Erziehungswissenschaft

Zeichnen sich Weimarer Verhältnisse in Ostberlin ab?



Im August und September 1997 sind in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Europäische Bildungsforschung, gefördert von der Senatsverwaltung für Schulwesen und der Stiftung für Jugend und Familie, rund 6.600 Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren in Ost- und Westberlin zu Persönlichkeitsmerkmalen, Familie, Freizeitverhalten, Zukunftsperspektiven und politischen Einstellungen befragt worden. Zu diesem letzteren Komplex wurden nur die Jugendlichen in den Klassen 9 bis 12 der allgemeinbildenden Schulen und die Jugendlichen, die sich in der Berufsausbildung befanden (Klassen 11 und 12 des berufsbildenden Schulwesens), befragt. Faßt man die Ergebnisse zusammen, so ist zunächst positiv zu bemerken, daß bei einer Aufschlüsselung nach Familien- und Freizeitlebensstilen nur 4% der Jugendlichen zu erkennen gaben, daß sie in problematischen Familienverhältnissen aufwachsen, das sind Familienverhältnisse, die durch starke innerfamiliäre Konflikte zwischen Jugendlichen und Erziehungsberechtigten gekennzeichnet sind. 8% der befragten Jugendlichen zeigen in ihrem Freizeitverhalten Auffälligkeiten. Insofern wird deutlich, das sowohl in bezug auf die Familie als auch in bezug auf das Freizeitverhalten die Jugendlichen in der überwiegenden Mehrzahl über Umwelten verfügen, die als günstig anzusehen sind. Dennoch wird auch ein Bedarf an präventiven Maßnahmen in der Jugendhilfe, insbesondere für diejenigen Jugendlichen sichtbar, die sich in problematischen Umfeldern bewegen.

Schüler einer 10. Klasse diskutieren nach dem Unterricht (Foto: David Ausserhofer)
Dramatisch sind die Ergebnisse in bezug auf die politischen Einstellungen der Jugendlichen. Hier fällt zunächst auf, daß es einen deutlichen Ost-West-Unterschied gibt, der sich sowohl bei den Schuljugendlichen im allgemeinbildenden Schulwesen als auch bei denen im berufsbildenden Schulwesen nachweisen läßt, jedoch differenziert betrachtet werden muß. Während in Ostberlin bei den Jugendlichen im allgemeinbildenden Schulwesen 41% Jugendliche erklären, nicht zu wissen, welche Partei sie bei der nächsten Wahl präferieren sollen, findet sich in dieser Gruppe mit 13,3% für die PDS und 13,9% für die Grünen ein Unterstützungspotential für Parteien, die insbesondere von Jugendlichen mit einer deutlich linken Einstellung bevorzugt werden. Demgegenüber wollen weniger als 12,6% für die SPD votieren und nur 6,9% für die CDU. Rechte Parteien werden von 6,7% dieser Jugendlichen genannt. Bei den Auszubildenden in Ostberlin sind wiederum die Nichtwähler mit 36,3% am stärksten. Hier folgen aber rechte Parteien mit 20,8%, auf dem zweiten Platz, die PDS wird nur noch von 10,3% unterstützt; die SPD 11,6% sowie die CDU sind mit jeweils 6% deutlich weniger präferiert. Anders stellen sich die Verhältnisse in Westberlin dar. Hier spielt die PDS mit 2% bei den Schuljugendlichen im allgemeinbildenden Schulwesen und 2,2% bei den Auszubildenden eine völlig unbedeutende Rolle. Bei den Schuljugendlichen im allgemeinbildenden Schulwesen liegen die Grünen mit 23,1% und die SPD mit 18% auf dem ersten Platz, die CDU erhält nur von 13,3% Unterstützung und die rechten Parteien sind mit 3,4% deutlich weniger attraktiv als im Ostteil von Berlin. Die Auszubildenden bevorzugen demgegenüber mit 19,6% die SPD, mit 15,5% die CDU und mit 12,3% die Grünen und erst auf dem vierten Platz finden sich mit 10,5% rechte Parteien. Auch sind die Jugendlichen, die nicht wählen wollen, mit 34,2% bei den Schuljugendlichen, die im allgemeinbildenden Schulwesen und bei den Auszubildenden mit 31,4% deutlich geringer vertreten als in Ostberlin.

Fragt man nun, was die Jugendlichen dazu bringt, rechte bzw. linke Einstellungen zu präferieren, so ergeben sich in Ost- sowie in Westberlin ähnliche Gründe. Verdrossenheit über Parteienpolitik und Politik sind im Osten wie im Westen die stärksten Beweggründe, linke Einstellungen auszubilden. Die rechten Einstellungen werden demgegenüber von einem Konglomerat beeinflußt, bei dem problematische Persönlichkeitsmerkmale - ein übersteigerter Egozentrismus, die Tendenz, sich sozial zu vergleichen und übersteigerte Erwartungen an sich selbst - an erster Stelle, zweitens Verdrossenheit über Parteienpolitik und Politik und drittens die Wahrnehmung sozialer Probleme zusammenkommen. Diese Befunde lassen erkennen, daß a) die Ergebnisse von Sachsen-Anhalt kaum nur einer augenblicklichen Stimmung geschuldet sein können und b) bei rechten Einstellungen die Beschreibung unzutreffend ist, daß es sich hier um eine Protestwahl handelt. Der starke Einfluß von problematischen Persönlichkeitsvariablen läßt vielmehr tieferliegende Ursachen für rechte Einstellungen vermuten. Bedrohlich ist darüber hinaus ein weiterer in Ostberlin sichtbarer Zusammenhang. Die Gruppe der Nichtwähler zeigt im allgemeinen politische Einstellungen, die eher auf ein SPD- bzw. CDU-Wahlverhalten schließen lassen. Offensichtlich ist die Mitte des Parteienspektrums für einen großen Teil der Jugendlichen nicht mehr attraktiv. Demgegenüber schöpfen die rechten Parteien und auch die am linken Parteienrand - PDS und Grüne - ihr Wählerpotential besser aus. Diese Ergebnisse deuten zumindest bei der Gruppe der von uns befragten Jugendlichen auf eine Entwicklung hin, die an die Weimarer Republik erinnert. In Westberlin sind die Ränder (noch?) nicht so stark besetzt. Aber auch hier büßt die Mitte an Attraktivität bei den Jugendlichen ein, wie der hohe Prozentsatz der Nichtwähler erkennen läßt, die hier ebenfalls politische Einstellungen angeben, die eher zur Mitte tendieren. Hier deutet sich eine Entwicklung an, die in den nächsten Jahren sorgfältig beobachtet werden muß.
Hans Merkens


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