Der Soziologe Dieter Claessens ist tot

Mit überlegen heiterer Gelassenheit


Der Problemhorizont von Dieter Claessens wissenschaftlichem Denken wird durch die zentrale These seines Buches "Das Konkrete und das Abstrakte - Soziologische Skizzen zur Anthropologie" umrissen. Claessens schreibt darin, "daß neben der Hauptfähigkeit zur Distanzierung von der "alten Natur" das Hauptdefizit des Menschen seine evolutionär bedingte Unfähigkeit ist, zum Organisieren großer Populationen und den sich dabei unvermeidlich ergebenden Komplikationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden".

Es wird auch weiterhin für Soziologen lohnend bleiben, über diese Frage nachzudenken sowie bei Claessens zu lesen und zu lernen, wie schwer, aber auch wichtig es ist, vom Konkreten zum Abstrakten vorzudringen, ohne das Konkrete zu verlieren.

Dieter Claessens wurde 1921 in Berlin geboren. Wie für seinen Geburtsjahrgang charakteristisch, war er unmittelbar nach dem Abschluß des Gymnasiums Soldat im zweiten Weltkrieg. Nach viereinhalb Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekehrt, interessierte er sich zunächst für die Dramaturgie des Theaters, schrieb sich dann aber an der neu gegründeten Freien Universität ein. Nach der Zeit der großen Unterbrechung unter der NS-Herrschaft fand hier auch die deutsche Soziologie einen ihrer Neuanfänge.

1962 mit einer Arbeit über "Familie und Wertsystem" habilitiert, erhielt Claessens anschließend einen Ruf auf eine ordentliche Professur in Münster, veröffentlichte 1963 zusammen mit Arno Klönne und Armin Tschoepe eine "Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland", die seither etliche Auflagen erlebte, und wurde 1966 an die FU zurückberufen.

Hier war er Ordinarius für Soziologie und Anthropologie. Und hier wurde er auch eigentümlicher Mitspieler-Zeuge der zum Teil höchst aufgeregten antiautoritären Neuorientierungsprozesse, die sich unter jenen Generationen von Studenten und jüngeren Assistenten abspielten, die inzwischen die 68er genannt werden. Als die Räume der Soziologie in der Garystraße in Berlin "besetzt" wurden, hat er die Besetzer damit überrascht, daß er in den Räumen geschlafen hatte und früher aufgestanden war als sie, um zu verhindern, daß sie die Türen einschlugen. Sie mußten ihn ernst nehmen, weil er sie seinerseits ernst nahm und sich jederzeit zu tabufreiem Gespräch bereithielt, während er sich gegenüber ihren Einschüchterungsversuchen zugleich völlig unbeeindruckt zeigte.

1973 trat er inmitten der gerade modischen akademisch ideologischen Auseinandersetzungen um die Hinfälligkeit der bürgerlichen Gesellschaft mit einer sozialgeschichtlichen Arbeit hervor, die er in betonter Bemühung um handfest verständliche Wissenschaft zusammen mit seiner Frau Karin erarbeitet hatte, und die, unter dem Titel "Kapitalismus als Kultur", Entstehung und Grundlagen dieser bürgerlichen Gesellschaft in ihren Eigentümlichkeiten eben als Kultur begreiflich zu machen versuchte.

1974 übernahm Claessens für eine Vierjahresperiode das Rektorat der Berliner Fachhochschule für Sozialpädagogik und Sozialarbeit, und zwar ohne sein Ordinariat an der FU aufzugeben. Als akademischer Lehrer wie als steuernder Organisator war er hier wie dort vorbildlich um die Förderung seiner Studenten, Mitarbeiter und Kollegen und um anschauliche Verständlichkeit soziologischer Erkenntnisse bemüht, die zu vermitteln ihm vor allem in der Spontaneität des gesprochenen Wortes gelang.

Das Manuskript zu der Arbeit über "Das Konkrete und das Abstrakte", die im Suhrkamp-Verlag zuerst 1980 veröffentlicht wurde, stellte er mit Tonbanddiktaten und Schreibkorrekturen 1979 im Zweibettzimmer des FU-Klinikums fertig. Die großen Belastungen jener Jahre hatten an seiner ohnehin nicht starken Gesundheit genagt und ihm einen ersten Herzinfarkt sowie eine Herzoperation gebracht, aus der man ihn mit der Perspektive einer weiteren Lebenserwartung von zwei bis fünf Jahren entließ. Er ließ sich darum 1983 vorzeitig pensionieren und konzentrierte sich seither nur noch auf ebenso freiwillig übernommene wie reichliche Aufgaben, z.B. als Gutachter eines großen Programms der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung von Frauen.

Dietrich Claessens war bis zu seinem wirklichen Ende, dessen Unabwendbarkeit er in überlegen heiterer Gelassenheit um mehr als eineinhalb Jahrzehnte hinauszustrecken verstanden hatte, ein unablässig tätiger und stets ebenso unabhängig ernst wie freudig denkender Mensch.

Prof. Jürgen Fijalkowski


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