Bernd Ternes, Berlin,
Institut
für Soziologie der FU,. Graystr. 55, 14195 Berlin; miles@zedat.fu-berlin.de
Endlich um den heißen
Brei reden.
Zu Elisabeth
Meyer-Renschhausens „Der Streit um den heißen Brei“[1]
Ein
informierendes, (Geschichts)Realität vermittelndes und zudem in den Erklärungen
niemals monokausal werdendes Buch ist anzuzeigen, das mit einer solchen
Klarheit der Sprache aufwartet, daß man vermuten könnte, die Wahl des leicht
überfrachteten Untertitels, „Zu Ökologie und Geschlecht einer Kulturanthropologie
der Ernährung“, sei mit Abschreckungsabsicht gewählt worden. Was einen hingegen
erwartet, ist Einblick in bestimmte Momente und Phasen einer
Zivilisationsgeschichte der (europäischen) Eßkultur – in politischer,
feministischer, sozialer und kulturanthropolgischer Hinsicht.
„So ist es kein Wunder, wenn die Architekten des
19. Jahrhunderts, Kinder ihrer sozialen Klasse und zugleich von ihr abhängig,
die Küche aus ihrem Blickfeld verbannten; sie verlegten die Küche in den
hintersten Winkel der Wohnung [...]“ – dieser Satz von Michelle Perrot und
Roger-Henri Guerrand findet sich in der großen „Geschichte des privaten Lebens“[2].
Was für die Architektur galt, galt bis vor kurzem auch für die Soziologie: Sie
verbannte gewißermaßen das multisoziale Phänomen namens Ernährung in die
hinteren Reihen fachinterner Erkenntnisinteressen, oder aber in die insularen
Sektionen der Bindestrich-Soziologie. Das hat sich geändert, seit das Tableau
ökologischer Beobachtung neue Foci der Inbeziehungssetzung von Technik,
Gesellschaft und Umwelt gesellschaftlich durchsetzen konnte, wie erfolglos oder
erfolgreich auch immer. „Mit der BSE-Krise ist die ökologische Debatte in eine
neue Dimension geraten“; so beginnt Meyer-Renschhausen ihr Buch, das sich als
Sammlung einiger Aufsätze der Autorin zu Soziologie, Geschichte, Ökologie und
Geschlecht der Ernährung versteht, die mit einer Ausnahme alle zwischen 1989
und 1993 veröffentlicht wurden. Dieser neuen Dimension als eine der
Dringlichkeit, Gesellschaft ökologischer als bisher zu (re)produzieren, da sich
die ökologische Krise „verschärft“, korrespondiert eine unspektakuläre,
wissenschaftsinterne neue Dimension, die Meyer-Renschhausen eher implizit
einführt. Nämlich diejenige Dimension, in der die kurrenten ökologischen
Debatten der letzten 30 Jahre als historische in den Blick kommen gerade
dadurch, daß man ihnen Vorläufer zuzuweisen vermag, Vorläufer ökologischer
Diskurse und Praktiken, die bereits im 19. Jahrundert „Fragen nach den Ursachen
oder ökologischen Auswirkungen der industriellen Kultur und den nötigen
Alternativen“ nachgegangen sind. Meyer-Renschhausen schafft es damit, einen
historischen Bogen zu schlagen, der den gegenwärtigen Stand engagierter
Ökologisierung (mittlerweile, wie kosmetisch auch immer, schon von Staats wegen) anknüpfbar macht an
die sozialökologischen und sozialpolitischen Debatten etwa um 1900 oder an die
Praxis der Breiernährung im 19. Jahrundert. Auch hier läßt Meyer-Renschhausen
offen, ob man die ‚lange’ Tradition ökologischer Bemühungen, Interventionen und
Praxen als Ausweis der Stetigkeit und Stabilität gesellschaftsreformierender
Bewegungen zu bedeuten habe, oder eher als Beleg für die Erfolg- bzw.
Folgenlosigkeit anzusehen hat, denn es gilt ja weiterhin, so
Meyer-Renschhausen: „[...] die Bewohner der reichen Länder essen sich krank,
800 Millionen Menschen hungern“.
Der außergewöhnlich lesefreundliche Stil des
Bandes – im besten Sinne des Wortes wissenschaftliche Prosa – hält sich in
allen fünf Beiträgen durch. Meyer-Renschhausen beginnt mit einer Rekonstruktion
der Auffassungen über den kalten und den heißen Brei als maßgebende
Ernährungsgrundlage der Landbevölkerung noch des 19. Jahrhunderts, während in
den Städten „Kaffee, Butterbrote und
Kartoffeln den alten Brei bereits während des 18. Jahrhunderts abgelöst“
hatten. Durch die mulidimensionale Betrachtung der Getreideernährung und der
vergessenen Zubereitungstechniken einerseits und der forschungsgeschichtlich
relevanten Debatten zwischen Rohköstlern und Anhängern gekochter Mahlzeiten
andererseits gelingt der Autorin ein Erkenntnispanorma sondergleichen: Auf 32
Seiten und in 18 Abbildungen erfährt man prägnant etwas über die Schichtungen
des Getreidekorns, über die Bedeutung der Kornenspelzung, über die Mühlarten,
über den Verruf des Breis, über die soziologische Aussagekraft gesunder
Ernährung, über den Zusammenhang von Massenarmut und Fleischproduktion (Ernährungsimperialismus),
sowie über die Honorarprofessorin für Ernährungsvolkskunde, Anni Gamerith, die
gewissermaßen als Gewährsfrau einer frühzeitig stattgehabten biologisch-dynamischen
Landwirtschaft verdrängtes Zubereitungswissen zur Verfügung stellte.
Der zweite Beitrag des Buches, „Die Fürstlichen
Mahlzeiten der Revolutionäre oder wie das Menü in die gutbürgerliche Küche
kam“, kehrt vom Lande in die Stadt zurück, um den manifesten Gestalten der
Ablösung des Breis durch Fleisch und der einfachen Mahlzeit durch das
bürgerliche Tafeln nachzugehen. Meyer-Renschhausen kann dabei den Prozeß
nachvollziehbar machen, in dem die nach der französischen Revolution in Paris
(und anderswo) enstehenden neuen Formen von Öffentlichkeit, nämlich Restaurants,
Lokale und Caféhäuser, sich wieder zu „Räumen einer geschlossenen Gesellschaft
besitzender Männer“ wandelten. Wurden Frauen aus diesen öffentlichen Räumen
ausgeschlossen, so führte die bürgerliche Übernahme gewisser höfischer
Essensluxurierungen zum Einschliessen der Frauen in die Küchen. Tatsächlich
aber imitierte das Bürgertum nicht nur den Hof und den Adel, so die Autorin: es
erfand auch Eigenes, vielleicht gar „so etwas wie eine eigene ‚Kultur’, mit der
sie sich von der alten Adelskultur deutlich absetzten“ konnte. Und hierbei
spielten von Frauen geleitete Salons wiederum eine besondere
Vermittlungsinstanz.
– Wie möglicherweise auch der Kaffee eine besondere
Instanz für die Revolution schlechthin gewesen sein soll: Der französische
Historiker Jules Michelet ‚adelte’ das „ernüchternde Bittergetränk als eine der
Ursachen der französischen Revolution“. Mag man dies noch als Ursache und
Wirkung verkehrende Übertreibung goutieren, so bereit die Behauptung einer
anderen Ursache-Wirkung-Verkettung Schwierigkeiten. Meyer-Renschhausen stellt
fest, daß die Revolutionäre die Frauen 1793 von der Politik ausgeschlossen
hatten. Politik und Tugendsamkeit wurden für männliche Bürger zu Gegensätzen.
„Die realen Frauen wurden [...] verdrängt. Statt dessen überschattete fortan
eine merkwürdige Fiktion von ‚idealer Frau’ den Alltag der Frauen“. Kurzum: Die
Arbeit der (Haus)Frauen wurde eine Arbeit ohne Honorar, wurde Pflicht aus
lauter Liebe. Diese Entwicklung explodierte dann im 19. Jahrhundert zur
gesellschaftlichen Nichtwertschätzung der Hausarbeit als einer unproduktiven
oder allenfalls reproduktiven Arbeit, die als nicht rentenwürdig gilt. – Sicher
nicht überraschend ist es, festzustellen, daß die revolutionäre Praxis
Frankreichs eher frauenfeindlich denn frauenfreundlich verlief (eingedenk der
Praxen, die sich in der „68er-Revolte“ abspielten). Überraschend und für meine
Begriffe zu weit gehend hingegen ist die Sichtweise, daß es ausgerechnet die jakobinische
Revolution gewesen sein soll, von der aus die gesellschaftsstrukturelle Zementierung
der Nichtwertschätzung häuslicher Arbeit ihren Anfang nahm, wie es Meyer-Renschhausen
insinuiert.
Schließt der zweite Beitrag mit einer
fulminanten Rekonstruktion der Geschichte des Restaurants und der Gaststätte
bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – immer den Bezug zur Inklusion/Exklusion der
Frauen haltend –, so widmet sich der nachfolgende Aufsatz der Sozialgeschichte
des Gaststättenwesens maßgeblich des 20. Jahrhunderts: „Alkoholfreie
Speisehäuser, zünftige Zechgelage und moderner Trinkzwang“, so der Titel, umreißt,
ausgehend von der Person Ottilie Hoffmann, einer maßgebenden „Vertreterin der
Frauenbewegung und Aktivistin der Antialkoholbewegung im Deutschen Reich“, politökonomische,
sozialpsychologische und feminstistische Perspektiven der entstehenden
Lebensreform-, Umwelt- und Mäßigkeitsbewegung der letzten Jahrhundertwende. Mit
den Veränderungen vom „Bierzwang“ u.a. der Zünfte hin zum „Trinkzwang“ (Suppe
nur mit Bier) der von Brauereien übernommenen Schankstätten ab den 1860er
Jahren, mit den Veränderungen des Alkoholgehalts des Bieres (von 2% des alten
Bieres zu 3,7% des neuen Lager- und Flaschenbieres) ging eine Veränderung in der
öffentlichen Beoachtung und gesellschaftlichen Bewertung der „Alkoholfrage“
einher: Noch in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Tabu, fand die
Thematik in den 90er Jahren „Eingang in die Frauenbewegung“, um dann in den
20er Jahren des 20. Jahrhunderts „als soziales Problem allgemein akzeptiert“ zu
sein (und es dauerte nochmals etwa 50 Jahre, bis Alkoholismus 1968 als
Krankheit in der BRD anerkannt wurde). Meyer-Reinschhausen gelingt es
besonders, sowohl die Prozesse einer Veränderung gewachsener Bier- und
Trinkultur über Jahrhunderte hinweg mit klaren Konturen nachzuzeichnen, als
auch die vielfältigen feminstistischen und antialkoholistischen Bewegungen in
Struktur und Aktivität gegenwärtig zu machen. – Bedauerlich, wenngleich vom
Ansatz des Aufsatzes her verständlich ist, daß man zur Antialkoholbewegung als
„Zeichen einer antibürgerlichen Jugendkultur bis über 1933 hinaus“ nicht
vielmehr erfährt, als daß diese Bewegung im Gegensatz zur Mehrheit der
Frauenbewegung „dem Sog der Nazis“ verfiel.
„Diätetik, Gesundheitsreform und soziale
Ordnung: Vergetarismus als eine moralische Physiologie“, so der Titel des
vierten und zusammen mit Albert Wirz verfassten Aufsatzes, faßt nicht nur schon
im Titel den Radius des Themas, sondern leitet in diesen auch kongenial ein:
„Nachdem die Diätetik aus dem Kanon der Medizin der frühen Neuzeit praktisch
verschwunden war, kehrte sie im 19. Jahrhundert als Ernährungsphysiologie
zurück: durch die wissenschaftliche Fundierung der Tierfütterung sollte die
Martkorientierung der Landwirtschaft ermöglicht werden. Das [..] Plädoyer für
vermehrte Fleischernährung rief eine zeitgleich entstehende Bewegung hervor,
die für eine – wie man heute sagen würde – alternative Ernährungslehre und
‚natürlichere’ Eßgewohnheiten eintrat.“ Etappen und Verläufe der
Lebensreformer-Bewegung – die, so Meyer-Renschhausen, „politisch alles andere
als reaktionär war“ und als Begriff einsteht für das gesamte Netz miteinander
verwobener Aktivitäten der Naturheilkunde, des Vegetarismus, der Temperenzler
u.a. – werden entlang auch heute noch bekannter Persönlichkeiten beschrieben:
Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg vor allem, Vinzenz Prießnitz,
Sylvester Graham, Johannes Schroth, Sebastian Kneipp,– um nur die wichtigsten
Protagonisten zu nennen. Wohlgemerkt: Entlang dieser Personen rekonstruiert
Meyer-Renschhausen die verwobenen Geschichten der „moralischen Physiologie“.
Jede Form der „Heroisierung“ oder gar verkürzten Ideen- resp.
Personengeschichte ist ihr fern. Gleichsam tauchen auf der Sachebene Sätze auf
(etwa in den Passagen der Rekonstruktion des explodierenden Fleischkonsums im
Verlaufe des 19. Jahrhunderts), denen man mehr Erläuterung wünscht. Sätze wie
„Die modernen Volksarmeen des 19. Jahrhunderts erzogen Millionen von
Bauernjungen mit damals noch traditionell getreideorientierten Eßvorlieben zu
Fleischessern, zwecks Abbau von Überproduktion von Fleisch in Südamerika“ laßen
einen zumindest staunend bis ratlos zurück. Nicht so jedoch die Conclusio, die
Meyer-Renschhausen und Albert Wirz am Ende des Beitrages so formulieren: „Die
Forderung nach einer vegetarischen Diät kann – wie schon 100 Jahre zuvor –
daher wiederum heilsame Effekte haben. Wie bereits um 1900 führen heutige Vegetarier
und Verteidiger einer ökologischen Ernährungsweise an, daß eine vegetarische
Diät nicht nur dem Individuum hilft, sondern vor allem dazu dienen kann, eine
gerechtere global-gesellschaftliche Ordnung zu schaffen.“
Der abschließende Aufsatz des Buches,
„Ökologische Vernunft im polynesischen Denken. Zur Debatte um die
Nahrungstabus“, ist zugleich der soziologistische und am strengsten gegliederte
Beitrag. In ihm geht es um die Formulierbarkeit einer sozial wirksamen
vernünftigen Verhältnismässigkeit zwischen Natur, Kultur und Person, die sich
in bestimmten Riten und Ritualen menschlicher Ernährung zum Ausdruck bringt:
nämlich in den polynesischen Tabusitten. Tabus scheinen dabei – anders als etwa
kognitive Einsicht – eher eine „überzogene Ausbeutung der Natur“ verhindern und
die gesellschaftliche Produktion nachhaltiger zu sichern denn vollkommen
wissensbasierte Weisen der Produktion, Reproduktion und Konsumtion, wie sie in
westlichen Gesellschatfen gang und gäbe sind. Meyer-Renschhausen skizziert
(eher struktural denn funktional) fulminant die sozialen, hierarchischen und
kulturellen Mechanismen, mittels derer soziale Ordnung, Normierung und Handlung
in kulturellen Gemeinschaften mit Tabus hergestellt und annehmbar gemacht
werden. Da „die Produktion von Nahrung und die Gesellschafts-Strukturen selbst
[..] ambivalent gedacht“ wurden, konnte das Tabu als Kompromißsystem des
Ambivalenzkonfliktes eingesetzt werden. Mit dem Schwinden der Ambivalenz und
dem Schwinden bzw. Erschaffen neuer Tabus der Ernährung in den modernen
Gesellschaften verschwand damit zugleich auch „ein Wissen davon, daß Essen
sozusagen nicht ohne weiteres unproblematisch ist und daß natürliche Ressourcen
unmöglich unerschöpflich sein können“. Tabuloser, skrupelloser Umgang mit Natur
und Essen muß, so Meyer-Renschhausen, Gegengewalt hervorbringen, „wie wir sie
seit kurzem auch bei uns als auf Menschen übertragbaren Rinderwahn fürchten.“
Meyer-Renschhausens Buch nimmt zu keinem
Zeitpunkt den Charakter einer bloßen Sammlung von Aufsätzen an. Die Warnung vor
Redundanz, die im Vorwort ausgesprochen wird, erweist sich umgekehrt gerade als
Hinweis auf das Bindende des Bandes mit seinen verschiedenen und verschieden
verzahnten Themenkomplexen. Niemals auch passiert Verfransung ob der diversen
Themata; dafür aber Neugier auf weitere Erzählungen von zumeist noch unbekannten
Geschichten innerhalb der Zivilisationsgeschichte der Eßkultur – Neugier gerade
auch bei solchen Lesern, die sich sonst nur in der dünnen Luft abstrakter
Theorie aufzuhalten pflegen.
[1] Elisabeth
Meyer-Renschhausen, Der Streit um den heißen Brei – Zu Ökologie und Geschlecht
einer Kulturanthropologie der Ernährung, Centaurus: Herbolzheim 2002,
15,70 €.
[2] Herausgegeben von Philippe Ariès und Georges Duby, 5 Bde, hier: Bd.4: Von der Revolution zum Großen Krieg, dt., FFM 1992 (orig. 1987), p341.