Brief aus Belgrad
Es ist schon früher Abend, und ich sitze noch immer im Lesesaal
der Nationalbibliothek Belgrads, der "Narodna Biblioteka". Es wird Zeit,
mich auf den Weg nach Hause zu machen. Mein Zuhause - das ist nun schon
seit fast acht Monaten ein Neubaublock in dem Belgrader Stadtteil Novi-Beograd.
Ausgerüstet mit einem DAAD-Stipendium wollte ich in der Hauptstadt
Jugoslawiens Land und Leute kennenlernen und gleichzeitig meine Magisterarbeit
zu den bilateralen Beziehungen zwischen Rußland und Serbien vorbereiten.
An der Fakultät für Politische Wissenschaften der Belgrader
Universität war man auch von Beginn an bemüht, mir hierfür
die bestmöglichen Bedingungen zu bieten. Als einziger westlicher Austauschstudent
(von griechischen Studenten abgesehen, die regulär an der Belgrader
Universität studieren) genieße ich sogar gewisse Sonderrechte,
wie zum Beispiel einen eigenen Computerarbeitsplatz mit Internet-Anschluß
- eine Seltenheit für die rund 2000 Studenten dieser Fakultät.
Die meisten von ihnen studieren auf Diplom, das aber, meiner Meinung nach,
nicht unbedingt mit dem deutschen Abschluß identisch ist. Dieser
entspricht eher dem serbischen "Magister", der sich an das Diplomstudium
anschließt. Nach einigen Anfangswiderständen - da ich ja bisher
nur die Zwischenprüfung und keinen richtigen Abschluß vorweisen
konnte - habe ich mich dann aber auch in diesen Studienabschnitt einschreiben
können...
Marianne Albinsky / z. Zt. Belgrad
Die "Narodna Bibliotheka" befindet sich im Zentrum der Stadt, am Rande
des Karadjordjev-Parks. Ebenfalls dort befindet sich die "Kirche des Heiligen
Sava", ein mächtiger Stahlbetonbau. Gleich einem Symbol für ein
starkes und gefestigtes Serbien bestimmt er mit seinen goldenen Kreuzen
die Silhouette der Stadt. Nur ging den Bauherren mit der Zeit das Geld
aus, so daß die Kirche bis heute ein hohles Monstrum geblieben ist...
An der Haltestelle muß ich mich auf längeres Warten einstellen.
Doch scheint es mir, als sei ich die einzige, die sich noch darüber
ärgert. Nach den Sanktionen haben sich die meisten Serben an die schlechtere
Situation gewöhnt und sich mit ihr arrangiert. Zu der sowieso schon
unzureichenden materiellen Ausstattung, seien es nun fehlende Busse, Computer
oder Bücher, kommt so auch noch geringes persönliches Engagement
hinzu.
Im Januar hatte das Verkehrschaos seinen Höhepunkt erreicht, als
das gesamte städtische Verkehrsunternehmen "GSP" für höhere
Einkommen streikte. Kein Bus, keine Straßenbahn war auf den Straßen
zu sehen. Dieses Ereignis erzürnte dann doch nicht wenige, vor allem,
da die Arbeit beim "GSP" zu den bestbezahlten gehört. Man vermutete
vielmehr, daß die "Sozialistische Partei Serbiens" (SPS) die Proteste
initiiert habe und sie zur Diskreditierung der oppositionellen Stadtregierung
instrumentalisieren wolle. Nach drei Wochen heftiger Dispute wurde der
Streik aufgelöst, ohne daß er nennenswerte Nachwehen verursacht
hätte. Indes war er auch die Stunde der privaten Busunternehmen, die
nun, oft mit modernen Reisebussen, die ausgefallenen Linien ersetzten und
sich auch heute noch im Straßenbild behaupten...
Aus einem der letzen Busse ist ein Mann ausgestiegen, der nun versucht,
kleine Kirchenkalender zu verkaufen. Wahrscheinlich ohne großen Erfolg.
Denn die Serben sind weniger religiös, als man vielleicht annehmen
könnte und es sich die serbische Kirche wünscht. Vieles
ist eher "Tradition". Eines dieser traditionellen Feste ist das Hausheiligenfest,
daß es in dieser Art nur bei den Serben gibt. Dabei hat jede Familie
ihren eigenen Heiligen, der von Generation zu Generation weitergegeben
wird. Dieser religiöse Hintergrund wird auch weiterhin bewußt
wahrgenommen, doch liegt heute das Gewicht eher auf dem Beisammensein
mit der Familie und Freunden bei gutem, reichlichem Essen. Die Gastfreundschaft
der Serben ist auch bei dieser Gelegenheit sprichwörtlich - wie überall
auf dem Balkan gehört sie mit zur Tradition. Da spielt es keine Rolle,
wie hoch das Einkommen der Familie ist. Und es ist in der Regel eher gering.
Krieg und Sanktionen haben das Volk an den Rand der Armut gebracht. Während
der Durchschnittslohn Ende der 80er Jahre noch über 1000,- DM betrug,
liegt er jetzt irgendwo zwischen 200,- DM und 300,- DM. Zur Zeit der Sanktionen
und der Hyperinflation sank er sogar auf umgerechnet 2,- DM. Erleichternd
in dieser Situation war, daß die meisten Menschen in der Stadt auch
noch mit einem Bein auf dem Lande leben oder doch wenigstens Bekannte oder
Verwandte haben, die sie von dort mit Lebensmitteln versorgen konnten.
Auch heute ist diese Verbindung nicht ohne Bedeutung. Denn mit einem normalen
Monatseinkommen ist das alltägliche Leben noch immer nur schwer zu
bezahlen. Extraausgaben für Kleidung und ähnliches sind bei Preisen,
die sich nur unwesentlich von denen im Westen unterscheiden, eigentlich
kaum möglich. Trotzdem findet sich dann doch noch von irgendwoher
Geld für die neue Kluft. In diesem Sinne sind die Serben vielleicht
wirklich Überlebenskünstler, eine Kunst, die sie nicht zuletzt
unter den Bedingungen der Sanktionen gelernt haben.
Die Erfahrungen von internationalen Druck und Isolation haben aber
auch die Einstellungen gegenüber dem Westen geprägt. Zwar ist
man für persönliche Kontakte sehr aufgeschlossen, doch sieht
man in den Staaten eher potentielle Feinde, deren Politik gegen Serbien
ihre Wurzel bereits im 19. Jahrhundert habe. Schlagworte wie "Amerikanischer
Imperialismus" und der deutsche "Drang nach Osten" sind dabei nicht selten
Erklärungsmuster für die internationale Intervention im Jugoslawienkonflikt.
Natürlich ist man auch bereit, über serbische Fehler zu reden.
Doch selbst viele junge Leute sind alten wie neuen national(istisch)en
Stereotypen verhaftet, so daß die Selbstkritik häufig nur zu
einem "auch wir, aber..." reicht. Der Hauptschuldige sitzt für die
meisten draußen, sei es in Kroatien, in Amerika oder in den islamisch-fundamentalistischen
Ländern. So sehr sie die undifferenzierte Sichtweise des Westens auf
die Ereignissse im ehemaligen Jugoslawien kritisieren, so sehr sind sie
selbst in ihrer einseitigen Betrachtungsweise gefangen. Das macht das Diskutieren
kompliziert und anstrengend, vor allem auch deshalb, weil Kritik am jugoslawischen
Staat oft persönlich und beleidigend aufgefaßt wird. Da gibt
es auch keinen Unterschied zwischen Studenten und Professoren. Diese Erfahrung
mußte ich leider an meiner Fakultät machen, an der viele Lehrbeauftragte
zum regierungsnahen Zirkel gehören. Und abgesehen von dem allgemeinen
Erfahrungszuwachs waren die Seminare und Vorlesungen für mich auch
eher wenig ergiebig. Denn was für die wirtschaftliche Situation gilt,
gilt ebenso für die Wissenschaft: Die Sanktionen haben das Land von
der weltweiten Entwicklung abgeschnitten. Zudem sind die Lehrveranstaltungen,
zum Beispiel "Internationale Beziehungen" oder "Die Außenpolitik
Jugoslawien", auch sehr allgemein gehalten, so daß sie jedes Jahr
in ähnlicher Form wiederholt werden können. Lehrbücher ersetzen
im Postdiplomstudiengang zum großen Teil die Lektüre wissenschaftlicher
Originalwerke...
Plötzlich spricht mich ein ärmlich aussehender Mann an -
ob ich nicht ein paar Dinar für ihn übrig habe. Obwohl es auch
in Berlin Bettler gibt, muß man sich an dieses Phänomen in Belgrad
doch erst gewöhnen. Alte und junge Männer und Frauen, mit und
ohne Kind, Invaliden, oft beinamputiert. Vielleicht waren sie als Soldaten
oder auch als Zivilisten am Krieg in Bosnien beteiligt. Auf jeden Fall
hat es viele der serbischen Flüchtlinge aus Bosnien nach Belgrad getrieben.
Die meisten leben noch immer ohne Paß und Staatsangehörigkeit,
lediglich mit einem Papier ausgestattet, das sie als Flüchtling ausweist
und ihnen die Möglichkeit bietet, in Jugoslawien zu leben. Aber nur
wenige sehen eine Chance für sich in diesem Land. Wer die Möglichkeit
hat, reist aus. Das gilt auch für Serben aus Serbien. Die Arbeitslosigkeit
ist hoch, und die angestrebte Privatisierung wird weitere Arbeitsplätze
kosten. Und auch die Enttäuschung über die Politik ist groß.
Die Grenzen zwischen Regierung und Opposition sind verschwommen. Als bestes
Beispiel gilt hierbei das Hick-Hack nach den letzten Wahlen. Herausgekommen
ist letzlich eine Koalition, mit der so recht niemand gerechnet, die aber
auch niemanden erstaunt hat: Die neue Regierung bilden nun die SPS, ihr
Ableger "Jugoslawische Linke" sowie die Serbisch-Radikale Partei des Ultranationalisten
Vojislav Seselj. Diese Koalition soll einen Gegenpol zur Regierung der
Teilrepublik Montenegro bilden, deren Präsident Milo Djukanovic bereits
in direkter Opposition zu Milosevic steht.
Viele versuchen, der Politik in ihrem eigenen Leben weitestgehend aus
dem Wege zu gehen. Zusehr war sie in den letzten Jahren wichtiger Bestandteil.
Doch die Angst, daß sie es wieder werden könnte, besteht. Das
Kosovo-Problem läßt sich auch in Belgrad nicht totschweigen.
Manche erinnert die momentane Situation gefährlich an die Zeit vor
dem Ausbruch des Bosnien-Konflikts. Und für einen neuen Krieg, nun
auch auf eigenem Boden, sind die wenigsten bereit. Die Sehnsucht nach einem
endgültigen Frieden ist überall in der Bevölkerung zu spüren.
Will die Bevölkerung jedoch nicht in einen weiteren Strudel der gesellschaftlichen
Gleichschaltung geraten, sind auch Proteste bitter nötig!
Mittlerweile ist meine Bahn angekommen, und auch das übliche Drängeln,
Schubsen und Fluchen hat begonnen. Aber es stört mich schon nicht
mehr. Auch ich habe mich eigentlich daran gewöhnt.
Marianne Albinsky studiert im 9. Semester Osteuropastudien
und Volkswirtschaftslehre an der FU. Seit Oktober 1997 ist sie für
ein Jahr an der Universität in Belgrad. Ihren Aufenthalt möchte
sie vor allem dazu nutzen, ihre Magisterarbeit zu den Beziehungen zwischen
Serbien/ Jugoslawien und Rußland vor dem Hintergrund des Bosnienkonflikts
vorzubereiten.