Autor(en):        Küchli, Christian; Stuber, Martin 
Titel:  Wald und gesellschaftlicher Wandel. Erfahrungen aus den Schweizer Alpen und aus
                             Bergregionen in den Ländern des Südens 
Ort:                       Bern 
Verlag:            DEZA. Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit 
Jahr:                  2001 
ISBN:            keine ISBN 
Umfang/Preis:     1 CD-ROM; kostenlos (bei BUWAL, DIV-7020-D, CH-3003 Bern)
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von: 
Martin Knoll, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Regensburg  
E-Mail: martin.knoll@geschichte.uni-regensburg.de 
 Wald macht Geschichte. Seiner Bedeutung für menschliche Gesellschaften
                                        eingedenk, kann weniger die aktuelle Hochkonjunktur der wissenschaftlichen
                                        Aufarbeitung historischer Waldnutzung und Waldentwicklung verwundern als ihr -
                                        jenseits der "klassischen" Forstgeschichte - relativ spätes Einsetzen. Mit der
                                        CD-ROM "Wald und gesellschaftlicher Wandel - Erfahrungen aus den Schweizer
                                        Alpen und aus Bergregionen in Ländern des Südens" haben Christian Küchli und
                                        Martin Stuber ein allgemeinverständliches und ansprechend gestaltetes
                                        Multimediaangebot vorgelegt, das in einer breiten umweltgeschichtlichen
                                        Perspektive und für die vergangenen rund 200 Jahre die Entwicklung von
                                        Waldeigentum, Waldnutzung, Waldregie und Waldzustand in der Bergregion des
                                        Berner Oberlandes in den Blick nimmt. Stets werden dabei wald- und
                 forstgeschichtliche Prozesse unter Einbeziehung rechtlich-politischer, sozioökonomischer, und ökologischer
                 Rahmenbedingungen (demographische Entwicklung, energetischer Wandel, Agrarmodernisierung, technische und
                 touristische Erschliessung etc.) dargestellt und diskutiert. Den historischen Schweizer Befund setzen die Autoren
                 in Beziehung zu Gegenwartsprozessen in Bergregionen von Entwicklungsländern. 
 
                 Einer in die Thematik einführenden Startsequenz folgt ein viergliedriger Darstellungsteil. Entlang einer nach
                 Schlüsselenergieträgern periodisierten Zeitleiste (solare Periode, fossile Periode - zunächst Kohle-, dann
                 Erdölnutzung - und zuletzt eine, optimistisch ab 2000 angesetzte Periode der erneuerbaren Energieträger) geleitet,
                 gelangt der Benutzer zunächst in das Kapitel "Bergwälder - Umfeld und Wandel". In gesprochenem Wort und reich
                 illustriert wird hier ein Überblick über die Waldentwicklung des Berner Oberlandes und deren Rahmenbedingungen
                 zwischen ca. 1800 und der Gegenwart gegeben. Den Ausgangspunkt der Zeitreise bildet die krisenhaft zugespitzte
                 Situation des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Bergwald fungiert nicht nur als Lieferant der vormodernen
                 Zentralressource Holz und schützt vor Lawinen und Erosion, sondern wird als integraler Faktor der traditionalen
                 Landwirtschaft und Subsistenzökonomie vielfältig ge- und übernutzt. Die Eigentums- und Nutzungsansprüche
                 dreier Parteien, der wachsenden ländlichen Unterschichten, der ländlichen Eliten und der Stadt Bern mit ihrem
                 urbanen Holzhunger [1] und ihrem zunehmend umstrittenen Anspruch auf das Obereigentum am Wald im Berner
                 Oberland, treffen aufeinander. Interlaken, der spätere Fremdenverkehrsort, bildet den lokalen Fokus der
                 Darstellung; hier wurde im Jahre 1806 der frühliberale Forstfachmann Karl Kasthofer (1777-1853) von der Berner
                 Obrigkeit als erster Oberförster des Berner Oberlandes installiert. Die Amtsführung des nachmaligen Berner
                 Kantonsförsters, seine forstpolitischen Projekte und seine Publizistik geben der entwicklungsgeschichtlichen
                 Skizze ein immer wieder aufgenommenes biographisches Grundmotiv. Die Deregulierung der Waldnutzung und die
                 Neuordnung des Waldeigentums nach 1830 bringt zunächst weder die erhoffte gleichmässige gesellschaftliche
                 Aufteilung der Nutzungsrechte noch eine Verbesserung des Waldzustandes. Vielmehr ziehen die ländlichen Eliten
                 einen erheblichen Teil des Waldeigentums an sich. Die Unterschichten verlieren mit ihren traditionellen Rechten
                 einen Teil ihrer Existenzsicherung: Not, sozialer Protest und Emigration sind die Folge. Das geldwerte Marktgut
                 Holz wird Exportartikel; Kahlschläge statt einzelstammweiser Nutzung reduzieren die Waldflächen. Die neuen
                 Eigentumsverhältnisse entbehren einer domestizierenden modernisierten Forstgesetzgebung. Naturkatastrophen
                 (Schlammlawinen, Überschwemmungen) rücken freilich ökologische Zusammenhänge zwischen Waldmanagement
                 und Wasserhaushalt in die von den jungen Forstvereinen beeinflusste öffentliche Diskussion. Ab den späten
                 1850er Jahren erschliesst das Eisenbahnnetz auch den Kanton Bern. Kohle wird zum konkurrenzfähigen
                 Brennholzsubstitut. Wiederaufforstung und Naturverjüngung bringen wachsende Waldflächen. Prozesse wie in
                 anderen europäischen Regionen prägen die weitere Entwicklung: Industrialisierung, Agrarmodernisierung,
                 Verstädterung. Waldentwicklung bleibt - das zeigen die Knappheitssituationen des ersten und zweiten Weltkrieges
                 - abhängig von Holzmarkt-Konjunkturen. Die Durchsetzung des Energieträgers und Rohstoffes Erdöl ab den 1950er
                 Jahren entlastet die Wälder zwar weiter vom Nutzungsdruck und schafft Raum für naturnahe
                 Bewirtschaftungsformen; die Rentabilität der Holzproduktion nimmt freilich sukzessive ab. Insgesamt verfolgt die
                 Gesellschaft einen nicht nachhaltigen Stil des Lebens und Wirtschaftens, der wiederum negativ auch auf die
                 Waldentwicklung zurückschlägt (Abfallproblematik, Luftverschmutzung). In den touristisch ausgerichteten
                 Bergregionen der Schweiz sieht sich der Wald mit neuen Belastungen, aber auch mit neuen Anforderungen - v.  a.
                 an seine Schutz- und Erholungsfunktion - konfrontiert. 
 
                 In der zweiten, über Bildquellen und Texttafeln kommunizierten Sequenz "Waldwirtschaft im Alpenraum - Schritt
                 für Schritt" nehmen Küchli und Stuber die Darstellung der ersten auf, möchten die historische Entwicklung nun
                 aber stärker aus der Perspektive der Beteiligten erschliessen. Mitunter entsteht hier jedoch weniger der Eindruck
                 eines Perspektivenwechsels als der der Wiederholung. Der dritte inhaltliche Schwerpunkt besteht aus den 51
                 vertiefenden Kapiteln zu einzelnen Problemfeldern, die vom Index, dem zentralen Gestaltungs- und
                 Navigationselement der CD-ROM aus angewählt werden können. In grosser Bandbreite werden hier relevante
                 Fragen der historischen Demographie, der Agrar-, Forst- und Technikgeschichte im Darstellungskontext lexikalisch
                 aufbereitet. Von einigen dieser Kapitel aus ermöglichen "Flashes" die Betrachtung von Prozessen und
                 Problemfeldern in Bergregionen von Entwicklungsländern der Gegenwart (Schwerpunkt: Nepal), die die Autoren in
                 Analogie zum historischen Schweizer Befund setzen. An konzeptionellem Gewicht und inhaltlichem Ertrag bleiben
                 diese Kontrapunkte relativ blass. Im Falle des Kapitels "Holz bekommt Geldwert" erschöpft sich der "Flash" gar
                 auf Ansichten grosser Holzlager, die lapidar mit dem Satz "Ganz offenbar waren gestern die Alpen, was heute die
                 Tropen und Subtropen sind" unterlegt werden. Erst im vierten Abschnitt "Folgerungen", einer abschliessenden
                 Synopse von Darstellung und Argumentation der CD-ROM, erhält der Benutzer eine in sich schlüssige Darstellung
                 und Diskussion der Phänomene des "Südens" geboten. Im Unterkapitel "Geschichte des Nordens - Zukunft des
                 "Südens" diskutieren Küchli und Stuber die nepalesische Waldentwicklung des 20. Jahrhunderts und loten
                 Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs zum Schweizer Befund aus. Sie betonen dabei, dass es nicht um die
                 Konstruktion einer Vorbildfunktion der Verhältnisse im "Norden" für den "Süden" gehe. Zu negativ schlage hier der
                 nicht nachhaltige Umgang der entwickelten Nationen mit Ressourcen zu Buche. Das Anliegen der Autoren liegt
                 vielmehr darin, aus dem Vergleich mögliche Entwicklungspotentiale für beide Räume zu schöpfen. Die Publikation,
                 die von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und dem Schweizer Bundesamt für Umwelt,
                 Wald und Landschaft herausgegeben wird, versteht sich als Plädoyer für die Errichtung einer "universellen Kultur
                 der Nachhaltigkeit". 
 
                 Die CD-ROM kommuniziert Ergebnisse der historischen Waldentwicklungsforschung einem breiten
                 Rezipientenkreis jenseits fachwissenschaftlicher Spezialisten. Küchli und Stuber können sich dabei nicht nur auf
                 eigene Arbeiten stützen [2], sondern auch auf eine gerade in der Schweiz gut entwickelte forst- wie
                 umweltgeschichtliche Forschungslandschaft. Die Umwelt- und Agrargeschichte des Kantons Bern und allgemein
                 die Umweltgeschichte des Erdölzeitalters sind durch die Arbeiten Christian Pfisters, der auch als
                 wissenschaftlicher Berater des Projekts auftritt, hervorragend erschlossen. [3] Die international vergleichende
                 Untersuchung der Waldnutzung in Gebirgsregionen wurde bereits vor anderthalb Jahrzehnten von der Schweizer
                 Forstgeschichte mit geprägt. [4] Unlängst erschienen in der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen Analysen
                 zu historischen Waldnutzungen und zur Entwicklung der Schweizer Forst- und Umweltpolitik vor dem Hintergrund
                 der Naturkatastrophen des 19. Jahrhunderts. [5] 
 
                 Die mediale Präsentation zeichnet sich durch eine unkomplizierte Benutzerführung und ein akustisch und optisch
                 ansprechendes Design aus. Das CD-Cover kennzeichnet das Medium als unter Windows und Mac einsetzbar,
                 nennt darüber hinaus aber keine Systemvoraussetzungen. Auf dem bejahrten Notebook des Rezensenten
                 (Pentium 233 Mhz, 80 MB RAM, Win 95) lief das Programm problemlos. Die in Ton und Schrift präsentierten Texte
                 können - erweitert um einen wissenschaftlichen Apparat und zusammen mit Literaturverzeichnis und
                 Abbildungsnachweis - auch als pdf-Dateien eingesehen und ausgedruckt werden. Im Darstellungsteil selbst sind
                 nur die Bilddokumente aus den Gegenwartsbergregionen Nepals, Indiens etc. lokal und chronologisch durch kurze
                 Legenden erschlossen, die zahlreichen Bildquellen zum Schweizer Teil leider nicht. Der umständliche Umweg über
                 den Abbildungsnachweis schmerzt umso mehr, als namentlich die photografischen Dokumente aus dem späten
                 19. und frühen 20. Jahrhundert die Publikation zu einer alltagsgeschichtlichen Fundgrube machen. Daneben hätte
                 die Aufnahme von Ausschnitten zentraler Quellentexte (Berner Forstordnung von 1786, Kantonsverfassung von
                 1831, Schweizer Forstgesetz von 1876, Kasthofer-Publizistik etc.) in den pdf-Anhang das didaktische Potenzial
                 der Präsentation erweitert. Dies und wenige andere Monita (Layoutanpassung einiger importierter
                 Silbentrennungen, fehlende Paginierung des umfangreichen pdf-Skripts) vermögen den positiven Gesamteindruck
                 von der elektronischen Publikation, die auch als englische und französische Version vorliegt, nicht zu relativieren. 
 
 
Anmerkungen:  
                 [1] Zum Spannungsfeld zwischen städtischer Holzversorgung und regionalem Waldmanagement im 18. und 19.
                 Jahrhundert vgl. jüngst: Wolfram Siemann / Nils Freytag / Wolfgang Piereth (Hrsg.), Städtische Holzversorgung.
                 Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich 1750-1850 (ZBLG Beihefte, Reihe B,
                 Bd. 22), München 2002.  
                 [2] Vgl. Christian Küchli, Die forstliche Vergangenheit in den Schweizer Bergen. Erinnerungen an die aktuelle
                 Situation in den Ländern des Südens, in: Schweizerische Zeitschrift für das Forstwesen 145 (1994), Heft 8, S.
                 647-667; Martin Stuber, "Wir halten eine fette Mahlzeit, denn mit dem Ei verzehren wir die Henne". Konzepte
                 nachhaltiger Waldnutzung im Kanton Bern 1750-1880 (Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen Beihefte Bd. 82),
                 Zürich 1997.  
                 [3] Vgl. u. a. Christian Pfister, Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern
                 1700-1914 (Geschichte des Kantons Bern seit 1798 Bd. 4), Bern u. a. 1995; ders. (Hrsg.), Das 1950er Syndrom.
                 Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern u. a. 1995.  
                 [4] Vgl. Anton Schuler (Hrsg.), Geschichte der Waldnutzung und der Forstwirtschaft in gebirgigen Regionen.
                 Symposium an der ETH Zürich 3.-7. September 1984 (Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen Beihefte Bd. 74),
                 Zürich 1984.  
                 [5] Vgl. Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 152 (2001), Heft 12.
 
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: 
                 Markus Sehlmeyer (Markus.Sehlmeyer@philfak.uni-rostock.de) 
Zitation:          http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/digital-2003-1-064
 
 
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