Forum zur Gartenkonferenz 2000
Perspektiven der Garten- und Kleinstlandwirtschaft in Stadt und Land - zur sozialen und ökologischen Notwendigkeit einer "weiblichen Ökonomie"  vom 21. - 25. Juli 2000 in Berlin, AG Kleinstlandwirtschaft und Gärten in Stadt und Land, c/o Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, Babelsberger Str. 14 - 16, D-10715 Berlin, Tel.:+49 (0)30 - 85002110, Fax/AB:+49 (0)2561-95941640, Infos: gartenkonferenz@gmx.de , http://userpage.fu-berlin.de/~garten/

 
 
 
 
 

 zurück zur Forumübersicht
 
 
 
 

Christa Müller
 

"Wurzeln schlagen in der Migration"
Frauen in den Internationalen Gärten Göttingen

BEITRAG FÜR DAS PARLAMENT, THEMENHEFT "FRAUEN IN EUROPA"
 

Ein milder Septemberabend in der Göttinger Altstadt. Nadjia Abid, 46-jährige Kurdin aus Bagdad, ist auf dem Weg zur Bushaltestelle. Ihre Taschen sind gefüllt mit Zucchini, Postelein, Korianderkraut und Pfefferminze. Es wird Zeit, daß sie nach Hause kommt, denn als der Bus einfährt, hat sie bereits die Hälfte ihrer Ernte verschenkt. An Bekannte und Freunde, die ihr an jeder Straßenecke begegnen. Sie kommen vom Persischen Golf, aus Sri Lanka, Deutschland und Äthiopien.

Nadjia Abid kennt viele Leute in Göttingen, und: Sie hat etwas zu geben. Das ist nicht selbstverständlich für eine Migrantin in Deutschland. Für eine Mitarbeiterin der Internationalen Gärten e.V. jedoch gehört es zum Alltag.

Die Internationalen Gärten sind ein Projekt der Selbstorganisation von Migranten, Flüchtlingen und Deutschen. Es waren bosnische Flüchtlingsfrauen, die die Idee im Frauencafé des Göttinger Beratungszentrums für Flüchtlinge entwarfen. Immer nur Tee trinken und Tischschmuck basteln, das war den Frauen auf die Dauer zu wenig. Sie wollten raus aus den Einrichtungen der Sozialen Arbeit und ihren Alltag wieder eigenhändig gestalten: "Zu Hause hatten wir unsere Gärten. Die vermissten wir am meisten. Wir wollten gerne auch in Deutschland Gärten haben."

Das war 1995. Ein Jahr später konnte der Verein Internationale Gärten das erste Grundstück anpachten. Die Mitglieder machten es in gemeinschaftlicher Eigenarbeit urbar. Heute nutzen 220 Frauen, Kinder und Männer aus 14 Nationen rund 12.000 Quadratmeter Fläche in vier Gärten für den biologischen Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern.

Frauen sind, wie so häufig, die Trägerinnen des Projekts; ein Mann ist, das kommt schon seltener vor, seine "Seele". Unablässig kutschiert Tassew Shimeles, 44-jähriger Agrarökonom aus Äthiopien, ältere Migrantinnen mit seinem klapprigen Golf in außerhalb der Stadt liegende Gärten, schreibt EU-Anträge für die Finanzierung von dringend benötigtem Personal, organisiert gemeinsam mit Nadjia Abid das Vereins-Büro, das die Evangelische Erwachsenenbildung zur Verfügung stellt, hält politische Konflikte zwischen Serben und Kroaten oder Türken und Kurden erfolgreich aus den Gärten fern und berät in alltäglichen Problemen mit Saatgut und Pflanzenwachstum. Das Wichtigste ist ihm dabei, daß die GärtnerInnen experimentieren können. Die Versuche mit Pflanzen und Saatgut sind dabei immer zugleich auch soziale Experimente. Wenn es das persische Saatgut nicht schafft, im schweren niedersächsischen Boden zu keimen oder das kurdische Korianderkraut unter der Gießkanne ertrinkt, machen die MigrantInnen interaktive Erfahrungen mit ihrer neuen Heimat. Es ist das vertraute Aussehen der Pflanzen, das der eigenen Geschichte Gestalt verleiht und so eine Brücke zwischen die verlassenen und die neuen Orte baut. Wie die Pflanzen, so verwurzeln sich auch die Menschen nach und nach in den Gärten, in Göttingen, in Deutschland.

Eine Heimat zu haben, das ist gerade nach traumatischen Fluchterlebnissen fundamental für das Überleben. "Ohne Heimat ist man wertlos", sagt Nadjia Abid, und sie bringt damit auch zum Ausdruck, daß es therapeutischen Wert haben kann, Heimat als dynamisches Konzept zu begreifen, das auch diejenigen, die sie gewaltsam verloren haben, neu konzipieren können.

Wenn die Frauen die Geschichte ihrer Flucht erzählen, schießen ihnen schnell die Tränen in die Augen: Tote Angehörige mußten in den Bergen zwischen Irak und Iran zurückgelassen werden, gefolterte Freunde gelten bis heute als vermißt, der Abschied von den sterbenden Eltern wurde durch Einreiseverbote verhindert. Die Traumata, die Flucht und Vertreibung verursacht haben, verwandeln sich gerade bei sozial isolierten Frauen, die den oftmals beengten Wohnverhältnissen selten entfliehen können, in Gespenster des Alltags. Die Gärten ermöglichen ein Heraustragen und damit "Sozialisieren" des als privat empfundenen Leids in den öffentlichen Raum, der sich auf diese Weise neu konstituiert.

Transnationale und transethnische Räume entstehen, die der herkömmlichen Situation von Flüchtlingen, deren aktive Teilnahme an gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten nicht vorgesehen ist, die verwaltet und ruhig gestellt werden, Perspektiven gegenüber stellen. Zentrale, weil alle verbindende Sprache in diesen neuen sozialen Räumen ist Deutsch. Auf Deutsch werden die Wachstumserfolge auf den Beeten kommentiert und Erfahrungen auf dem Sozialamt ausgetauscht. Darum überrascht es kaum, wenn die 60-jährige Ehefrau eines kurdischen Widerstandskämpfers ebenso wie die gleich alte Arztfrau aus der persischen Oberschicht und die junge Analphabetin aus Sri Lanka gemeinsam erfolgreich Deutsch lernen - in den Gärten und in den Deutschkursen, die die Evangelische Erwachsenenbildung in Kooperation mit dem Verein ungewöhnlich erfolgreich anbietet. Nicht zuletzt die gemeinsame Arbeit mit - häufig binationalen - deutschen Familien, die über Kenntnisse der örtlichen Gartenkulturen und Bodenbeschaffenheiten verfügen, ist eine Motivation für viele internationale GärtnerInnen, sich der Mehrheitskultur zu öffnen; ist Anlaß, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu benennen.

Während der Wintermonate findet eine verstärkte Verknüpfung von landwirtschaftlichen Tätigkeiten mit Kunst, Ästhetik und Handwerk statt. Seit 1999 steht in einem der vier Gärten ein mitteleuropäisch gemauerter Backofen, im Frühjahr 2000 wollen die Frauen einen orientalischen Ofen aus Lehm und Stroh (Tanur) in Eigenarbeit bauen. Shimeles: "Fast jedes Volk hat sein eigenes Brot, die Art, wie es gebacken wird, sagt etwas über die jeweilige Kultur aus."

Fremd sind sich alle, und nah zugleich. Die internationalen GärtnerInnen verbindet keine gemeinsame Herkunft, keine Familientradition. Was sie verbindet, ist ihre Zerrissenheit - und der Wunsch, neue Zusammenhänge für dieses eine Leben zu schaffen. Es existiert keine Dualität von "Fremdem und Eigenen", sondern eine Vielfalt von Fremdheit, die versucht, sich heimisch zu machen. Hier realisieren sich unerwartete Formen von ethnischer Identitätsbildung - möglicherweise keimen in den Internationalen Gärten - und eben nicht in Kreuzberg, wo sich die Hoffnungen auf ethnische Vielfalt längst zerschlagen haben - die ersten Ansätze einer multikulturellen Gesellschaft: Einer Gesellschaft, die von Frauen getragen ist, deren Ziel die Versorgung der Menschen mit materiellen und sozial-kulturellen Gütern ist und deren Dynamik im Interesse aneinander sowie der Sorge füreinander wurzelt.

Der Verein Internationale Gärten e.V. wird unterstützt von der Evangelischen Landeskirche Niedersachsen sowie von der Münchener Forschungsgesellschaft anstiftung ggmbh, die seit 17 Jahren Praxisprojekte im Bereich der Eigenarbeit und städtischen Eigenversorgung initiiert und forschend begleitet. An den Internationalen Gärten interessiert sie insbesondere die Wirkung, die Eigenarbeitstätigkeiten im Bereich der interkulturellen Aktivitäten entfalten.

Der Verein ist neben der Unterstützung durch Sachmittel dringend auf die Gewährung von Personalmitteln angewiesen und für jeden Hinweis dankbar.

Angaben zur Autorin:

Christa Müller, Dr. rer.soc., geb. 1960, Studium der Soziologie und Politikwissenschaft in Bielefeld, Marburg und Sevilla, Forschungsaufenthalte in Costa Rica, Mexiko und Westfalen, seit 1999 wiss. Mitarbeiterin bei der anstiftung, gemeinn. Forschungsgesellschaft in München, Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck, 1998 Schweisfurth Forschungspreis für Ökologische Ökonomie
 
 

 zurück zur Forumübersicht