Brief aus Amsterdam


Am Rande des Rotlichtviertels: der Hauptsitz der Sozialwissenschaftler, das 'Binnengasthuis'


Sommerliches Treiben entlang der Grachten, zwischen Rotlichtviertel, Museumsplein und Vondelpark. So kennen die meisten Touristen die Stadt an der Amstel. "Venedig des Nordens", ist dann auch die erste Assoziation, die mein Besucher aus Berlin bei der Ankunft in Amsterdams Central Station hat. Zu Recht, sollte man meinen. Große Teile des Landes entrissen die Niederländer laut ihrem Nationalmythos der Nordsee in einem jahrhundertelangen Kampf. Die heutige Hauptstadt wurde auf Dämmen errichtet, die dann Zug um Zug miteinander verbunden wurden. Die Wasserflächen dazwischen dienten als Transportwege und Abwasserkanäle der aufstrebenden Handelsstadt, bis sie vielerorts dem Landhunger des expandierenden Städte- und Straßenbaus weichen mußten. Einige große Verkehrsstraßen sind auch heute noch nach Grachten benannt. Die Modernisierungswut der 70er und frühen 80er Jahre, in Form von gigantischen U-Bahnprojekten, hat am Waterlooplein sichtbare Spuren hinterlassen. Heute steht dort die 'Stopera', eine nicht nur architektonisch umstrittene Kombination aus Stadthaus und Oper.


Von Wolfram Zunzer / Amsterdam

Vergleicht man Amsterdam mit Venedig im Beisein von echten Amsterdamern, erntet man zumeist Unverständnis. "Unsere Innenstadt ist doch kein Touristenghetto. In Venedig kommt abends, nachdem die Busse wieder abgefahren sind, das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen. In Amsterdam geht's dann erst richtig los", betont eine holländische Kommilitonin beim Abendessen in der Atrium-Mensa der Universiteit van Amsterdam (UvA). Der sozialwissenschaftliche Campus der Universität liegt am Oudezijds Achterburgwal am Rande des Rotlichtviertels. Hier, im Herzen der Stadt, sind alle Gebäude auf Pfählen gebaut, inklusive dem 'Binnengasthuis', einem vormaligen Universitätskrankenhaus, das nach der Verglasung des Innenhofs zum heutigen Hauptsitz der Politologen und Sozialwissenschaftler an der UvA geworden ist. An den Grachten ringsherum und den angrenzenden Kanälen leben momentan rund 5.000 Menschen auf ihren eigenen Hausbooten. Fast jeder Besucher, sei er nun Wochenendtourist, Austauschstudent oder Neuzugezogener, träumt wohl vom eigenen Boot inmitten der malerischen Innenstadt. Doch diesen Traum können sich nur wenige erfüllen, denn trotz Wohnungsnot läßt die Stadtverwaltung nicht mehr als 2.600 Hausboote auf den öffentlichen Kanälen zu. Die städtischen Planungsauflagen und der immense Anstieg der Marktpreise in den 80er Jahren machen Hausboote zum Privileg der Reichen und Eitlen. Dem Passanten fallen sofort die gardinenlosen Studioboote ins Auge, in denen alles ausgestellt wird, was gerade schön, chic und 'hip' ist.


Eins von 2.600 Hausbooten - mehr sind auf den Kanälen nicht zugelassen

Weiter außerhalb, entlang der Amstel, findet man immer noch einige wenige, alternativ-ökologisch ausgebaute Motorschiffe. In Amsterdams wilden 70er Jahren, der Hochzeit alternativer Lebensformexperimente und der 'Provo-Bewegung', gab es auch an der noblen Keizergracht zahlreiche solcher Boote. Mit den kulturellen Veränderungen und den konservativeren Stadtregierungen der 80er und 90er Jahre, verlor die 'Kraker'- (Hausbesetzer) und Alternativbewegung an Einfluß.

Immer mehr langansässige Einwohner unterer Einkommensschichten werden durch die sogenannten 'new rich' verdrängt. Die liberalen Amsterdamer reagieren auf diese sogenannte "Gentrification" mit politischer Aktion. Widerstand gegen die allgegenwärtige Wohnraumspekulation und die negativen Effekte weltweiter Handelsliberalisierung haben hier eine lange Tradition. Nicht zufällig haben viele internationale Nichtregierungsorganisationen, wie beispielsweise Greenpeace, ihren Sitz in Amsterdam. Liberale Gesetzgebung und vielerorts eine klare Sympathie in den Wohnungsämtern für den Kampf der 'Kraker' gegen Wohnraumspekulation, haben dazu geführt, daß auch heute noch zahlreiche 'Kraker-Informationszentren' Wohnungslosen ihre Unterstützung anbieten, und als sozialer Treffpunkt in den Stadteilen dienen.

Selbst bei den Feiern zum Bevrijdingsdag geht es vielerorts um mehr, als den Jahrestag der Befreiung von der Besetzung durch Nazideutschland zu feiern. Neben den offiziellen Feierlichkeiten gibt es viele Musikfestivals und Veranstaltungen, auf denen soziale Bewegungen ihre politischen Anliegen, ihren Kampf um Freiheit einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen können.

StudentInnen wie die 23jährige Philosophiestudentin Majo hingegen sind eher damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als sich in der alternativen Szene zu engagieren. Majo, die neben ihrem Studium in einem traditionellen 'Bruin Cafe' jobbt, bemerkt ganz pragmatisch: "Warum sollte ich mich im Winter mit Warmwasserproblemen und im Sommer mit den zahlreichen Ratten auf einem alternativen Hausboot rumschlagen?".

Rund 500 Gulden 'studiebeurs' erhalten niederländische Studierende unabhängig vom Elterneinkommen in den Niederlanden. Doch der größte Teil des Geldes geht für Studiengebühren und notwendige Versicherungen drauf. Nach der nun in Kraft getretenen neuen Regelung, der sogenannten 'prestatiebeurs', droht bei Nichtbestehen des Diploms sogar eine Bestrafung in Höhe von bis zu 70.000 Gulden, sollte das Studium nicht in vier Jahren abgeschlossen sein. Die ausbezahlte Summe wird in einen regulär verzinsten Bankkredit umgewandelt. So überrascht es nicht, daß der Begriff 'afstuderen', das schnelle Fertigwerden, häufig zu hören ist.

Nach dem Abendessen im Atrium, das von den Studierenden an der UvA wie von fast allen NiederländerInnen um 18.00 Uhr zu sich genommen wird, gehen wir oft noch auf ein 'biertje' ins Rotlichtviertel. 'Gezelligheid' gehört zur Lebensphilosophie in den Niederlanden. Viel Leben, Kneipen, Clubs und eine wohlbalancierte Machtstruktur zwischen Polizei, Kleinkriminellen, Drogenhändlern und Besuchern machen das Rotlichtviertel vergleichsweise ungefährlich und zum Ausgehen auch für viele Amsterdamer attraktiv. Kehrseite dieser wohlgeschmierten Vergnügungsökonomie sind hunderte internationale Junkies, deren Anzahl in offiziellen Statistiken zwar in den letzten Jahren durch die Fortführung von Suchthilfsprogrammen sowie durch polizeiliche Repressionen deutlich verringert wurde, an deren traurigem Schicksal sich aber grundsätzlich nichts verändert hat. Viele verdienen ihren 'Druck' durch Klauen und Verkaufen von Fahrrädern in der Nähe der Universität. Ein 'fiets' zu haben, das Transportmittel Nr.1 in Amsterdam, ist essentiell fürs Fortkommen in der Enge der Innenstadt. Trotz kiloschwerer Schlösser ist die Freude am eigenen Rad meistens nicht von Dauer. Und gegen die resultierende 'Kreislaufökonomie' scheint kein Kraut gewachsen. Die regelmäßigen Razzien durch die Polizei verschieben den Handel offenbar nur an andere Stellen der Stadt.


Das Informationszentrum der Universität Amsterdam

"No, I don't have problems with the junkies. The junkies are an old social problem, but our generation is different. We don't take these dangerous hard drugs any more", versichert mir Roberto, 24jähriger italienischer Austauschstudent am Fachbereich 'Rechtsgeleerdheid', im Mazzo, dem größten und populärsten Techno-Club Amsterdams. "Of course I know that it's easy to get Ecstasy here, but this stuff is not really dangerous", fährt er fort. Ich nicke leicht und fliehe vor der quälenden Hitze und Enge durch den Hinterausgang nach draußen.

Als "Einfallstor für Drogen nach Europa" bezeichnete der französische Präsident Chirac zu Beginn dieses Jahres die Niederlande. Dies führte zu einem solchen Aufschrei in der gesamten holländischen Presse, daß es eine Zeitlang so aussah, als könnte das gute Verhältnis zwischen Frankreich und den Niederlande ernsthaften Schaden nehmen. Die Verteidiger der niederländischen Liberalität hielten den französischen Vorwürfen entgegen, daß der Konsum von 'soft drugs' in den Niederlanden prozentual deutlich niedriger liege als in Frankreich.

Auch das deutsch-niederländische Verhältnis, schon historisch bedingt nicht nur für alte Menschen ein diffiziles Thema, ist seit der 'Fokker-Affäre' im letzten Jahr etwas angespannt. Für viele NiederländerInnen ist schwer nachvollziehbar, daß die Deutsche Aerospace (DASA) ein solches Nationalsymbol, wie es der Flugzeugbauer Fokker nun einmal darstellt, so schnell den Bedingungen weltweiter Konkurrenz opfern konnte. Nicht zuletzt sind dadurch mehrere tausend Arbeitsplätze in Holland verlorengegangen. Da tröstet es wenig, wenn die Niederlande das einzige Land in Europa sind, das die Bedingungen für die Währungsunion schon jetzt einhält und voraussichtlich den ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank stellen wird.

Wolfram Zunzer

Wolfram Zunzer studiert seit 1991 Politikwissenschaft und Informationswissenschaft an der FU. Seit September vergangenen Jahres lebt er in Amsterdam und studiert an der dortigen Universität Internationale Beziehungen.


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