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Die Konzeption George Herbert Meads und ihre Implikationen für eine Sprachtheorie

ROBERT HAGEN


Inhalt

1. Einleitung
2. Sozialer Behaviorismus
3. Pragmatismus
4. Das Konzept der Haltung
5. Das Konzept der Geste
6. Das Konzept der signifikanten Geste und der Mechanismus der Einstellungsübernahme
7. Von der Geste zur Sprache
8. Selbstbewußtsein und der/die »generalisierte Andere«
9. Einschätzung der Meadschen Theorie für eine Sprachtheorie
10. Alternative Theorie des Spracherwerbs
11. Ausblick und abschließende Überlegungen
Literatur
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1. Einleitung

Meads methodischer Ansatz und seine Entwicklung eines Modells des menschlichen Selbstbewußtseins, der menschlichen kognitiven Fähigkeiten und der Strukturen der Gesellschaft, die er Sozialpsychologie nennt, werden im Feld der zeitgenössischen Philosophie mit wenigen Ausnahmen (darunter Habermas1 und Tugendhat2) meines Wissens kaum bis gar nicht rezipiert, womöglich weil man ihn schlicht als Soziologen einordnet und damit allenfalls im Rahmen eines interdisziplinären Programms einer Untersuchung wert erscheint. Indes wird bei einer näheren Auseinandersetzung mit Meads Gedanken, wie sie uns nebst seinen einzelnen Aufsätzen in Form des posthum aus Vorlesungsmitschriften zusammengestellten Hauptwerks »Mind, Self and Society«3 zugänglich sind, schnell deutlich, daß Meads Theorie einen eigenständigen, wenngleich in einigen Punkten sicher der Weiterentwicklung bedürftigen und somit nicht endgültigen Ansatz einer Philosophie des Geistes sowie Grundzüge einer originären Sprachphilosophie beinhaltet, die sich zugleich als eine entschiedene Kritik an überkommenen Modellen des Selbstbewußtseins und Vorstellungen der Natur von Sprache verstehen läßt. Hinzu kommt, daß sich mehrere Argumente aktueller philosophischer Kontroversen bereits bei Mead aufzeigen lassen, insbesondere was die Ablehnung eines gegebenen Selbstbewußtseins und einer privilegiert (durch Introspektion) zugänglichen psychischen Innenwelt betrifft4 und was Versuche der Widerlegung einer Vorstellung von Sprache anbelangt, welche etwa Sprache als direkten Ausdruck von vorgängig gegebenen Ideen versteht5 oder als autonomes System von referierenden Ausdrücken6 und dabei eine Sichtweise eines methodologischen Individualismus einnimmt7. Im Gegensatz zu Meads Überlegungen sind es eher Weiterentwicklungen und Abwandlungen des Wittgensteinschen Privatsprachenarguments, die in die zeitgenössische Sprachphilosophie Eingang gefunden haben8.

Ich möchte im folgenden zunächst Meads umfassende Konzeption in seinen wichtigsten Grundzügen und seinen zentralen Begriffen nachzeichnen und dabei mein Augenmerk insbesondere auf die Rolle von Sprache bzw. »symbolischer Interaktion«9 richten, wie sie sich in seiner Theorie darstellt. Nachdem sich zeigen wird, daß Mead in seiner teils phylogenetisch teils ontogenetisch10 ausgerichteten Analyse nur bis zu einer vorläufigen Form von Sprache vorstößt, die offenbar noch nicht die Merkmale einer Sprache in vollem Sinne aufweist, insbesondere keine Syntax und Kompositionalität, versuche ich herauszufinden, welche Konsequenzen sich dennoch grundsätzlich für sprachtheoretische Überlegungen ergeben und führe danach skizzenhaft aus, wie sich das Meadsche Programm auf eine ausdiffenzierte und artikulierte Sprache ausdehnen ließe.11

2. Sozialer Behaviorismus

Mead bezeichnet seine Rahmenkonzeption als Sozialpsychologie und als Sozialbehaviorismus. Der Terminus »Behaviorismus« ist hierbei allerdings sehr irreführend, da zu Meads Zeit dieser Begriff noch nicht für die Methodologie und Theorie stand, für die er heute verwendet wird. Ganz im Gegenteil ist es Mead gerade daran gelegen, sich gerade gegen jenes Programm zu wenden, welches später u.a. von Skinner und von Quine verfolgt wurde und sich durch die Reduktion von menschlichem Verhalten und Intelligenz auf äußerlich beobachtbare Reize und Reaktionen auszeichnet. In seiner Extremform, wenn der Theoriebildung nicht nur an Erklärungsversuchen gelegen ist sondern auch an der zugehörigen Ontologie, wird das reduktionistische Programm zu einer Variante von Eliminativismus, der die Existenz von mentalen und psychischen Phänomenen als Täuschung abstreitet. Der prominenteste Vertreter dessen, was wir heute Behaviorismus nennen, war zu Meads Zeit Watson, dem entsprechend wendet sich Meads vehemente Kritik gegen die Methode des »Watsonismus«. Mead zufolge ist es aussichtslos, menschliches Verhalten und Intelligenz durch die bloßen begrifflichen Instrumente von Reiz, Reaktion, Reflex und Konditionierung adäquat erklären zu wollen. Meads Ablehnung des Watsonismus-Behaviorismus stützt sich dabei auf zwei Argumente. Erstens zieht Mead anthropologische Arbeiten heran, die die menschliche Fähigkeit zur Reaktionshemmung oder -verzögerung herausstreichen, was im Widerspruch zu einer einfachen Reiz-Reaktionsverknüpfung steht. Darüber hinaus versucht Gehlen zu belegen, daß die menschlichen Instinktmechanismen im ganzen extrem reduziert und weniger starr als bei Tieren sind. Zweitens ist die watsonistische / behavioristische Methode nicht in der Lage, die Dimension des Gesellschaftlichen oder Sozialen zu berücksichtigen, auf die wiederum Mead größten Wert legt.

3. Pragmatismus

Mead steht in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus12, deren wichtigsten Vertreter mit James, Peirce und Dewey zu benennen sind, von denen er sich in einzelnen Punkten freilich kritisch absetzt. Es sind hauptsächlich zwei Aspekte, die er mit dieser philosophischen Strömung teilt.

a) die Betonung der Bedeutung des Praktischen und des gesellschaftlichen Handelns für ein adäquates Verständnis des Menschen und seiner spezifischen Umwelt.13

b) Mead ist nicht an der Begründung einer Metaphysik oder Ontologie gelegen. Er ist nicht mit dem Problem des Verhältnisses von Geist oder Seele und Körper oder vom Mentalen und dem Gehirn beschäftigt, sondern scheint eine Art »methodologischen Monismus« zu vertreten. Das heißt, er nimmt an, daß es keinen ontologischen Unterschied z.B. zwischen neuronalen Zuständen und Gefühlen oder Intentionen gibt, sondern nur Unterschiede in der Beschreibung. Zugleich verteidigt er diese Position nicht philosophisch, sondern behandelt sie lediglich als methodologische Minimalannahme.14

4. Das Konzept der Haltung

Mead lehnt insbesondere die Vorstellung eines von Anfang an gegebenen (oder sich von alleine herausbildenden oder reifenden) Selbstbewußtseins im Sinne einer manifesten Vorstellung der eigenen Person als einem zeitüberdauernden »Objekt« mit Meinungen, Wünschen und Hoffnungen sowie komplexeren Eigenschaften wie Charakterzüge und anderes ab. Da es gerade sein Projekt ist, die (ontogenetische / phylogenetische)15 Herausbildung eines Selbstbewußtseins im Zuge der sozialen Interaktion als dessen essentielle Grundvoraussetzung zu rekonstruieren (und gleichzeitig und damit verbunden die Entstehung eines Personenschemas, das heißt dem Anerkennen anderer Subjekte als mit einer ebensolchen selbstbewußten Struktur ausgestattet, welche er mit dem Begriff der »sozialen Objekte« bezeichnet), kann er logischerweise die cartesianische Methode der Introspektion als eine zuverlässige, der Sinneswahrnehmung analogen »Wahrnehmung« mentaler Zustände und die Vorstellung des Selbstbewußtseins als der Summe dieser Wahrnehmungen nicht akzeptieren, da sie bereits eine fertige Form von Selbstbewußtsein voraussetzen.

In der theoretischen Situation einer scheinbar unversöhnlichen Alternative, die sich für Mead hier ergibt, zwischen dem Zugang zu dem Gebiet des Psychischen oder Mentalen über Formen von Introspektion, die er wie gesagt ablehnt, und anderseits der Annäherung über pures äußerliches Verhalten oder von Verhaltensdispositionen im Sinne einer stochastischen Verhaltenswahrscheinlichkeit vollzieht Mead einen entscheidenden strategischen Schritt, indem er das Konzept der Haltung oder Einstellung (»attitude«) einführt, mit dessen Hilfe er aus einer im Prinzip externen Perspektive zugleich den Bereich des Inneren oder Psychischen einholen will. Dadurch gelingt es ihm, einen Begriff von Verhalten (»behavior«) zu bilden, welcher nicht mehr genausogut auch auf physikalische Gegenstände anwendbar wäre, sondern ein Begriff von einer elementaren Art von Handlung ist.

Mead führt das Konzept der Haltung zunächst ein als den Beginn oder die Anfangsphase einer Handlung (»beginning of an act«). Das Konzept der Haltung weist einerseits einen dynamischen Aspekt auf und reicht andererseits in die Sphäre des Mentalen oder Psychischen hinein.

Wenngleich uns Haltungen im Sinne von Körperhaltungen in einer Weise gegeben sind, die abstrakt auch eine Beschreibung in einer statischen oder stationären Beschreibung als eine Momentaufnahme zulassen, sind uns solche Haltungen in der Praxis immer als Verhaltenskomponenten gegeben, die über sich selbst hinausweisen. Eine bestimmte Haltung als Beginn einer Handlung ist immer Teil einer umfassenderen, in mehreren Sequenzen verlaufenden Handlung mit einem bestimmten Ziel und die späteren Phasen der Handlung und ihre beabsichtigte Vollendung sind bereits während des Anfangs der Handlung präsent. Sie sind in dem Maße Teil der Haltung, als in einer Antizipierung der späteren Phasen die früheren kontrolliert und beeinflußt werden. Mead illustriert diese auf dieser Rekonstruktionsstufe noch einfache Struktur der Haltung oder Einstellung an dem Beispiel einer Person, die sich einem schweren Hammer nähert. Der Vorgriff auf das Ergreifen des Hammers und das Wissen oder die Erwartung seiner Beschaffenheit und seines Gewichts sowie das weitere Vorhaben, was sie mit diesem Werkzeug weiter anstellen will (etwa einen Nagel einschlagen oder hingegen ihn wegzuschleudern...) determiniert gleichsam aus einer zukünftigen Perspektive zurückwirkend die Art und Weise, wie sie sich bewegt, wohin sie blickt und wie ihre rechte Hand angespannt ist.

In der fortschreitenden Komplexität in Meads Rekonstruktion der Entstehung des Selbstbewußtseins, in der der Mechanismus des Einnehmens von Haltungen anderer eine zentrale Rolle spielt, wird auch die Struktur und das Muster der Haltungen zunehmend komplexer und füllt sich mit einem erweiterten Inhalt: es werden Erwartungshaltungen und Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Werten und Normen möglich.

5. Das Konzept der Geste

Mead zeichnet eine Evolution bzw. Entwicklung nach, an dessen Endpunkt einerseits menschliche Individuen mit voll entwickeltem Selbstbewußtsein und einer differenzierten Persönlichkeitsstruktur und andererseits eine komplexe gesellschaftliche Organisationsform stehen, wobei beide sich wechselseitig voraussetzen und bedingen. Sowohl das Selbstbewußtsein als auch die Emergenz einer objektiven Gesellschaftsstruktur sind dabei maßgeblich über die Kommunikation mittels einer Sprache - oder wie es später durch die Schule des Symbolischen Interaktionismus genannt wurde - über symbolische Interaktion - vermittelt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer phylogenetischen oder evolutionstheoretischen Perspektive und einer ontogenetischen oder entwicklungspsychologischen ist dabei, daß in letzterer die Subjekte bzw. Säuglinge und Kleinkinder eine komplexe soziale Umwelt inklusive einer Sprache bereits fertig vorfinden, so daß in dieser Anwendung Meads Konzeption im Ergebnis einen detaillierten Entwurf einer Sozialisationstheorie bildet. Den Ausgangspunkt in seiner Entwicklungstheorie nimmt Mead - zunächst in offenkundig phylogenetischer Perspektive - bei einfachen Formen von Sozialverhalten, wie sie sich im Tierreich beobachten lassen: sein immer wieder angeführtes Beispiel ist das Verhalten von kämpfenden Hunden. In entwicklungspsychologischer Perspektive sind für seine Theorie einer stufenweise sich vollziehenden Herausbildung sozialer Kognition und psychologischer Kompetenz (auch im Sinne eines Selbstbewußtseins) vor allem seine Ausführungen zur Struktur und Bedeutung von kindlichem Spiel zentral, wo er zwischen zwei Komplexitätsstufen von Spiel unterscheidet, die er »play« und »game« nennt.16

Die Herausbildung eines Selbstbewußtseins und gleichzeitig und komplementär dazu einer gesellschaftlichen Welt erfolgt in Meads Rekonstruktion in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten, die ihren Ausgangspunkt zunächst in dem grundlegenden Konzept der Haltungen finden, wo diese eine Rolle in der wechselseitigen Anpassung und Koordination des Verhaltens mehrerer Mitglieder einer Gruppe spielen.

Wenn Haltungen wie beschrieben eine Innen- und eine Außenseite besitzen - in der internen oder subjektiven Perspektive entsprechen sie den Einstellungen und Handlungsabsichten, in der äußeren oder objektiven den Anfangsphasen von Handlungen - so kann, in einem Fall von zwei Interaktionsteilnehmern, der Beginn der Handlung des ersten Individuums A vom zweiten Individuum B als Handlungsintention »erkannt« werden, so daß es sein Verhalten darauf einstellt. Die Verhaltensänderung oder die Haltung von B ermöglicht wiederum eine Verhaltenskorrektur von A, und so weiter. Mead beschreibt diese wechselseitigen Anpassungen in der Terminologie von Reiz und Reaktion. Der Beginn der Handlung von A stellt für B einen spezifischen Reiz dar, auf den es in einer bestimmten Weise reagiert, wobei diese Reaktion wiederum für A einen Reiz bildet, durch eine geeignete Verhaltensänderung zu reagieren. Solche Haltungen, die in ihren Handlungsbeginnen die zu erwartende folgende Handlung erkennen lassen, nennt Mead Gesten oder Gebärden. Wenn Reaktionen auf Gebärden ihrerseits als Gesten fungieren und eine wechselseitige Verhaltensanpassung zulassen, kommt es zu einem Austausch von Gesten (»conversation of gestures«). Auf dieser Entwicklungsstufe ist noch kein reflexives Bewußtsein vorausgesetzt, die Interaktionspartner setzen ihre jeweiligen Gesten nicht bewußt ein, sondern reagieren lediglich auf die Gesten des anderen.

6. Das Konzept der signifikanten Geste und der Mechanismus der Einstellungsübernahme

Eine neue Qualität der Entwicklung stellt sich ein, wenn eine Geste eines Individuums A, welche an ein Individuum B gerichtet ist, in A selbst die gleiche bzw. eine ähnliche Reaktion wie in B als eine unterschwellige Handlungstendenz auslöst. Damit tritt die »Bedeutung« der Geste, die bei B intendierte Reaktion, in die Sphäre des reflexiven Bewußtseins (von A). Die Geste ist in dieser Entwicklungsstufe zu einer »signifikanten Geste« (»significant gesture«) geworden, d.h. zu einer Geste im gewöhnlichen Sinne des Wortes: das Verhalten des ersten Interaktionspartners A - etwa das Ballen der Faust - ist nun nicht mehr nur »zufällig« ein Anzeichen für die drohende Aggressionshandlung von A, sondern ein von A absichtlich eingesetztes Signal, welches B einschüchtern soll, ohne daß der zugehörige Rest der Handlung sich unmittelbar anschließen muß. Durch die Möglichkeit bei B, durch Einsatz einer signifikanten Geste seinerseits zu »antworten«, entsteht ein Austausch von signifikanten Gesten, d.h. einer frühen Form von Kommunikation.

Damit diese Form von Kommunikation funktionieren kann, ist eine entscheidende Fähigkeit erforderlich: Das handelnde Subjekt muß gleichzeitig zusätzlich zu seiner eigenen Einstellung (gegenüber B) die erwartete Einstellung/Haltung des Gegenübers zu sich selbst (zu A) einnehmen können. Erst dadurch tritt die konkrete Handlung gegenüber dem Interaktionspartner in das eigene reflexive Bewußtsein und wird aus der Perspektive des anderen »wahrgenommen«.

When, in any given social act or situation, one individual indicates by a gesture to another individual what this other individual is to do, the first individual is conscious of the meaning of his own gesture - or the meaning of his gesture appears in his own experience - in so far as he takes the attitude of the second individual toward that gesture, and tends to respond to it implicitly in the same way that the second individual responds to it explicitly. Gestures become significant symbols when they implicitly arouse in an individual making them the same responses which they explicitly arouse, or are supposed to arouse, in other individuals, the individuals to whom they are addressed. (Mead 1934: S. 47)

(In phylogenetischer Perspektive ermöglicht die Fähigkeit, die Haltung des anderen einzunehmen, eine Rückbildung von Instinktmechanismen, da ein bestimmter Reiz nicht mehr geradeaus durch eine vorprogrammierte Reaktion beantwortet wird, sondern als signifikantes Symbol aus der Perspektive des anderen interpretiert werden kann. Diese Aussage gilt allerdings auch in der umgekehrten Richtung: die Fähigkeit zur Einnahme der Haltung des anderen wird durch die Rückbildung von Instinktmechanismen ermöglicht.)

In einer entwicklungspsychologischen Perspektive würde die frühe Kindheitsentwicklung sich wie folgt darstellen - wie es übrigens auch empirisch bestätigt werden konnte (vgl. Clark 1978): Zunächst greift ein Kleinkind nach einem Gegenstand, den es haben will, der sich aber außer Reichweite befindet. In vielen Fällen werden die Eltern dem Kind das ersehnte Spielzeug reichen. Nachdem das Kind die Reaktion der Eltern auf seine eigene, zunächst nicht-signifikante Geste (des Hand-Ausstreckens) bezieht, setzt es den »Beginn der Handlung« gegenüber den Bezugspersonen als signifikante Geste oder Symbol ein: es hebt seine nach oben geöffnete Handinnenfläche.

Zwischenbilanz

Es ist festzuhalten, daß der Übergang von der nicht-signifikanten Geste zur signifikanten Geste mit der Fähigkeit der Interaktionspartner untrennbar verbunden ist, wechselseitig die Haltung des anderen (gegenüber sich selbst und gegenüber Objekten der Umwelt) einzunehmen. In diesem Entwicklungsstadium hat sich aufgrund der Struktur der wechselseitigen Perspektiven- oder (nicht-komplexen) Rolleneinnahme eine fragmentierte, auf konkrete Interaktionen bezogene Form von reflexivem Bewußtsein herausgebildet.

Zweifache Einstellungsübernahme

Wenn sich Meads Analyse der Struktur der Konversation mittels signifikanter Gesten in dieser Weise wiedergeben läßt, ist an dieser Stelle nach meinem Dafürhalten die Einführung eines weiteren Zwischenschrittes (Schritt (3)) in der Rekonstruktion der ontogenetischen Entwicklung im Geiste von Meads Konzeption erforderlich:

(Aus Übersichtlichkeitsgründen bleibe ich bei der vereinfachten Darstellung, in der nur die Interaktionsteilnehmer A und B vorkommen.)

Ausgangspunkt war zunächst der Austausch nicht-signifikanter Gesten:

(1) A richtet eine non-signifikante Geste an B - B reagiert und »antwortet« dadurch seinerseits durch eine (andere) non-signifikante Geste (die Gesten sind weder bei A noch bei B Gegenstand des reflexiven Bewußtseins bzw., in Meads Worten, sie treten nicht in die reflexive Erfahrung ein).

Daraus gingen signifikante Gesten hervor, und zwar in dieser Rekonstruktionsstufe zunächst solche, die für den Sender signifikant sind:

(2) A bezieht B's Reaktion auf die eigene Geste und beginnt, die Haltung von B einzunehmen und so die Geste als signifikante Geste an B zu adressieren - die Geste ist Gegenstand des reflexiven Bewußtseins von A, aus der Perspektive von B, indem er dessen Einstellung gegenüber sich selbst einnimmt.

Ein System signifikanter Gesten kann sich aber erst etablieren, wenn die betreffenden Gesten für jeweils beide Interaktionspartner die gleiche Bedeutung haben bzw. gleich interpretiert werden. Hierzu ist eine doppelte Einstellungsübernahme erforderlich17:

(3) Da B vormals die gleiche oder ähnliche Geste an Interaktionsteilnehmer mit einer spezifischen Bedeutung (intendierte Reaktion beim anderen) gerichtet hat, reagiert B nicht »automatisch« sondern interpretiert A's Geste als absichtsvoll eingesetztes Signal und reagiert in der erwünschten Weise oder nicht. Dabei nimmt B nicht nur die Haltung von A ein, sondern die (zweistufige) Haltung von A, wie letzterer seine eigene (B's) Haltung einnimmt. Die Geste ist erst dadurch für B eine verständliche Geste. Andererseits nimmt auch A nicht nur die (einfache) Einstellung von B gegenüber sich selbst (A) ein, sondern die (zweifache) Einstellung von B, wie er die Einstellung von A als bewußt Kommunizierendem einnimmt. Einfacher gesagt, wenn A eine Geste an B richtet, so geht er dabei davon aus, daß B diese als bewußte kommunikative Handlung mit einer bestimmten Absicht interpretiert. Es ist dabei also bei beiden Teilnehmern sowohl erforderlich, die Haltung des jeweiligen anderen einzunehmen, insbesondere auch die Haltung des anderen gegenüber sich selbst, als auch die Annahme, daß der jeweils andere seiner Handlung/Geste bewußt ist.18

Auf diesem Weg kann sich ein System einer Gestensprache entwickeln, das eine intersubjektive Realität ausmacht. Dabei war bislang stillschweigend vorausgesetzt, daß die betreffenden Gesten sich noch in einer starken Kontinuität zu Handlungen befinden. Zu konventionellen Gesten komme ich weiter unten.19

Meines Erachtens läßt sich die logische Struktur der Voraussetzungen, die in menschliche gestenvermittelte Kommunikation eingehen, und die auf den ersten Blick ob der Komplexität unübersichtlich erscheinen mag, anhand von alltäglichen Interaktionsmustern veranschaulichen. Dazu eignen sich besonders Handlungen, die konverse Rollen beinhalten, Rollen wie die des Kaufenden und des Verkaufenden oder die des Anbietenden und des Annehmenden. Ich kann die Rolle desjenigen, der einem anderen etwas anbietet, nur einnehmen, wenn zugleich die konverse Rolle des Annehmens in mir selbst anklingt, ohne realisiert zu werden. Anders gesagt, ich kann sie nur einnehmen, wenn die Einstellung des anderen gegenüber mir selbst als Handelndem als notwendiges Komplement meiner eigenen Einstellung in dieser Handlung sich innerhalb des Horizonts meines Bewußtseins befindet. Im Falle des Verlangens oder Bittens nach einem erwünschten Gegenstand, der im Besitz eines anderen oder nur einem anderen zugänglich ist, tritt dieser Unterschied auf als Unterschied zwischen instrumentellem Handeln, wo der andere sozusagen nur als Mittel zur Erreichung des Ziels (Erhalten des Gegenstands) betrachtet wird, und sozialem Handeln, in dem der andere als aus freien Stücken heraus meiner Bitte nachkommend repräsentiert wird.20

Über diese rein logische Analyse hinaus läßt sich im Sinne Meads ins Feld führen, daß diese Übereinstimmung von Reaktionen und das Einnehmen der Rolle des anderen nicht abstrakt und im leeren Raum stattfindet, sondern sich im Zuge einer zwischenmenschlichen Praxis entwickeln kann.

Wenngleich Mead selbst den Mechanismus der Einstellungsübernahmen nicht bis in die Details der mehrstufigen (oder iterierten) Einstellungsübernahme analysiert, setzt er andererseits die so sezierten Einzelschritte offenbar teils implizit doch voraus.21 Denn erklärtes Ziel ist ihm ja, den inneren unauflöslichen Zusammenhang der Entwicklung psychologischer Kategorien (»self«), der Herausbildung der gleichen Kategorien als fremdpsychische (»social objects«) als Personenschema und der dadurch gegeben Grundlage für eine gesellschaftliche Realität mit seinen Institutionen, Werten, Normen etc. aufzuzeigen. Gerade die These Meads, daß sich Selbstbewußtsein und soziale Kompetenz sich in ein und demselben Prozeß entwickeln, legt nahe, daß Mead eine Struktur wie die zuletzt aufgezeigte im Sinn hatte.22

How can an individual get outside himself (experientially) in such a way as to become an object to himself? This is the essential problem of selfhood or of self-consciousness; and its solution is to be found by referring to the process of social conduct or activity in which the given person or individual is implicated. The apparatus of reason would not be complete [...] unless the individual brought himself into the same experiential field as that of the other individual selves in relation to whom he acts in any given social situation. [...] The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular standpoints of other individual members of the same social group [...]. (Mead 1934: S.138)
[...] it is impossible to conceive of a self arising outside of social experience. (Mead 1934: S.140)

Konventionalisierung von Gesten - von der Geste zum Symbol

Komplizierter wird die Situation in dem Augenblick, als sich signifikante Gesten als Elemente einer in gewissem Maße eigenständigen intersubjektiven Realität zu verselbständigen beginnen und sich in ihrer Form von ihrer ursprünglichen Gestalt als Anfangsphasen von Handlungen entfernen. Mithin können sich die Gesten derart vom Status einer »natürlichen« Bedeutung (die sie aus dem erkennbaren Handlungsansatz beziehen) entfernen, daß sie zu konventionellen Zeichen werden. Dies trifft nicht erst im Falle einer (gesprochenen) Sprache zu, sondern gilt bereits für Gesten wie etwa Winken, Händeschütteln und selbst im Fall des Mit-dem-Finger-auf-etwas-zeigen. Diese Tatsache des (mehr oder weniger stark ausgeprägten) konventionellen Charakters einer Vielzahl menschlicher Gesten im allgemeinen und insbesondere der sprachlichen oder »vokalen« Gesten berücksichtigt Mead nicht zureichend.

Roger A. Clark (1978) konnte der Konzeption Meads folgend zeigen, wie Kleinkinder (und Eltern) tatsächlich die ersten Formen bewußt eingesetzter Gesten aus den Anfangsphasen von jeweiligen Handlungen heraus entwickeln. In dem Moment, wo eine solche Anfangsphase kommunikativ eingesetzt wird, erlangt diese Teilhandlung gegenüber der Gesamthandlung jedoch eine gewisse Autonomie, indem sie nicht mehr automatisch weiterläuft, sondern gleichsam auf halber Strecke abgebrochen und gleichzeitig stilisiert wird. Diesen Schritt von der natürlichen nicht-signifikanten zur bewußt eingesetzten beschreibt Clark wie folgt:

»Whereas before he reached for the objects proferred by the mother and his act was unitary and directed toward the object alone, now part of his secular action becomes isolated from the rest of the act, stylized, and directed toward the mother so that she will act upon it.« (S. 252)

Meines Erachtens läßt sich eine solche Stilisierung bereits als Vorform zu einer Konventionalisierung von Gesten begreifen, insofern als die stilisierte Form zwar noch eine natürliche Geste sein mag, aber bereits einen konventionellen Aspekt besitzt bzw. als Sprungbrett zu einer konventionalisierten Verwendung dieser oder anderer Gesten dienen kann. In diesem Sinne äußert sich auch Clark, wenn er die Einschätzung gibt:

»[...] that gesturally mediated communication is a necessary intermediate step in establishing communication through arbitrary sounds« (S. 254), wenn wir unterstellen, daß dies nicht nur für »arbiträre Laute« sondern auch allgemein für arbiträre (bzw. konventionelle) Gesten gilt.

7. Von der Geste zur Sprache

Voraussetzung dafür, daß Gesten als signifikante Gesten eingesetzt oder verwendet werden können, ist, daß die eigene Ausführung der Geste möglichst direkt wahrnehmbar ist. Neben dem Gestikulieren mit Händen und Armen ist dies in besonderer Weise bei der Äußerung von Lauten und Schreien der Fall. Die Selbstwahrnehmbarkeit ist hingegen bei Körperhaltungen in geringerem Maße gewährleistet, noch weniger trifft dies für die Mimik des Gesichts und der Augen (bzw. der unmittelbaren Umgebung der Augen, also Augenlider und Augenbrauen) zu. Für letztere Arten von Gesten ist also zu erwarten, daß sie in der Mehrzahl der Fälle gewöhnlich (außer etwa bei Schauspielern) im Bereich des un- oder unterbewußten Austausches von (nicht-signifikanten) Gesten bleiben werden.

Die vokalen Gesten (»vocal gestures«) oder Lautgebärden (ein Konzept, welches Mead von Wundt übernimmt und weiterentwickelt) weisen gegenüber den Gebärden mit »Händen und Füßen« jedoch ein hohes Potential hinsichtlich einer Ausdifferenzierung verschiedener Laute (oder Phoneme) auf, was die Herausbildung einer artikulierten Sprache prinzipiell begünstigt.

Das höchst spekulative Unternehmen, eine stammesgeschichtliche Entwicklung zu rekonstruieren, in der sich aus kaum differenzierten Lautäußerungen, die konkrete Handlungen eher nebenbei begleiten, etwa zornige Schreie und Brüllen, Freudenrufe etc., ein zunächst einfaches System von »Ein-Wort-Sätzen«23 herausbildet, nimmt Mead nicht wirklich in Angriff, vermutlich eben gerade ob des hochgradig spekulativen Charakters.

Mead geht es hier vielmehr darum, die prinzipielle Kontinuität von Gesten im allgemeinen zu diesem speziellen Typus von Gesten aufzuzeigen, die wir im Alltagsverständnis kaum als eine Art von Gesten ansehen: den Lautgebärden oder signifikanten - bedeutsamen - sprachlichen Äußerungen. In diesem Zusammenhang legt Mead besonderen Wert darauf, Sprache nicht als autonomes Medium aufzufassen, welches irgendwann womöglich ein einfallsreicher Tüftler ersonnen hat, in gleicher Weise wie man heutzutage allerlei Programmiersprachen ersinnt, sondern sie der den Gesten zugehörigen Analyse zu unterziehen: das heißt, jegliche sprachliche Äußerungen primär als Handlungen aufzufassen, die im Kontext einer Gruppe als signifikante Gesten eingesetzt werden, wodurch sich deren Mitglieder untereinander koordinieren und gegebenenfalls kooperieren.

Die Bedeutung sprachlicher Äußerungen im Sinne vokaler signifikanter Gesten ist nach diesem Ansatz konsequenterweise ebenfalls - wie bei signifikanten Geste im allgemeinen - die vom Sprecher beim Adressaten intendierte Reaktion, welche im Idealfall, bei gelungener Kommunikation, auch evoziert wird.

Erneut stellt sich wie oben das Problem, wie es dazu kommt, daß jeweils gleiche Gesten (also Laute oder Lautfolgen) bei verschiedenen Interakteuren die gleiche oder ähnliche Reaktion hervorrufen.

Grundsätzlich läßt sich die Analyse der zweistufigen Einstellungsübernahme ohne weiteres von der Kommunikation durch signifikante Gesten auf den Spezialfall sprachlicher Kommunikation übertragen. Demnach ist die Voraussetzung für eine glückende Kommunikation zwischen einem Sprecher A und einem Hörer B, daß A gleichzeitig die Rolle des Hörers einnimmt und B gleichzeitig die Rolle des Sprechers. Wenn A mit einer Äußerung B zu etwas auffordern will, so beabsichtigt A nicht nur, daß B eine bestimmte Handlung vollzieht, sondern daß er sie aufgrund des Verstehens seiner Absicht vollzieht. Wir erhalten so als Ergebnis ein Kommunikationsmodell, wie es exakt der handlungstheoretischen Bedeutungstheorie von H. Paul Grice entspricht:

»›S meinte mit x etwas‹ ist (in etwa) äquivalent mit ›S beabsichtigte, daß die Äußerung von x bei einem Hörer eine Wirkung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorruft‹ [...].« (Grice 1993: S. 11)

Über diese grundlegende Struktur hinaus bleibt dennoch das Problem bestehen, wie sich über natürliche Gesten hinaus solche mit konventioneller Bedeutung entwickeln können. Mead bietet in dieser Frage keine befriedigende Lösung an.

Bei den Gesten im allgemeinen hatte ich oben herausgestellt, daß die Geste, wenn sie zur signifikanten Geste wird, eine gewisse Autonomie gegenüber der Handlung gewinnt, deren Beginn sie ist. Wenn es richtig ist, daß Lautäußerungen auf der vorsignifikanten Stufe oftmals nur Begleiterscheinungen einer Handlung sind (Mead führt hier als Beispiel eine erhöhte Atemtätigkeit bei einer bevorstehenden Angriffshandlung an), dann kann der Autonomiegrad nur um so höher ausfallen, wenn eine Lautäußerung im hier verwendeten Sinn signifikant wird.

Was wir also für eine Theorie der phylogenetischen Entwicklung von zunächst einer Sprache benötigen würden, die aus »Ein-Wort-Äußerungen« mit Bedeutungen wie »Bleib mir vom Leibe!«, »Sei willkommen!« und anderes mehr umfaßt, wäre im Rahmen der umfassenden Meadschen Methode ein Mechanismus, der die Entstehung konventioneller Bedeutungen erklärt, oder genauer die Entstehung von Symbolen erklärt, die ihre Bedeutung (intendierte Reaktion beim anderen und tendenziell bei sich selbst ausgelöste Reaktion) kraft einer Konvention besitzen.

Ein vielversprechenderes Gebiet, auf das sich Meads Grundkonzeption anwenden läßt, liegt in der ontogenetischen Dimension, das heißt in der Theorie des kindlichen Spracherwerbs. (s.u.)

Wenn man in dieser Linie Antworten erhält, wie Kinder nach zunächst natürlichen Symbolen zunehmend auch solche mehr oder weniger stark konventionelle (also mehr oder weniger von dem »beginning of an act« entfernte) zu verwenden lernen, so bilden diese auch zumindest eine Teilantwort auf obige phylogenetische Frage: wie nämlich bereits entstandene und etablierte konventionelle Symbolsysteme von einer auf die nächste Generation tradiert und damit erhalten werden können.

Insgesamt sind Meads Ausführungen, soweit sie sich um das Phänomen der Sprache drehen, als eine entschiedene Zurückweisung vor allem zweier überkommener (und bis heute gängiger) Vorstellungen des Wesens von Sprache(n) zu verstehen:

(a) Sprache sei primär ein System von Aussagen/Propositionen, die typische Verwendungssituation sei dementsprechend, die Äußerung einer Meinung (im Sinne von belief).

(b) Sprache diene dem Ausdruck vorgängig präsenter Ideen. Für Mead stellt sich vielmehr umgekehrt Denken als ein verinnerlichter Dialog dar, den man gleichsam mit einem imaginären Dialogpartner führt, der eine konkrete Person, aber auch zunehmend abstrakt sein kann (im Sinne eines/einer generalisierten Anderen (s.u.)).24

Eine weitere, grundsätzliche Kritik an bestimmten Auffassungen von Sprache ergibt sich als direkte Konsequenz aus der von Mead grundsätzlich vertretenen »sozialpsychologischen« Methode - die Infragestellung eines gängigen Bildes hinsichtlich dessen, wie man sich den Erstspracherwerb zuweilen vorstellt:

(c) Wenn sich ein selbstbewußtes Subjekt allererst in sozialer Interaktion konstituiert und sich diese Interaktion wie dargestellt durch die Vermittlung durch Symbole (oder signifikante Gesten) auszeichnet, so leuchtet von selbst die Inadäquatheit eines Bildes eines Sprechen-lerndenden Kleinkindes ein, welches als ein hypothesenbildendes Geschöpf vorgestellt wird, das sich in einer chaotischen Geräuschumgebung vorfindet, in der es als Lautquellen insbesondere andere Menschen ausmacht, Hypothesen hinsichtlich dessen, was die Artgenossen jeweils meinen. Einerseits ist klar, daß dieses Bild beim Kind für diese Hypothesen bereits Ideen voraussetzen muß, wie es Mead ja gerade ablehnt, andererseits versäumt es ein derartiges Modell, aus einer realistischeren Beschreibung der Situation Nutzen zu ziehen, in der sich ein Kleinkind in seiner familiären Umgebung befindet. (s.u.)

8. Selbstbewußtsein und der/die »generalisierte Andere«

Bevor wir uns den Aussichten für eine Weiterentwicklung der Theorie Meads zu einer Sprachtheorie widmen, möchte ich zunächst noch die Skizze von Meads Theorie selbst vervollständigen. Bisher sprach ich von einem fragmentierten Selbstbewußtsein, welches sich im Kommunizieren mittels signifikanter Gesten entwickelt. Je nach Interaktionssituation und -partner ergeben sich daraus zunächst eine Vielzahl verschiedener Selbstbilder, die der jeweiligen Reflexion der eigenen Haltung/Einstellung aus der Perspektive des anderen entsprechen. Diese partikularen Selbstbilder nennt Mead »me's«. Diese Form von gestenvermittelter Handlungskoordination gerät jedoch bereits an ihre Grenzen, sobald in einer Handlungssituation mehr als zwei Teilnehmer verwickelt sind. Der paradigmatische Fall einer organisierten Gruppenaktivität ist für Mead in regelgeleiteten Gruppen- oder Mannschaftsspielen (wie Baseball) zu sehen, die gleichzeitig auch in der kindlichen Entwicklung einen komplexeren Grad von sozialer Kompetenz in organisierten Spielen mit mehreren festgelegten Rollen (»game«) gegenüber der einfacheren Form des Spielens als »play« markieren. Spiele weisen hierbei im Prinzip die gleiche innere Struktur auf, wie sie für die menschliche gesellschaftliche Organisationsform überhaupt kennzeichnend ist - mit dem bloßen Unterschied, daß Spiele in einem eigenen Rahmen stattfinden: in einem solchen Spiel wie in der gesellschaftlichen Realität ist es erforderlich, mehrere Verhaltenserwartungen gleichzeitig zu erfassen und die spezifische Rollenverteilung zu kennen. Einerseits gilt es, die aus den vielfachen Perspektiven der anderen resultierenden, teils konfligierenden Selbstbilder zu integrieren, andererseits über die jeweiligen Haltungen der anderen gegenüber einem selbst auch deren Haltungen untereinander im Auge zu behalten. Um die Integrationsleistung bewerkstelligen zu können, bilden die Individuen ein Bewußtsein eines integralen Selbst heraus, indem die partikularen Selbstvorstellungen gebündelt werden. Dies gelingt, indem das Individuum anstelle der jeweiligen Perspektiven der anderen eine abstraktere Perspektive des verallgemeinerten Anderen (»generalized other«) einnimmt. Erst auf dieser Entwicklungsstufe kann sich ein Begriff einer kontinuierlichen und zeitüberdauernden Identität bilden und damit erst ein Verantwortungsbewußtsein für das eigene Handeln und dessen Folgen ermöglicht werden. Da sich über alle Entwicklungsstufen hinweg das Selbstbewußtsein in einem sozialen Handlungszusammenhang herausbildet, sind die eigenen psychologischen Kategorien immer zugleich auch Kategorien, die problemlos auf andere Individuen angewendet werden. Wenn ich mich als Selbst aus der abstrakten Perspektive des/der generalisierten Anderen wahrnehme, ist damit untrennbar auch die Wahrnehmung anderer Individuen als Personen mit einer analogen psychologischen Architektur verbunden.

9. Einschätzung der Meadschen Theorie für eine Sprachtheorie

Meads Versuch, Gesten und Sprache als einen Sonderfall von Gesten, nämlich »Lautgebärden«, einander zu assimilieren, verdient mehrere Anmerkungen.

Erstens. In dem Gedanken, daß Sprache zunächst die gleichen Funktionen erfüllt wie (signifikante) Gesten (wenngleich später auch andere oder vor allem besser differenzierte Funktionen hinzukommen), liegt eine wertvolle Erkenntnis. Clark, Bruner und andere greifen diese Idee auf, indem sie betonen, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Kleinkind die ersten Anstrengungen von verbaler Kommunikation unternimmt, bereits ein System bzw. eine Praxis der Kommunikation durch Gesten und das Herstellen von Blickkontakt fest etabliert ist (vor allem zwischen Eltern und Kind und gegebenenfalls Geschwistern). Das heißt, die Anfänge sprachlicher Kommunikation finden nicht unter vollkommen unbestimmten Bedingungen statt, vergleichbar etwa der Situation eines Wissenschaftlers, der mit einem zunächst unerklärlichen Phänomen konfrontiert ist, sondern es funktioniert bereits eine intentionale non-verbale Kommunikation, zu der eine verbale zunächst parallel und redundant hinzutreten kann, in der das Kind in vielen Fällen den Inhalt einer Sprechhandlung aus dem Kontext heraus »erraten« kann. Umgekehrt interpretieren auch die Eltern Lautäußerungen vom Kind vor dem Hintergrund der bereits etablierten non-verbalen Kommunikation und können sie dadurch oftmals zu Gelegenheiten »verstehen«, wo ein Außenstehender zu einer Dechiffrierung nicht in der Lage wäre.

Zweitens. Mead differenziert (meines Wissens) nicht genügend zwischen natürlichen und konventionellen Zeichen. (s.o.)

Drittens. Mead berücksichtigt nicht den Umstand, daß menschliche natürliche Sprachen artikulierte, differenzierte Systeme bilden, mit den von der Linguistik und Sprachphilosophie herausgestellten Merkmalen (Syntax, ...). Dafür sind Meads Überlegungen zur signifikanten Geste zunächst noch nicht ausreichend.

Dies heißt aber nicht, daß Meads Ansatz und insbesondere seine Analyse von Sprache insgesamt inadäquat wäre, sondern vielmehr, daß die Analyse einer Weiterentwicklung bedarf.

Skizze der betrachteten Problemstellung

Das im folgenden zu betrachtende Problemfeld läßt sich wie folgt umreißen:

Will man sich dem Forschungsfeld des (kindlichen) Spracherwerbs nähern, so muß man sich zunächst darüber verständigen,

(a) welches die charakteristischen Eigenschaften voll entwickelter natürlicher Sprachen sind;

(b) welche Funktionen von Sprache erfüllt werden; und

(c) mit welchen Mitteln diese Funktionen realisiert werden;

um danach versuchen zu können, die Fragen zu beantworten:

»Welche kognitive Fähigkeiten setzen Sprachverstehen und Sprachproduktion bzw. Sprachverwendung voraus?«

und

»Welche außersprachlichen Faktoren und nicht-sprachspezifischen kognitiven (psychologischen) Fähigkeiten können Sprachgebrauch und Sprachverstehen möglicherweise erleichtern bzw. unterstützen?«.

Zu (a):

Die folgende Liste der elementaren Eigenschaften von Sprachen ist zunächst unstrittig:

Zu (b):

Wiederum unstrittig ist es, als die wesentlichen elementaren Funktionen von Sprache folgende beiden anzuführen:

(i) Semantik

(Unter anderem:) Wörter können referieren auf Einzelgegenstände und -personen (durch Eigennamen/singuläre Termini) oder Klassen von Gegenständen (generelle Termini/Prädikate), Sätze im (pragmatisch »neutralen«) Modus der Aussage drücken einen Sachverhalt aus, wobei die Syntax der Sätze determinierend wirkt.

(ii) Pragmatik

(im Sinne der Sprechakttheorie)

Weniger Einigkeit besteht hingegen in der Frage, wie sich die Funktionen von Sprache über diese elementaren hinaus adäquat kennzeichnen lassen. Eine vom Strukturalismus (Saussurescher Prägung) und der (mathematischen) Logik beeinflußte Sichtweise legt es nahe, in der Sprache primär ein »System« von Ausdrücken zu sehen, mit denen Aussagen gebildet werden (deren Inhalte als Propositionen bezeichnet werden). In zweiter Instanz können die so erhaltenen Aussagen dann durch geeignete Verfahren (der Syntax oder der Intonation oder durch »Operatoren« wie etwa Fragewörter, durch performative Verben...) »modalisiert« werden, wodurch man Sätze in verschiedenen pragmatischen Modi des Fragens, Befehlens, der Aufforderung, des Versprechens etc. erhält. In dieser Tradition erscheint Sprache also in erster Linie als Aussagensystem außerhalb eines Handlungszusammenhangs. In dieser Form von Sprachtheorie ist es nicht verwunderlich, daß es als ein Rätsel erscheinen muß, wie Wörter (und Sätze) überhaupt referieren können und wie es den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft gelingt, sich zu verstehen.

Ein alternativer Weg, der besser geeignet erscheint, dieses Dilemma zu vermeiden, ist es, sich der wesentlichen Funktion von Sprache eher »sozialpsychologisch« anzunähern, also in der von Mead vorskizzierten Weise: Sprache wird hier primär als Kommunikation, also als Interaktion zwischen Kommunikationspartnern in einer konkreten Situation und in einem Handlungszusammenhang aufgefaßt. Überspitzt formuliert, statt als Teildisziplin der Logik tritt eine Sprachtheorie hier also als Teilgebiet einer Handlungstheorie auf. Die Reihenfolge der logischen Priorität der Syntax und Semantik gegenüber der Pragmatik wird umgekehrt.

Eine weitere prinzipielle Fragestellung besteht in der Einschätzung des Grades, in welchem für sprachliche Verständigung (oder das Äußern von Ausdrücken) zur Ermittlung der Sprecherintention (oder der Proposition + pragmatischer Modus) der sprachliche und nicht-sprachliche (situative) Kontext eine (ko-)determinierende Rolle spielt. Die sozialpsychologische Theorie hat meines Erachtens hierbei gegenüber den traditionellen den Vorteil, der Tatsache der Kontextsensibilität jeglicher sprachlicher Äußerung in weit höherem Maße Rechnung zu tragen, da - wie im weiteren zu sehen sein wird - dem Kontext in der sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Kommunikation von vornherein eine tragende Rolle zukommt. Im Falle der strukturalistischen Sprachtheorie wird freilich Kontextsensibilität von Ausdrücken und Sätzen keinesfalls geleugnet, sie spielt aber nicht eine solch fundamentale Rolle, und vor allem nicht-sprachlicher Kontext kann nur schwerlich ins Blickfeld gelangen.

Im folgenden soll es jedoch nicht um die Frage gehen, wie es uns gelingt, uns innerhalb einer Sprachgemeinschaft zu verstehen und wie Wörter referieren können, sondern um die (logisch natürlich nicht ganz unabhängige Frage), wie es Kindern gelingen kann (theoretisch) und tatsächlich gelingt (empirisch), ihre Muttersprache zu erwerben.

Eine wesentliche Teilfrage ist hierbei, welchen Anteil der ermittelten notwendigen kognitiven Fähigkeiten zum Sprachverstehen und -verwenden als angeboren angenommen werden muß.

Wenn wir den Bereich der Phonetik und die »parsing«-Fähigkeit25 überspringen, sind es folgende Teilaspekte, innerhalb derer man die Quote angeborener Fähigkeiten gesondert diskutieren kann:

(a) Referenz und Sinn bzw. Extension und Intension von Wörtern

(b) Syntax und Satzsemantik

(c) Pragmatik

Ich möchte diese Frage jedoch nicht im Sinne des quantitativen Anteils von erworbenen gegenüber angeborenen Fähigkeiten und Wissen erörtern, sondern zeigen, wie sich durch die Berücksichtigung verschiedener Faktoren der Umfang der zu postulierenden kindlichen Anfangsausstattung (im Sinne einer Chomskyschen »Language Acquisition Device« (LAD)) prinzipiell nach unten korrigieren läßt. In diesen hier skizzierten Überlegungen folge ich den Ausführungen Jerome Bruners, der die angeführten Thesen mit ausführlichem empirischen Material belegt, auf welches an dieser Stelle nur weiterverwiesen werden kann.

10. Alternative Theorie des Spracherwerbs26

Die Anfänge sprachlicher Kommunikation durch das Kind treten zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sich zwischen dem Kind und seinen Eltern bereits ein System von gestenvermittelter Kommunikation (im Sinne von signifikanten Gesten) fest etabliert hat. Wenngleich das Kind (Alter weniger als 1 Jahr) in dieser Entwicklungsstufe noch keine »Lautgebärden« in der Meadschen Definition verwendet, äußert es dennoch eine Vielzahl von anfangs wenig artikulierten Lauten sowie Schreien parallel zu der erwähnten gestenvermittelten Kommunikation. Die Eltern hingegen wenden sich sehr wohl mittels Sprache an das Kind, indem sie zum Beispiel fragen, ob sie den Teddybär oder etwa den Schnuller wollen.27 In Bruners Fallstudien (Bruner 1983) zeigt sich, daß die zwei beobachteten Kinder im weiteren Entwicklungsverlauf zunächst im Artikulationsgrad ihrer Lautproduktionen fortschreiten, so daß ihre Laute eine silbenhafte Gestalt annehmen und dann im Wechselspiel mit ihren Bezugspersonen zunächst eine Art einfaches »idiosynkratisches« Lexikon entwickeln, welches nur die Bezugsperson zu verstehen in der Lage ist. Diese ersten »Worte« haben dabei einen hohen Allgemeinheitsgrad und stehen z.B. für jede Form von Nahrung und Getränken, oder jegliche weibliche Person u.s.w. Die Bezugsperson oder gegebenenfalls die Mutter drängt das Kind im weiteren sanft dahingehend, seine Non-Standard-Wörter durch Wörter der allgemeinen Sprache zu ersetzen, möglicherweise teils über die Zwischenstufe einer allgemeinen Kindersprache (mit Ausdrücken wie »Wauwau«, »Heija«...). Diese ersten Formen von vage referierenden Ausdrücken treten jetzt zu der bereits bestehenden gestenvermittelten Kommunikation hinzu und übernehmen zusehends die vormals ausschließlich von Gesten erfüllten Funktionen.

In »Child's Talk« untersucht Bruner vor allem vier solcher Funktionen, die im Alter von bis zwei Jahren zunächst unter den wichtigsten sind: das Hinweisen auf Gegenstände oder Vorfälle, die die Aufmerksamkeit des Kindes erregen und auf die es den Interaktionspartner aufmerksam machen will (»indicating« mit dem Ziel der »shared attention«); das Verlangen nach Gegenständen, die das Kind nicht selbständig erreichen kann (»object-request«); und das Verlangen nach Hilfestellung in einer Tätigkeit, die das Kind nicht alleine vollbringen kann; sowie die Einladung, an einem geläufigen Spiel (z.B. Versteckspiel) teilzunehmen.28

Die pragmatische Unterscheidung z.B. der Aufforderung, seine Aufmerksamkeit einem bestimmten Gegenstand zuzuwenden gegenüber derjenigen, einen gewünschten Gegenstand auszuhändigen, wird dabei zunächst nicht über sprachliche Mittel (oder »paralinguistische« wie der Intonation, Prosodie o.ä.) verwirklicht, sondern wird von den Eltern ausschließlich aus dem Kontext und der Situation heraus verstanden. Die bereits vorher funktionierende non-verbale Kommunikation tritt in den ersten Formen der kindlichen Versuche sprachlicher Kommunikation stützend gleichsam als ein Gerüst hinzu. Englischsprachige Autoren beschreiben dieses Phänomen mit dem Begriff des »scaffolding«.

Bruner unterscheidet im kindlichen Verhalten in seiner familiären Umgebung mehrere mehr oder weniger eng definierte Interaktionstypen (zu denen neben denen des »indicating« und »request« z.B. Spiele gehören), die in ihrem Inventar an spezifischen Gesten und in ihrem Funktionieren der Verständigung gewissen Mustern gehorchen und die er als »Formate« bezeichnet. Eine besondere Rolle weist er dabei den Spiel-Formaten zu, da sie - unter anderen Eigenschaften - die besondere Eigenheit aufweisen, daß sie reich an sprachlichen Äußerungen rein performativen Charakters sind, was man sich sehr leicht etwa an einem (unter zahllosen anderen) deutschsprachigen Beispiel eines Auszählreims (»...und raus bist du«) klarmachen kann.

Aus den Ergebnissen der Beobachtungen der ersten Schritte im Erwerb der Muttersprache, die hier aus Platzgründen nicht im einzelnen wiedergegeben werden können, lassen sich mit Bruner folgende Schlußfolgerungen ziehen:

11. Ausblick und abschließende Überlegungen

Je reichhaltiger die Ressourcen an Begriffen bzw. Wörtern für Gegenstände, Handlungen, Orte, an performativen Ausdrücken, Mitteln zur Markierung der Vorzeitigkeit und vieles mehr30 werden, die das Kind aktiv verwenden kann, desto mehr ist das Kind von den sprachlichen Voraussetzungen her in der Lage, nunmehr sprachliche Äußerungen in einen weitergehenden und vergleichsweise subtileren Dienst zu stellen: den der Rechtfertigung und des Anführens von plausiblen Gründen für eine vorgängige oder geplante eigene Handlung.

Dieser Funktion von Sprache geht Bruner in »Acts of Meaning« (Bruner 1990) nach, wo er sie als »narrative Funktion« bezeichnet.

Ich möchte hier dieser wichtigen psychologischen Funktion von Sprache im Alltag nicht im einzelnen nachgehen, sondern stattdessen mit dieser grundsätzlichen Beobachtung im Kopf den Blick erneut auf das Meadsche Gedankengebäude lenken. Wir hatten gesehen, daß zur weiteren Analyse in einer gegenüber traditionellen Sprachtheorien (mit der großen Ausnahme des späten Wittgenstein und den wichtigen Werken v.a. von Austin (und Searle)) alternativen Perspektive das Konzept der Geste und das der zur Geste im allgemeinen in Kontinuität stehenden Lautgebärde sich als nutzbar erwies, wenngleich der Aspekt der starken Konventionalisierung sprachlicher Zeichen bei Mead selbst unterbelichtet blieb.

Wir hatten ferner gesehen, welchen explanatorischen Wert die Mechanismen des von Mead herausgearbeiteten »role-taking« und »taking the attitude of the other« in einer angemessenen Einschätzung der in sprachliche Kommunikation eingehenden Voraussetzungen einnehmen kann.

Wenn man auf der ontogenetischen Leiter des Spracherwerbs bis zur Stufe der »Narrativisierung« emporgeklommen ist und somit eine normative Dimension in die soziale Welt der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft bzw. einer Gesellschaft eingezogen ist, hinsichtlich dessen, was gut und richtig ist und was vertretbare Gründe für eine Handlung sind oder sein können und was nicht, so erscheint es weiterhin als eine aussichtsreiche Perspektive, Meads Gedanken zum »generalized other« und dem sich im selben Prozeß herausbildenden Selbstbewußtsein im Sinne eines verantwortungsfähigen Subjekts aufzugreifen. Ohne die entsprechenden Argumentations- und Analysezüge hier weiterzuverfolgen, dürfte dennoch schon jetzt deutlich sein, auf welche Konsequenz die Ergebnisse unter anderem hinauslaufen würden:

Zum einen würde dieser Ansatz die Grundthese bestärken, die Mead nicht müde wurde zu wiederholen, daß die Entwicklung eines psychologischen Selbst und die entsprechende Entwicklung von alltagspsychologischen kognitiven Fähigkeiten nur im Zusammenhang einer sozialen Welt und einer zwischenmenschlichen (kommunikativen) Praxis (und nicht in einer individualistischen und demnach auch nicht in einer rein neurowissenschaftlichen Perspektive) verstanden werden können.

Zum anderen aber läßt sich aus den entwickelten Überlegungen der Schluß ziehen, daß die einzelnen Mechanismen und Funktionsweisen sprachlicher Kommunikation sowohl allgemein als auch ontogenetisch gesehen hilfreiche Aufschlüsse bieten können, wenn man sie aus einer eng sprachwissenschaftlichen Perspektive herauslöst und mit einer allgemeineren Handlungstheorie durch das Bindeglied einer Kommunikationstheorie oder -forschung zusammenführt. Es ist hierbei meine Auffassung bzw. Einschätzung auf Grundlage der von mir herangezogenen Materialien, daß eine derartige Forschungsrichtung recht betrachtet sich erst wenig mehr als in den ersten Anfängen befindet und womöglich weit mehr konkrete theoretische wie empirische und praktische Ergebnisse zeitigen könnte, als dies im voraus abzusehen ist.


Literatur


1 Habermas (1981), bes. Band 2, S.7-68.

2 Tugendhat (1979), bes. S. 245-292.

3 Mead (1934); dt.: Mead (1973)

4 Ich habe hier die Diskussion um die sog. »theory of mind« im Auge. Die Kontroverse ist durch eine Vielfalt verschiedener Positionen gekennzeichnet, die sich nicht ohne weiteres in zwei widerstreitende Lager unterteilen läßt. Insbesondere sind sich hierbei viele Vertreter ansonsten unterschiedlicher Positionen darin einig, die wegen ihres prominentesten Vertreters als Cartesianismus bezeichnete Annahme als unhaltbar anzusehen: die Annahme, menschliche Wesen seien mit der untrüglichen Fähigkeit ausgestattet, die eigenen mentalen Zustände unmittelbar durch »Introspektion« wahrzunehmen. Die in dieser Kontroverse von Robert Gordon (vgl. Gordon 1996) vorgetragene Position des »radikalen Simulationismus« weist in mehreren zentralen Punkten eine große Nähe zu von Mead ausgeführten Gedanken auf, ohne daß sich Gordon je auf Mead beruft. Dies betrifft unter anderem die von Mead unterstrichene These der sozialen Konstitution des Selbstbewußtseins, die neben anderem in der vorliegenden Arbeit vorgestellt wird. Ich werde diese sich anbietende kontrastive Betrachtung hier jedoch nicht weiterverfolgen.

5 Eine derartige These vertritt z.B. Jerry Fodor. Er verteidigt die Annahme einer der natürlichen Sprache vorgängigen, universalen »language of thought«.

6 Zu einer solchen Perspektive neigt etwa die moderne Linguistik.

7 »The study of the process of language or speech - its origins and development - is a branch of social psychology, because it can be understood only in terms of the social process of behavior within a group of interacting organisms. The philologist, however, has often taken the view of the prisoner in a cell. The prisoner knows that others are in a like position and wants to get in communication with them. So he sets about some method of communication, some arbitrary affair, perhaps, such as tapping on the wall.« (Mead 1934: S. 6, Anm.)

8 Hinzu kommt der kuriose Umstand, daß unabhängig von Mead etwa zur gleichen Zeit der russische Philosoph und Psychologe Wygotsky eine den Meadschen Ideen offenbar sehr ähnliche Theorie entwickelt hat (vgl. Wygotsky 1961). Meinem Eindruck nach zu urteilen erfreut sich dabei Wygotsky höherer »Popularität« als Mead. Janet Astington (1996) verteidigt eine simulationistische Position (vgl. Anm. 4) unter Berufung auf Wygotsky. Jerome Bruner (1990) nimmt auf beide bezug.

9 Dieser Ausdruck wurde erst nach Mead geprägt.

10 In vielen dies betreffenden Passagen macht Mead nicht deutlich, ob er seine Analysen ontogenetisch oder phylogenetisch (oder beides) ausgerichtet verstanden wissen will.

11 Ich beziehe mich im wesentlichen auf Mead (1934). Die Darstellung wird sich auf die Implikationen seines Ansatzes für eine Sprachtheorie und eine Handlungstheorie konzentrieren und Aspekte einer Theorie des Selbstbewußtseins bzw. einer »philosophy of mind« mit berücksichtigen. Schwächer berücksichtigt werden die Aspekte einer Gesellschaftstheorie.

12 Eine genauere Einordnung von Meads Werk in seinen geistesgeschichtlichen Kontext gibt Joas (1989).

13 »Es blieb dem Pragmatismus vorbehalten, die [...] Position zu beziehen, wonach der Wahrnehmungsgegenstand dem Individuum in der unmittelbaren Erfahrung nicht in einer Bewußtseinsbeziehung (relation of awareness), sondern in einer Verhaltensbeziehung gegenübersteht.« (Mead 1969: S. 74)

14 »Es geht mir hier nicht um die philosophische Begründung dieser Grundeinstellung der behavioristischen Psychologie; ich möchte lediglich hervorheben, daß sie notwendig dazu tendiert, sich mit Prozessen, d.h. mit Handlungen zu befassen und ihre Gegenstände innerhalb der Welt zu suchen, von der alle Wissenschaften handeln.« (Mead 1969: S. 70)

15 S. Anm. 10.

16 Mead (1934): Kap. 20.

17 Ähnlich argumentiert Habermas: vgl. Habermas (1981: Bd. 2, S. 23ff).

18 Es sei angemerkt, daß in dieser Komplexitätsstufe von mehrstufigen Einstellungen bzw. Einstellungsübernahmen der ursprüngliche Inhalt des Konzepts der Haltung als Handlungsbeginn seinen Sinn ändern muß.

19 Habermas führt darauf aufbauend noch eine dritte Stufe der iterierten Einstellungsübernahme ein, die nach seiner Argumentation erst die Entstehung von Bedeutungskonventionen ermöglicht. Diese lasse ich hier unberücksichtigt.

20 Vgl. a. Bruner (1975: S. 14f), wo er in zwei Fallstudien bei Kleinkindern im Alter zwischen 9 Monaten und einem Jahr den Übergang von eher instrumentellem zu sozialem Handeln beim Geben und Nehmen von Gegenständen beobachtet.

21 An manchen Stellen läßt sich zeigen, daß Mead durchaus auf die Notwendigkeit der Einstellungsübernahme auch beim Adressaten hinweist, ohne aber auf die so entstehende Höherstufigkeit der einzunehmenden Einstellung oder Haltung einzugehen: »Significance from the standpoint of the observer may be said to be present in the gesture which calls out the appropriate response in the other or others within a co-operative act, but it does not become significant to the individuals who are involved in the act unless the tendency to the act is aroused within the individual who makes it, and unless the individual who is directly affected by the gesture puts himself in the attitude of the individual who makes the gesture.« (Mead 1934: S. 81, Anm., Hervorhebung von mir.)

22 Die Nähe zwischen Mead und Wygotsky besteht vor allem in der mit dem Konzept der Einstellungsübernahme verbundenen Idee. Bei Wygotsky nimmt diese Idee die Form eines Internalisierungsprozesses an, bei dem vormals »interpsychische« Relationen und Konzepte in »intrapsychische« umgewandelt werden.

23 Diese Bezeichnung ist freilich nur von der Warte sinnvoll, wo man Sprachen im eigentlichen Sinne schon kennt. Man müßte ein solches System also eher Ruf-System nennen.

24 »The very process of thinking is, of course, simply an inner conversation that goes on, but it is a conversation of gestures which in its completion implies the expression of that which one thinks to an audience.« (Mead 1934: S. 141)
»[...] only by taking the attitude of the generalized other toward himself [...] he can think at all; for only thus can thinking - or the internalized conversation of gestures which constitute thinking - occur. And only through the taking by individuals of the attitude or attitudes of the generalized other toward themselves is the existence of a universe of discourse, as that system of common or social meanings which thinking presupposes as its context, rendered possible.« (ebd.: S. 156)

25 Unter parsing versteht man die Gliederung einer Lautkette in sinntragende Segmente.

26 Eine gute Übersicht über konkurrierende Spracherwerbstheorien bietet Miller (1980).

27 Eine gesonderte Forschungsrichtung geht der Frage nach, inwieweit und mit welchem Einfluß die sprachlichen Äußerungen, die an Kleinkinder gerichtet werden, besonders charakterisiert werden können, z.B. durch eine geringe Komplexität, einen kleineren und möglicherweise teils speziellen Wortschatz, ... Vgl. dazu Miller (1980: bes. S. 660f)

28 Bruner gruppiert die letzten drei Funktion zu der allgemeinen »request«-Funktion.

29 Z.B. Fillmore (1968)

30 Für eine weitere Betrachtung der Entwicklung einer komplexeren Syntax (und Semantik) im kindlichen Spracherwerb s. van der Geest (1978).


Link

George Herbert Mead Seite zu George Herbert Mead bei der Initiative für Praxisphilosophie und konkrete Wissenschaft, IPkW

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