friedericke Habermann: Peoples Global Action - Globalisierung von unten., FJNSB 1/02, S. 34-39.

Für Informationsaustausch und Aktionskoordinierung gegen die neoliberale Globalisierung bildete sich 1998 das transnationale Netzwerk Peoples Global Action (PGA). Friederike Habermann arbeitet in ihrem Beitrag anhand der Entstehungsgeschichte, den Inhalten und der Struktur von PGA die Besonderheiten dieser Bewegung heraus, die ohne Büro und Hauptamtliche eine internationale Vernetzung herstellt. PGA versteht sich als Plattform und nicht als Organisation mit Mitgliedern. Diese Plattform bietet den verschiedensten Strömungen und Gruppierungen ein Forum, um sich gegenseitig in ihren Kämpfen gegen die Globalisierung zu unterstützen. PGA ist im radikalen Widerstand die entscheidende Vernetzung für Bewegungen aus dem Süden, so Habermann.

Christian Lahusen: Transnationale Kampagnen sozialer Bewegungen - Grundzüge einer Typologie, FJNSB 1/02, S. 40-46.

Christian Lahusen setzt sich in seinem Beitrag mit einer besonderen Form des Protests auseinander: Den transnational koordinierten Kampagnen. Er arbeitet die charkteristischen Merkmale, die internen und externen Bedingungen sowie die Ziele und Adressaten von transnationalen Kampagnen heraus. Bei den Kampagnen handelt es sich um eine Serie von Aktionen oder Kommunikationen, die vorher geplant und auch entsprechend gesteuert umgesetzt wird, was wiederum die Möglichkeit zur begleiteten Evaluation ermöglicht. In seiner Analyse schlussfolgert der Autor, dass die Transnationalisierung der Kampagnenführung zu einer größeren Kluft zwischen den professionalisierten und transnational agierenden Bewegungsadvokaten und einer lokalen, mobilisierungs- und protestorieniterten Basis geführt hat.

Jürgen Kaiser: erlassjahr.de - Kampagne für Entschuldung, FJNSB 1/02, S. 47-51.

In dem Beitrag wird die Kampagne Erlassjahr 2000 vorgestellt, die das symbolkräftige Jahr 2000 für die Umsetzung der Forderung nach einem Neuanfang für die verschuldeten Länder des Südens nutzte. Angesichts der Ungerechtigkeit der bestehenden Verfahren zur Behandlung von Überschuldungssituationen südlicher Länder, forderte die Kampagne von den Gläubigern, dass die Zahlungsfähigkeit der Schuldner wieder hergestellt wird. Bei der Kampagne handelte es sich ausdrücklich um die Zusammenarbeit von unterschiedlichen jeweils autonomen Kampagnen und Bewegungen, und nicht um eine global zentralisierte Struktur. Gleichzeitig verstand sie sich bewusst als ‚Ein-Punkt-Bewegung'.

Anne Jung: Fatal Transactions - Kriegsdiamanten auf der Spur, FJNSB 1/02, S. 52-56.

Nicht mit Demonstrationen, sondern über Aufklärung der Verbraucher und Druck auf Industrie und Handel arbeitet die internationale Kampagne Fatal Transactions zur Bekämpfung von Kriegsdiamanten aus Afrika, die die Hilfsorganisation medico international gemeinsam mit anderen europäischen Organisationen durchführt. Jung zeigt, dass Organisationen und Kampagnen einen langen Atem brauchen - insbesondere dann, wenn bereits am ersten Kampagnentag die Industrie auf alle Forderungen einzugehen scheint. Spezialisierung der in Kampagnen vernetzten Mitgliedsorganisationen - z.B. auf Recherche, auf Kampagnenführung oder auf Projektarbeit - ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg von Kampagnen wie Fatal Transactions im Kampf gegen die Interessen von Weltkonzernen.

Daniel Mittler: ‚So lasst uns denn ein Rettungsboot bauen', FJNSB 1/02, S. 57-61

Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und sein internationales Netzwerk Friends of the Earth International (FoEI) organisierten im Sommer 2001 anlässlich der Klimakonferenz in Bonn die Protestkampagne ‚Das Rettungsboot', die international Beachtung fand. Anhand dieser Aktion beschreibt Mittler, wie es Netzwerke schaffen können - trotz Konkurrenz der Protestereignisse, denn zeitgleich zu Bonn fand der G8-Gipfel in Genua statt - weltweit Aktivisten zu mobilisieren, globalen Protest zu organisieren und die beabsichtigte mediale Wirkung zu erzielen. Zum einen rief die Aktion die internationale Umweltbewegung (wieder) auf den Plan, zum anderen konnten aber Spannungen innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung nicht verhindert werden.

Ronald Köpke: Zur Kompatibilität von Nord-Kampagnen und Süd-Netzwerken, FJNSB 1/02, S. 62-67

Arbeitsrecht- und Produktkampagnen im Norden definieren sich als Teil der globalisierungskritischen Bewegung zur Durchsetzung von sozialen Rechten für eine globale ArbeiterInnenklasse, so die Ausgangsthese des Autors. Ronald Köpke wendet sich in seinem Beitrag gegen eine solche Sichtweise des ‚gemeinsam mit dem Süden an einem Strang ziehen'. Er problematisiert die Praxen, Diskurse und Rollenzuschreibungen von Südnetzwerken am Beispiel der Exportbekleidung- und Schnittblumenindustrie in Lateinamerika. Fazit seiner Analyse ist, das die gängige Interpretation der Exportindustrien als Form der ‚Ausbeutung und Sklavenarbeit' und nicht als ‚freie Lohnarbeit' lediglich Stereotype bedient, die nicht übereinstimmt mit den Alltagserfahrungen und Selbstwahrnehmungen der in den Südnetzwerken organisierten Menschen. In der Akzeptanz dieser Inkompatibilität von Nordkampagnen und Südnetzwerken liegt das eigentliche Potential, so Köpke, nämlich die Kampagnenlogik des alten Stils zu begraben.

Gottfried Qy: Die Nutzung neuer Medien durch internationale Protestnetzwerke, FJNSB 1/02, S. 68-79

Die Nutzung der technischen Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehört inzwischen zum Alltag politischer Gruppierungen, so auch zu dem der Globalisierungskritiker. Wie sieht es allerdings mit der dazugehörigen Medientheorie aus? Wird immer noch das Konzept der Gegenöffentlichkeit aus den 1970er Jahren vertreten? Existiert immer noch der Glaube an die Verbreitung der unterdrückten Information, die in einer Art Kettenreaktion die Gesellschaft verändert? Gottfried Oy versucht in seinem Beitrag nachzuvollziehen, ob die faktische Rückbesinnung auf medientheoretische Überlegungen der studentischen Protestbewegung vor über 30 Jahren angesichts der neuen bidirektionalen Kommunikationskanäle Sinn macht.