Über die Digitale Bibliothek wird derzeit viel geredet - hier ist sie

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Die Patina eines Jahrhunderts - verloren?  Foto: Bringmann

In EDV-Kreisen schon wird schon seit drei Jahrzehnten über computerbasierte "Bibliotheken" diskutiert. Aber erst die explosionsartige Verbreitung des Internets und die Entwicklung graphischer Webbrowser hat dieses Konzept aus den Zirkeln der EDV-Spezialisten in die Welt der realen Informationsvermittlung katapultiert. Die Bezeichnung ,,digitale Bibliothek``(digital library) geht auf die Digital Libraries Initiative in den USA zurück, in deren Rahmen seit 1994 zahlreiche Projekte gefördert werden. Aber inzwischen hat sich auch in Europa einiges getan.
Die Vorstellungen davon, was eine digitale Bibliothek ist, gehen weit auseinander: Die einen orientieren sich eng an der klassischen Bibliothek, für die anderen ist das ganze Internet eine große digitale Bibliothek. Wie in der klassischen Bibliothek müssen die gesammelten Medien und Informationsquellen erschlossen, d.h. katalogisiert, indiziert, klassifiziert, geordnet und bereitgestellt werden. Dazu braucht man Online-Kataloge und Indizes, Suchmaschinen und Retrievalsysteme, die das Suchen und Finden erleichtern (retrieve = wiederfinden). Dazu gehören ebenso elektronische Dokumentlieferdienste, die auch gedruckte Medien umfassen und diese bei Bedarf digitalisieren, und schließlich die eigentlichen digitalen Dokumente und Objekte, die den Kern der digitalen Bibliothek ausmachen und auf die der Nutzer direkt zugreifen kann.

Elektronische Zeitschriften - ein Weg aus der Krise?

Das herkömmliche System der wissenschaftlichen Veröffentlichung in Zeitschriften steckt in einer (nicht nur finanziellen) Krise. Vor allem renommierte Zeitschriften lehnen zunehmend Beiträge ab oder lassen die Autoren unverhältnismäßig lange warten, weil sie aus Kosten- und Marketinggründen die Seitenzahlen der einzelnen Hefte beschränken. So dauert es oft bis zu drei Jahren, bis ein Artikel veröffentlicht ist. Ein absurder Zustand, zumal, wenn man die Veränderungen im Bereich der wissenschaftlichen Kommunikation  bedenkt. Technologische Entwicklungen und neue Werkzeuge wie leistungsstarke Computer, hochwertige Software für Datensammlungen, Visualisierungen, Animationen und Simulationen, Multimedia- und Hypermediaprodukte  - zusätzlich zu den digitalisierten Fassungen `altmodisch' entstandener Texte - und die globalen digitalen Netze haben ganz neue Informationsressourcen hervorgebracht.

Computeransammlung: Bedrückende Utopie? Die Angst vor der `papierlosen Zukunft' ist zwar unbegründet, aber noch weit verbreitet.   Nachweis: Glaser
Naturwissenschaftler mit ihrer relativ hohen Grundgeschwindigkeit bei der Wissen(schaft)sproduktion stellen ihre Arbeiten auf Preprint-Servern über das Internet weltweit und sofort zur Verfügung. Also warum nicht gleich das ganze wissenschaftliche Publikationswesen auf elektronische Basis umstellen?
Einzelne Wissenschaftler oder wissenschaftliche Gesellschaften haben bereits elektronische Zeitschriften gegründet und bieten sie kostenlos im Internet an; die relativ geringen Kosten tragen in der Regel die wissenschaftlichen Einrichtungen. Die verlegerische Versorgungslücke, die dabei entsteht, könnte ein Universitätsverlag in Kooperation mit Bibliothek und Rechenzentrum füllen.
Die Verfügbarkeit digitaler Netze, preiswerte Server, hochwertige Publishing- und Graphiksoftware sowie leistungsfähige Laserdrucker kann heute praktisch jeden zum Hersteller und - weltweiten - Vertreiber seiner wissenschaftlichen Arbeiten machen.
Die wissenschaftlichen Verlage haben längst viele Teile des Produktionsprozesses auf die Wissenschaftler verlagert. Die liefern druckfertige Texte und Graphiken ab, und die Qualitätskontrolle übernehmen die Wissenschaftler mittels Gutachtersystem auch gleich selbst. Druckfertig und qualitätsgeprüft landen die ,,Manuskripte`` beim Verlag, der dadurch erhebliche Kosten spart. Trotzdem ist die gedruckte Literatur, vor allem die Zeitschriften, inzwischen so teuer, daß die Bibliotheken in großem Umfang Zeitschriften abbestellen und/oder den Erwerb von Monographien reduzieren müssen. Die Verlage ihrerseits erhöhen bei sinkendem Absatz wiederum die Preise, die Bibliotheken müssen noch mehr abbestellen. Angesichts dieser Lage scheinen die elektronischen Medien einen Ausweg zu weisen.
Zwar werden derzeit nur etwa 5% der weltweit produzierten Zeitschriften in elektronischer Form angeboten - und das auch meistens nur zusätzlich zur Printversion. Aber die Steigerungsraten sind enorm - gerade in der jüngsten Vergangenheit. Ein Problem sind die immer noch um 10-30% höheren Kosten des Online-Gesamtabonnements im Vergleich zum Preis der gedruckten Zeitschrift. Die Bildung von Konsortion soll hier Abhilfe schaffen. Durch den Zusammmenschluß wollen die Hochschulbibliotheken ihre Verhandlungsposition gegenüber den Verlagen verbessern. (Vgl. ,,Gemeinsam stärker``, Seite...)
Neue Literatur wird mittlerweile fast vollständig elektronisch bzw. digital produziert. Die Konvertierung in netzfähige Formate ist relativ einfach. Das ist billiger und geht schneller, die digitale Speicherung bietet enorme Vorteile, und die Publikationen sind überall auf der Welt unmittelbar zugänglich. Außerdem ist es eine Möglichkeit, der Krise der traditionellen Informationsversorgung zu begegnen. Denn die Literaturproduktion verdoppelt sich etwa alle 16 Jahre, in den Naturwissenschaften sogar alle 10 Jahre. Die Bibliotheken mit ihren konstant gebliebenen oder gekürzten Etats und begrenztem Speicherplatz können kaum noch ihrem Anspruch gerecht werden, alle wichtige Literatur zur Verfügung zu stellen.

Hilfsmittel für den Überblick

Elektronische Kataloge, bibliographische (Aufsatz-)Datenbanken und Zeitschrifteninhaltsdienste  gehören ebenso in das Angebotsprofil einer digitalen Bibliothek wie elektronische Dokumentlieferdienste. Sie bilden den Schnittpunkt von herkömmlichen Medien und digitaler Technologie und haben sich in der Verbindung mit entsprechenden Suchmaschinen und Retrievalsystemen sowie angeschlossenen Dokumentlieferdiensten als sehr effiziente Hilfsmittel bei der Literaturrecherche und -beschaffung erwiesen. Elektronische Kataloge und bibliographische Datenbanken enthalten in der Regel nur die Titel der letzten 10-20 Jahre. Die vollständige Erfassung aller noch erhaltenen Bücher und gedruckten Medien in elektronischen Katalogen ist Zukunftsmusik, aber keine Illusion, denn viele wissenschaftliche Bibliotheken verfügen schon heute über elektronische Benutzerkataloge und bibliographische Datenbanken.

Bibliotheksbenutzer auf der Suche nach Literatur. Nachweis: Ausserhofer.
Um das Angebot für die Nutzer zu erweitern, schließen sie sich zunehmend zu größeren Verbünden zusammen.
Ein Beispiel für die Entstehung eines modernen Bibliotheksinformationssystems ist der Kooperative Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg (KOBV), der seit dem 1. April 1997 im Rahmen eines Projektes, an dem die Universitätsbibliotheken der FU, HU und TU von Anfang an maßgeblich beteiligt waren, am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin aufgebaut wird. Der KOBV wird in der 2. Hälfte 1999 seinen Betrieb aufnehmen und dann den Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg (BVBB) ablösen.

Schneller und billiger promovieren

Bislang erhielt akademische Weihen nur, wer zahlreiche Druckexemplare einer Dissertation ablieferte. Inzwischen akzeptieren einige Fachbereiche an der Freien Universität elektronische Dissertationen. Auch die Kultusministerkonferenz der Länder hat Ende Oktober 1997 in ihren ,,Grundsätzen für die Veröffentlichung von Dissertationen`` den Hochschulen nahegelegt, neben den bisherigen Abgabeformen die elektronische Dissertation und ihre Veröffentlichung via Internet zuzulassen. Das Projekt ,,Digitale Naturwissenschaftliche Bibliothek`` hat zusammen mit der Universitätsbibliothek entsprechende Ablieferungs- und Erschließungsmodalitäten erarbeitet und die ersten elektronischen Dissertationen auf ihrem Server zugänglich gemacht. (Vgl. ,,Mit Darwin durchs Dickicht, Seite...)
Für Doktoranden und Bibliotheken ist dieses Verfahren billiger, außerdem geht es schneller - Promotionsordnungen werden bereits entsprechend geändert.
Die Deutsche Bibliothek als Archivbibliothek hat seit Sommer 1998 begonnen, elektronische Dissertationen zu sammeln und über das Internet der Nutzung zugänglich zu machen.
Auch andere Hochschulschriften kann man elektronisch veröffentlichen: Forschungsergebnisse, Veröffentlichungsreihen der Institute oder Preprints. Dies geschieht vielfach schon verstreut auf den Servern der wissenschaftlichen Einrichtungen, aber oft verschwinden diese Publikationen in der Weite des Internets und sind über vorhandene Suchmaschinen nur schwer oder gar nicht zu ermitteln. Auch diese Informationsquellen sollten in die digitale Bibliothek integriert und gezielt für Retrieval und Online-Zugriff aufbereitet werden.

Informationsversorgung ohne Medienbruch

Neben Zeitschriften und Hochschulschriften sind weitere Informationsquellen der klassischen Bibliotheken für die digitale Bibliothek interessant: Bücher, Lehrbücher, technische Reports, Referenz- und Nachschlagewerke. Letztere sowie Enzyklopädien und geisteswissenschaftliche Klassiker gibt es bereits auf CD-ROM, und im Bereich der Digitalisierung von Volltexten gibt es eine Reihe von Förderprogrammen und Projekten.
Ziel des Förderbereichs ,,Verteilte digitale Forschungsbibliothek`` der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ist es, neben der technischen Implementierung digitaler Bibliotheken in einer ersten Phase ca. 20.000 bis 30.000 vor allem ältere Bücher zu digitalisieren und über das Internet der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Dazu kommen verschiedene Versuche, fachspezifische digitale Bibliotheken aufzubauen. Bei der Digitalisierung älterer Zeitschriftenbestände, die besonders für die Geistes- und Sozialwissenschaften von Interesse sind, gibt es bislang nur im Ausland erste erfolgversprechende Projekte wie das britische ,,Journal Storage``. In ihrem jüngsten Memorandum ,,Weiterentwicklung der überregionalen Literaturversorgung`` schlägt die DFG vor, ,,virtuelle Fachbibliotheken`` aufzubauen. Ziel ist es, sowohl für konventionelle als auch für digitale Publikationen fachliche Nachweis- und Informationsnetze zu schaffen und damit für den wissenschaftlichen Nutzer eine gebündelte Informationsversorgung möglichst ohne Medienbruch zu realisieren. In eine ähnliche Richtung zielt das vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie aufgelegte Förderprogramm GLOBAL-INFO.

Papierlose Zukunft?

Wer nutzt die digitale Bibliothek? Viele Bibliotheksbenutzer ziehen bislang die Printausgaben von Zeitschriften vor. Auch an der FU kämpfen einige Fachbibliotheken leidenschaftlich um den Erhalt der gedruckten Zeitschriften. Dabei sind die Vorteile elektronischer Zeitschriften wie z.B. Kontextualität durch Hyperlinks oder die Möglichkeit der maschinellen Inhaltsanalyse vielfach noch unbekannt. Ein wichtiges Hindernis bei der Steigerung der Akzeptanz ist die schlechte Ausstattung einiger Bereiche mit Rechnern und netzfähigen Arbeitsplätzen - unter Konkurrenzgesichtspunkten ein Nachteil für die FU. (Vgl. ,,Der kreative Umgang mit der Information``, Seite )
Prinzipielle Bedenken wie die des Philosophen Jürgen Mittelstraß, für den ,,eine 'papierlose' Zukunft der Wissenschaften eine eher bedrückende Utopie`` ist, sind noch weit verbreitet, und - entgegen einem gängigen Vorurteil - nicht an wissenschaftliche Disziplinen gebunden. Doch
die gesteigerte Effizienz wissenschaftlichen Arbeitens mit der digitalen Bibliothek ist unübersehbar, die Nutzer haben direkten Zugang zu Informationsressourcen - unabhängig von Raum und Zeit - und damit Konkurrenzvorteile. Und trotz der vielen Projekte und Versuche, digitale Bibliotheken einzurichten und ältere Bibliotheksbestände zu digitalisieren, ist die Vision von einer bücherlosen Welt, in der auch ältere gedruckte Dokumente nur noch als digitale Objekte über Netze zugänglich sind, wenig realistisch. Allein die schiere Zahl der konventionellen Medien und die damit verbundenen astronomischen Kosten machen dies unmöglich. Insofern werden die klassischen Bibliotheken mit ihren Millionen gedruckten Büchern, Zeitschriften und anderen Medien für die wissenschaftliche Literatur- und Informationsversorgung weiterhin unverzichtbar bleiben. Die digitale Bibliothek wird mittelfristig eher komplementäre Funktionen erfüllen. In Großbritannien hat sich diese Erkenntnis in dem Begriff der ,,hybriden Bibliothek`` (hybrid library) niedergeschlagen. Die hybride Bibliothek umfaßt gewissermaßen die Funktionalitäten und Dienstleistungen der klassischen ebenso wie der digitalen Bibliothek. Sie bietet ihren Nutzern sowohl elektronische Informationsquellen als auch konventionelle und gedruckte Medien einschließlich integrierter Zugangssysteme und Dokumentlieferdienste.

Die Bibliothek lebt

Ein Großteil der Beiträge und Konzepte zur digitalen Bibliothek beschäftigt sich mit technischen Fragen. Da kann zuweilen der Eindruck entstehen, daß technologische Hilfsmittel und intelligente Software den Bibliothekar ersetzen können. Einschlägige Erfahrungen zeigen jedoch, daß gerade die neuen Medien einen erheblichen Bedarf an bibliothekarischer Kompetenz schaffen. Der Bibliothekar wird dringend benötigter Wissensmanager und -vermittler, Produzent von ,,Mehrwert``-Informationsdiensten,  Organisator vernetzter Ressourcen, Qualitätsfilter angebotener Informationen, Kooperationspartner der Rechenzentren und nicht zuletzt Pfadfinder (,,trailblazer``) in den Weiten und Tiefen des Internets sowie individueller Informationsberater.
Die digitale Bibliothek erfordert die Integration der zunehmenden Vielfalt elektronischer Publikationen mit den ebenfalls steigenden und weiterhin unverzichtbaren gedruckten Veröffentlichungen in ein kohärentes Gesamtsystem. Ihre eigentliche Leistung ist die Vermittlung von Medien und anderen Informationsquellen an Endnutzer in einer Vielfalt von Formaten und von einer Vielzahl verteilter lokaler und entfernter Ressourcen - möglichst integriert und ohne Medienbruch.
Damit öffnet sich ein weites Feld der notwendigen Zusammenarbeit von Wissenschaft, Fachinformationszentren, Bibliotheken, Rechenzentren, Verlagen, Buchhandel und Softwareanbietern.
Auswahl und Angebot der digitalen Medien hängen in erster Linie von den Bedürfnissen der Wissenschaftler und Studierenden sowie vom entsprechenden Sammel- und Erwerbungsprofil der Bibliothek ab, andererseits aber auch von den technischen und ökonomischen Möglichkeiten. Der Einsatz neuer Informationstechnologien erfordert die enge Zusammenarbeit von Bibliotheken und Rechenzentren. Die Einrichtung einer digitalen Bibliothek ist aber auch eine Frage der - klassischen ebenso wie digitalen - bibliothekarischen Dienstleistungen, die eine Universität sich leisten und ihren Wissenschaftlern und Studierenden bieten möchte. Angesichts der skizzierten Möglichkeiten und Entwicklungen ist es erstaunlich, daß im kürzlich veröffentlichten ,,Berliner Manifest für eine neue Universitätspolitik``  die Bibliotheken als wesentliche Infrastruktureinrichtungen von Forschung, Lehre und Studium (und als `kulturelles und wissenschaftliches Gedächtnis' der Gesellschaft) an keiner Stelle erwähnt werden. Wollen wir annehmen, daß dies der Qualität und Selbstverständlichkeit bibliothekarischer Dienstleistungen geschuldet und kein Omen für die zukünftige - digitale und klassische - Literatur- und Informationsversorgung an den Berliner Hochschulen ist, sonst wird es digitale Bibliotheken überall geben, nur nicht in der Hauptstadt.

Remco van Capelleveen , Universitätsbibliothek


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