Ende des Wintersemesters wurde der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt emeritiert

Über die Orthodoxie hinaus


Eine biblische Epoche ist zuende - 40 Jahre enge Verbundenheit von Friedrich Wilhelm Marquardt mit der Freien Universität. Denn der Berufung zum Professor für Evangelische Theologie 1976 war schon eine lange gemeinsame Geschichte mit der FU vora usgegangen: als Studentenpfarrer seit 1957 und als Mitarbeiter Helmut Gollwitzers seit 1963.

Marquardt wurde 1928 in Eberswalde geboren. Als Jugendlicher war er noch gegen Kriegsende zur Wehrmacht einberufen worden und bald darauf in Gefangenschaft geraten. Nach dem Krieg studierte er Evangelische Theologie in Marburg, an der ehemaligen Kirchlich e n Hochschule in Berlin und - was entscheidend für seine weitere theologische Entwicklung wurde - bei Karl Barth, dem geistigen Vater der Bekennenden Kirche, in Basel. Nach Vikariat in Bayern und Pfarramt im Rheinland kam er 1957 zusammen mit Gollwitz er, de r trotz Barths Warnung vor "dieser so ausgesprochen ,westlichenÕ Universität" der "Verlockung" durch die FU nachgegeben hatte, nach Berlin.

Grafik11959 begleitete er die erste nach Israel eingeladene Gruppe deutscher Studenten auf ihrer Nahostreise - eine prägende Erfahrung für seine ganze weitere theologische A rbeit. Zusammen mit Gollwitzer zählte er 1961 zu den Begründern der Arbeitsgemeinschaft "J uden und Christen" beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, der er bis heute verbunden ist. Die durch diese Arbeitsgemeinschaft ermöglichte lebendige Begegnung mit Juden stellt seither den wichtigsten Kontext für Marquardts Theologisieren d ar.

1967 promovierte er an der Kirchlichen Hochschule in Berlin mit einer Arbeit über Israel im Denken Karl Barths ("Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie"), für die er 1968 mit der ersten von der Gesellschaft f&u uml;r Christlich-Jüdische Zusam menarbeit verliehenen Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet wurde.

In den Jahren der Studentenbewegung unternahm Marquardt vielfältige Vermittlungsversuche zwischen "den Studenten", der Gemeindeöffentlichkeit, der Kirchenleitung und Berliner politischen Instanzen. Marquardts vielbeachtetes und hei&szl ig; umkämpftes Buch über "T heologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths" (München 1972, dritte Auflage 1985) stellte nicht zuletzt eine theologische Frucht der Studentenbewegung dar. Dieses "Sozialismus-Buch" rief erbitterten Protest der Kollegen an der Kirchlichen Hochschul e in Berlin hervor, verschaffte Marquardt aber anderswo, insbesondere in den Niederlanden, ein Ansehen, das bis heute nachwirkt. Ein Gastsemester in Amsterdam 1974 brachte Marquardt 1975 einen Ruf durch die Königin der Niederlande auf eine Professur für n euere Theologiegeschichte an die Universität van Amsterdam ein, den er jedoch zugunsten Berlins ablehnte. Hier - an der durch die Studenten in kreative Gärung versetzten FU, wo er 1972 habilitiert und zum Professor ernannt worden war, vor allem aber an dem Ort, von dem aus die Vernichtung des europäischen Judentums organisiert worden war - sah er seine Aufgabe.

Seit seiner Berufung in die Nachfolge Gollwitzers entwickelte Marquardt eine evangelische Dogmatik, die zentrale Themen der theologischen Tradition neu beleuchtet, um dem theologischen Anti-Judaismus den Boden zu entziehen. Diese Dogmatik, hervorgegangen a us den allwöchentlichen Vorlesungen und den begleitenden Colloquien, die Marquardt immer besonders lieb waren, ist in ihrer veröffentlichten Form inzwischen auf sechs Bände angewachsen.* Ein Band "Utopie" - ein Novum innerhalb ev angelischer Dogmatik - soll noch folgen.

Gemessen an der theologischen Schultradition muß Marquardts Dogmatik als "irregulär", aber gerade deshalb weiterführend erscheinen: Unter bewußtem Verzicht auf Vollständigkeit der Themen wird die Tradition durchaus ekl ektisch behandelt. Sie gerät dabei unt er eine doppelte Kritik - von "Auschwitz" einerseits, der lebendigen Begegnung mit Juden andererseits. Daß dabei die Lehre von der christlichen Hoffnung ein gegenüber der Tradition ganz unverhältnismäßiges Übergew icht erhält, dürfte kein Zufall sein: Der c hristliche Glaube ist spätestens seit Auschwitz kein abendländischer "Besitz" mehr, er kann allenfalls noch Gegenstand von Hoffnung sein, wenn es denn noch erlaubt ist zu hoffen. Von Fachkollegen, aber auch theologisch interessierten & quot;Laien" im In- und Aus land wird Marquardts Dogmatik inzwischen als der bedeutendste deutsche Beitrag zu einer "Theologie nach Auschwitz" diskutiert und rezipiert.

Helmut Gollwitzer hat sein Verhältnis zu seinem Nachfolger einmal so beschrieben: "Der Friedel ist immer einen Schritt weiter gegangen als ich. Er war mutiger als ich. Ich war mehr an die Tradition gebunden. Friedel war kühner. Er schritt & uuml;ber die Grenzen der Tradition hinaus, auch in Schritten über die Orthodoxie hinaus. Und er hat das immer in einer unverwechselbaren Sprache formuliert ... Du mutest den Studenten viel mehr zu als ich es getan habe. Ich empfinde Dich als schwer ... Aber offenbar bist Du ni cht zu schwer, schwebst nicht über den Köpfen, denn mit großer Freude habe ich immer wieder beobachtet, wie Studenten, die Gefühl für Qualität hatten und für etwas Neues und die Wege, die noch nicht ausgefahren sind, wi e die sich bei Dir sammeln."

Heute scheint die Fortsetzung der von Marquardt geprägten Arbeit an der FU freilich gefährdet: Das Institut für Evangelische Theologie hat in den vergangenen Jahren weit überproportionale Einsparungen hinnehmen müssen, durch die e s auf einen innerhalb der Massenuniversität kaum noch wahrnehmbaren "Rest" geschrumpft ist. Auch Marquardts (und damit Gollwitzers) Professur soll ersatzlos gestrichen werden.

Andreas Pangritz,

Schüler Marquardts

* Von Elend und Heimsuchung der Theologie [Prolegomena], 1988; Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden [Christologie], 2 Bd. 1990/91); Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? [Eschatologie], 3 Bd. 1993/94/96



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