Brief aus Peking


Pünktlich um 6.30 Uhr am Morgen reißen Musik und Nachrichten aus Lautsprechern überall auf dem Campus die letzten Langschläfer aus ihren Träumen. Studierende, die den Unterricht um 7.30 Uhr nicht verpassen wollen und sich vorher auch noch eine Schüssel Waschwasser ins 6-Bettzimmer oder eine Schale Nudelsuppe aus der überfüllten Mensa holen wollen, sind freilich gut beraten, früher aufzustehen.


Von Alexander Kosenina/
z.Zt. in Peking

Disziplin ist hier Überlebenssache. Erneut eingeübt wurde sie in den letzten Jahren allerdings auf unrühmliche Weise: Die Jahrgänge nach 1989 bezahlten die Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz, bei denen viele ihrer älteren Kommilitonen ihr Leben ließen, mit einer einjährigen Zwangserziehung im Militärlager. Über das, was dort mit ihnen geschah, wollen nur wenige sprechen und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Inzwischen ist diese Pflichtübu ng zeitlich reduziert worden, denn an den einst renitenten Hochschulen, denen sie allein galt, ist wieder verhaltene Ruhe eingekehrt.
Keine der etwa zehn Universitäten in Peking war von den Disziplinarmaßnahmen so stark betroffen wie die Bejing Da Xue, kurz "Beida" genannt. Sie ist die älteste und renommierteste Hochschule des Landes. Wer hier studieren dar f, wurde landesweit unter Zehntausenden eines Jahrgangs als höchstqualifizierter Schulabsolvent ausgewählt.
Und in der Tat trifft man hier auf hellwache, außerordentlich engagierte und fleißige Studierende in einer Konzentration, wie sie an der FU ganz und gar nicht üblich ist. Der Fairneß halber ist aber hinzuzufügen, daß hier eben ausschließlich das gesamte Wissen dieser Welt studiert wird, weniger aber das Leben. Die Universität sorgt für eine bescheidene Unterkunft und Verpflegung, daneben ein Minimum an Unterhaltung. Jobben ist nicht lebensnotwendig, un d für Theater, Kino oder Konzert bleibt kaum Zeit. Die meisten verlassen die Anlage also eher selten. Und wer sich gar zu seiner geheimen Liebe-die trotz Kälte verschämt in den schönen Parkanlagen des Campus zelebriert wird-öffent lich bekennen wollte, muß bis zum ersten Studienabschluß nach vier Jahren warten, darf dann heiraten, um anschließend ein gemeinsames Zimmer beziehen zu können.
Germanistik an der Beida hat eine lange Tradition. Das Fach wird hier seit deren Gründung im Jahre 1898 vertreten. Und seit 1982 kommt in jedem Wintersemester ein Dozent der FU unterstützend hinzu. Daß jetzt erstmals auch der Mittelbau in diesen Partnerschaftsvertrag einbezogen wird, ist ein beiderseits goutierter Fortschritt.
Wer dieses oder ein anderes Fach studiert, hat es aber nicht in allen Fällen frei gewählt. Über die Wünsche wird nach Noten entschieden, danach teilt die Universität verfügbare Plätze einfach zu. Wer beispielsweise E nglisch studieren möchte-und das sind verständlicherweise die meisten -, mag sich im Fach Persisch oder Hebräisch wiederfinden, vielleicht mit Englisch als zweitem Schwerpunkt. Erstaunlich ist-wie etwa die Kollegin aus Tel Aviv berichtet-mi t welcher Hingabe sich die Studierenden selbst auf die Zuweisung einer nur schwer zu vermarktenden kleinen Sprache einlassen. Als Absolventen der Beida haben sie wohl einfach einen hohen Wert an sich.
Lediglich bei dem für alle Studierenden obligatorischen Politikunterricht-Kurskontrolle der Diktatur des Proletariats -ist das sonst so lebhafte Interesse gebremst. Denn viele dieser jungen, hochbegabten Intellektuellen bringen den Mut auf, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, wenn auch lieber nicht öffentlich. Bei Unterrichtsdiskussionen innerhalb einer Klasse werden politische Themen deshalb gemieden oder nur unverbindlich kommentiert. Schließlich ist dies nicht der Ort fü r Gesinnungsoffenbarungen.
Zu den Magister- und Promotionsstudiengängen bleiben nur die wenigsten. Nach den vier Studienjahren bis zum B.A. streben die meisten in die rasant expandierende Wirtschaft, wobei hier die Fremdsprachenkenntnisse eine wichtige Voraussetzung sind. Trotz geringerer sozialer Fürsorge sind internationale Firmen oder Joint Venture-Projekte beliebt, wegen des besseren Einkommens und der verlockenden Hoffnung auf den Schritt ins Ausland. Dorthin kann man inzwischen auch als Student leichter gelange n. Und so bewerben sich viele nach Amerika und einige-trotz der dort bestehenden unerfreulichen Hürden-auch nach Europa. Freilich geschieht dies mit Diskretion, denn allzugroßes Interesse am Ausland mindert die Chancen bei der heimatlichen Jobs uche.
Von denen, die sich im Westen in Graduierten- und Promotionsprogrammen akademisch weiterqualifizieren, kehren -zum großen Kummer älterer Professoren-nicht sehr viele zurück. Wenn sie an der Uni arbeiten wollen, erwarten sie auch keine angemessenen Bedingungen. Lehrende an der Hochschule verdienen weniger als an der Mittelschule, diese weniger als an der Grundschule und diese wiederum weniger als im Kindergarten. Mehr als 200 DM im Monat sind es nur selten. Zum Leben ist das denkbar kna pp, und so bleibt der Professorenberuf etwas für Idealisten, möglichst mit besser verdienenden Ehepartnern oder entsprechenden Nebeneinkünften.
Beida ist eine Campusuniversität, eine kleine Oase am grünen Rande Pekings, eines sonst staubigen, verkehrsreichen 12 Millionen-Molochs. Die Struktur ähnelt amerikanischen Einrichtungen vergleichbarer Größe, selbst wenn die A usstattung bescheidener ist. Die mehr als 21.000 Studierenden und etwa 2.100 Lehrenden finden hier von einer großen Bibliothek (4,5 Millionen Bände) über Krankenhaus, Fahrradwerkstätten und Sporteinrichtungen bis hin zu Geschäfte n und Restaurants alles Notwendige vor. Die etwa 50 Gastwissenschaftler aus aller Welt sind auf einige Gästehäuser verteilt, wo sie in Ein- oder Zweizimmer-Appartments untergebracht sind.
Die Mauer um den Campus ist mehr als ein Symbol. Sie trennt Welten. Nicht weil an den paar Toren streng blickende Uniformierte die Ein- und Ausgehenden kontrollieren, sondern weil sich hier in einer rasant kapitalistischer werdenden, quirligen Umgebun g die gelangweilte Gangart des Sozialismus stärker bewahrt hat: In den Campusläden, die über ein fast unendliches Personal verfügen, wird man mit einer
unübertrefflichen Gleichgültigkeit bedient. In den internationalen Gästehäusern geben Heere von Angestellten vor, während eines knappen Morgenstündchens zu putzen, um dann den Rest des Tages auf dunklen Gängen tr&aum l;ge vor sich hin zu brüten. In der Bibliothek, wo der Staub fingerdick auf den chaotisch angeordneten Büchern liegt, wird man schon eine halbe Stunde vor der streng eingehaltenen Mittagspause hinauskomplimentiert. Und in der Leihstelle werden d ie Bücher, ohne von der Zeitungslektüre aufzublicken, über den Tresen geschleudert. Erinnerungen an die Ostberliner Staatsbibliothek vor 1989 drängen sich da unwillkürlich auf. Wie damals verschlägt dieses unbeschreibliche De sinteresse dem Besucher den Atem. Daß es aber auch anders geht, lehrt der Weg hinaus, hinaus aus der Festung der Wissenschaft in eine täglich sich verändernde Gesellschaft.

Dr. Alexander Kosenina ist seit Oktober 1995 wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Germanistik der FU. In diesem Wintersemester hat er eine Gastdozentur an der Peking-Universität, die eine der Partneruniversitäten der FU ist.
Seit Anfang der 80er Jahre unterstützen Mitglieder des Fachbereichs Germanistik jeweils im Wintersemester durch Vorlesung und Seminar die Ausbildung der Magister- und Doktorkandidaten an der Beida und leiten darüber hinaus Konversationskurs e für Fortgeschrittene.


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt]