Brief aus Santiago de Chile


„¡Buen provecho!“, guten Appetit, wünscht Verònica mit einem verschmitzten Lächeln, während sie das Tablett mit den heißen Empanadas, dem chilenischen Nationalgebäck, auf den Tisch stellt. Dazu gibt es Reis, Bohnen, bayerisches Weizenbier, das ich mitgebra cht habe, und Gaseosa, Zitronenlimonade, für die Kinder. Ein Abend bei der Familie Camacho in Quilicura, einem gemischten Stadtteil am nördlichen Ende von Santiago de Chile. Vater Pedro betreibt eine Kleinwerkstatt für Hausgeräte und fährt nebenher Taxi, M utter Verònica arbeitet als Putzfrau bei der Zweigstelle einer englischen Computerfirma im wohlhabenden Stadtteil Las Condes. Die Tochter Rebeca, alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern, hat einen Job als Kartenverkäuferin in einem städtischen The ater und verkauft tagsüber Lotterielose auf der Plaza de Armas im Zentrum. Der fünfundzwanzigjährige Sohn Jaime verdingt sich als selbständiger Fuhrunternehmer und jobbt ab und zu als Türsteher in einer Nobeldiskothek am Stadtrand. Die Großeltern Vincella und Josè leben mehr schlecht als recht von der knapp bemessenen Altersversorgung und kümmern sich ansonsten um die Kinder ihrer Enkeltochter. Das Haus ist ein bescheidener aber rustikaler, ferienhausähnlicher Wohnkomplex, der aus vier Zimmern plus Küche un d Bad besteht. Familienfotos sowie ein Bild des Papstes nebst Kruzifix schmücken die Wände. Einen Hauch von Luxus verleiht dem Interieur das Fernsehgerät japanischer Herkunft mit Satellitenempfang, welches stumm in einer Ecke des Raumes steht. Den Drehtisc h vor dem Glasschrank zieren kleine Nippesfiguren aus Plastik, im Vorgarten hängt die Wäsche zum Trocknen und bis zur Straße sind es nur wenige Schritte. Aus der Ferne dröhnt das Hupen des Feierabendverkehrs zu uns herüber.


Von Benedikt Vallendar/z.Zt. Santiago de Chile


Gut zweieinhalb Monate ist es nun her, daß ich nach einem 22-Stundenflug von Düsseldorf über Amsterdam und Buenos Aires hier angekommen bin. Derzeit herrschen hochsommerliche Temperaturen von knapp 31 Grad, in den Parks stehen die Orchideen in voller Blüte , und die Vögel zwitschern aufgeregt um die sattgrünen Palmenhaine, auf der Suche nach Baumaterial für ihre Nester. Ich wohne im Stadtviertel Vitacura, einem Teil des sogenannten Barrio Alto, welches nicht weit vom Gelände des deutschen Sportclubs Manquehu e entfernt liegt. Das allabendliche Schwätzchen mit dem Nachbarn gehört dort ebenso zum Flair wie das Kreischen der Kinder im nahegelegenen Swimmingpool beim Sprung ins wohltemperierte Wasser. Die Vorgärten machen einen gepflegten Eindruck, und vor unliebs amen Besuchern schützen Alarmanlagen nebst hoher Zäune, deren gußeiserne Spitzen bedrohlich nach außen gebogen sind. Ein Ort der Ruhe und Entspannung. Ganz anders hingegen das hektische Treiben in der Innenstadt, wo es einem nicht selten buchstäblich den A tem verschlägt. Aufgrund seiner geographischen Lage im Kessel zweier Gebirgsketten gilt Santiago de Chile als eine der weltweit am schlimmsten vom Smog betroffenen Großstädte. Ruhe und Erholung fernab der Außenbezirke findet der Besucher u.a. auf dem große n Zentralfriedhof, nördlich des Hauptbahnhofs, wo auch Andrès Bello, der große Universalgelehrte des 19. Jahrhunderts, begraben liegt.

Meinen Arbeitsplatz habe ich an der historischen Fakultät der Katholischen Universität (Universidad Catòlica) im Süden von Santiago de Chile auf dem Campus Oriente. Die Universidad Catòlica ist direkt dem Vatikan unterstellt und gilt als eine der renommier testen Hochschulen des Landes. Hier forsche ich für meine Dissertation, in der ich mich mit der „Rezeption der südamerikanischen Reiseberichte Alexander von Humboldts in der politischen deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“ beschäftige. Im Zent rum meiner Arbeit steht die Frage, ob und wenn ja, inwiefern sich bei der Rezeption eben jener Werke von Humboldts seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart Entwicklungslinien aufzeigen lassen. Die Frage, ob bestimmte Formen der Bewertung für ihre Zeit typisch bzw. eher atypisch waren oder ob die Autoren sich bei der Bewertung stets ihre persönliche Freiheit bewahrt haben, steht dabei ebenso zur Disposition wie, ob die Annnäherung an den Weltreisenden Alexander von Humboldt und der damit einhergehe nden Beschäftigung mit dem Phänomen des „Fremden“ unter jeweils unterschiedlichen politischen und ideologischen Vorzeichen in Deutschland erfolgte. Das Ziel meines Forschungsaufenthalts in Chile besteht nun darin, die Stellungnahmen deutscher Kommentatoren in Lateinamerika zu eben jener Reise des preußischen Aristokraten durch die „Neue Welt“ in diversen Bibliotheken und Archiven ausfindig zu machen und, unter Berücksichtigung der lateinamerikanischen Perspektive sowie geistes- und sozialgeschichtlicher Fra gestellungen, einem analytischen Raster zu unterziehen. Dank eines selbstauferlegten Pensums von 5-6 Stunden täglich komme ich mit meiner Arbeit zügig voran, die hiesige Dozentenschaft und auch das nichtwissenschaftliche Personal haben sich als sehr kooper ativ erwiesen. Das hiesige Goethe-Institut hat mir freundlicherweise seine technische Ausrüstung (Computer, Fax und Scanner) zur Verfügung gestellt. Auch bei der Kontaktaufnahme zu wichtigen Institutionen und Forschungsstellen vor Ort, wie etwa der einzige n deutschsprachigen Zeitung in Chile, dem „Condor“, sowie dem Deutsch-Chilenischen Bund (DCB), welcher über ein eigenes Archiv mit Originaldokumenten verfügt, war mir das Goethe-Institut sehr behilflich. Denn die Suche nach wichtigen Quellen hat sich mitun ter als ausgesprochen mühsam erwiesen, da sich deren Fundorte im gesamten Stadtgebiet verteilen.

Aber das Arbeiten an der Universidad Catòlica läßt einen schon wegen ihrer Umgebung diese Schwierigkeiten vergessen: Von der Bibliothek der Universität aus schweift der Blick durch das Hauptportal in den mit Säulen und Skulpturen reich verzierten Patio (In nenhof). Ab und an schwingen die melodiösen Saitenklänge eines Bandolero aus dem nahe gelegenen Musikinstitut zu uns herüber - eine willkommene Abwechslung vom manchmal trockenen Sinnieren über allerlei Geschriebenem. Die frisch geharkten Blumenbeete präse ntieren derzeit ihre Farbenpracht, und gegen Mittag öffnet sich der azurblaue Himmel zumeist mit Sicht auf die schneebedeckten Gipfel der westlichen Andenkordillere. Was mögen wohl die ersten spanischen Siedler, die vor fast 500 Jahren ins Land kamen, beim Anblick dieses imposanten Naturschauspiels empfunden haben... Das Leben in Santiago de Chile ist sehr aufregend, und so mancher Neuankömmling merkt recht bald, daß die Uhren hier, in der „Neuen“ Welt, doch ein wenig anders ticken als daheim. Allein das Bu sfahren wäre eine Erlebnisreportage wert, denn offizielle Haltestellen sind eher die Ausnahme und Verkehrsregeln oftmals nur von „dekorativem“ Charakter ... Dafür sind die Menschen zumeist sehr aufgeschlossen und hilfsbereit, die Aufnahme zwischenmenschlic her Beziehungen geht in der Regel unkomplizierter vonstatten als in Deutschland. Auch die Lebenshaltungskosten halten sich in Grenzen. Ein Einzelzimmer kostet, je nach Wohnlage, umgerechnet zwischen 200 und 300 DM, eine U-Bahnkarte etwa 60 Pfennig. Allerdi ngs sind die Löhne sehr niedrig. Nicht wenige Chilenen müssen mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausüben, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Der Stundenlohn für Studenten beträgt zum Beispiel nur etwa drei (sic!) Mark. Ob als Fahrradkurier, Kassiere rin in einem Fast-Food-Restaurant oder Aktmodel an der Kunsthochschule, die Tätigkeitsfelder chilenischer Studentinnen und Studenten unterscheiden sich nur unwesentlich von denen ihrer deutschen Kommilitonen. Typisch sind auch die zahlreichen mobilen Eis- und Bonbonverkäufer, die allerorts für 100 Pesos (ca. 40 Pfennig) ihre Ware feilbieten.

Doch zurück zu den Camachos. Wir sind mittlerweile beim Nachtisch angelangt. Verònica serviert selbstgebackenen Preiselbeerkuchen mit Vanillesoße. Vater Pedro erzählt, daß das Geschäft derzeit schlecht laufen und er sich wahrscheinlich nach einer weiteren Nebentätigkeit umsehen werde, vielleicht als Parkwächter in einem Vergnügungspark außerhalb der Stadt. Als ich von der momentan auch nicht rosigen Lage auf dem heimischen Arbeitsmarkt berichte, wird dies von meinem Gegenüber mit staunender Skepsis zur Ken ntnis genommen. In den Augen vieler Latinos gelten die USA und Westeuropa, und dabei insbesondere die Bundesrepublik, noch immer als das große Vorbild in Sachen Wohlstand und Wirtschaftskraft. Abgesehen von den jüngsten Pressemeldungen um die etwa 400 Kilo meter südlich gelegenene Colonia Dignidad genießen die Deutschen in Chile einen guten Ruf. Das deutsche Krankenhaus (Clìnica Alemana) von Santiago gilt als eines der besten seiner Art im ganzen Land, und auch das Goethe-Institut kann sich einer regen Nachf rage nach Sprachkursen erfreuen. Die chilenische Zentralbank ist, nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank, in ihren geldmarktpolitischen Entscheidungen unabhängig, was dem Land seit Jahren eine für Lateinamerika nahezu beispiellose wirtschaftliche Stabil ität beschert hat. Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Kinder spielen im Schein der schwachen Straßenbeleuchtung Fußball, der Verkehrslärm aus dem Zentrum ist merklich dünner geworden. Am Horizont glitzert die Skyline der Metropole, eine kühle Brise aus den Bergen vermischt sich allmählich mit der Warmluft des Tages.
Und ich hoffe auf viele weitere Tage in Santiago de Chile.

Benedikt Vallendar hat im August 1996 das 1. Staatsexamen für das Amt des Studienrats in den Fächern Spanisch und Geschichte abgelegt und ist nun Doktorand am FB Geschichtswissenschaften an der FU. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der „Rezeption der südamerikanischen Reiseberichte Alexander von Humboldts in der politischen deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“. Derzeit hält er sich zu Forschungszwecken in Santiago de Chile am dortigen Goethe-Institut auf und kehrt im März zurück.


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