Vom Stief- zum Wunderkind?

RNA-Technologien: Wissenschaftler betreten Neuland im Kampf gegen Krebs


Die Krebsbekämpfung der Zukunft heißt Gentherapie. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man die aktuellen Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet Revue passieren läßt. Es gibt aber auch Wege jenseits des wissenschaft-lichen Mainstreams, einer davon wird in der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Volker A. Erdmann vom Institut für Biochemie der FU beschritten. Bei einer Gentherapie wird dem Patienten das Gen für ein bestimmtes biologisches Molekül eingeimpft, der Körper kann dieses Molekül dann selber herstellen. Bei dem Ansatz von Professor Erdmann hingegen wird dieses biologische Molekül von außen wie ein Medikament zugeführt. Auf diese Weise können einige Risiken der Gentherapie vermieden werden. Zum Beispiel kann die Therapie - anders als eine Gentherapie - jederzeit abgebrochen werden. Ein Gen, einmal im Körper, kann nicht zurückgeholt werden, bei Medikamenten kann im Notfall zumindest die weitere Aufnahme gestoppt werden.

Der Einsatz von Medikamenten gegen den Krebs ist natürlich nicht neu, vollkommen neu ist in diesem Zusammenhang aber die Verwendung von Ribonukleinsäuremolekülen (RNA-Molekülen). Bisher galt die RNA eher als Stiefkind der Biochemie. Man glaubte nämlich, die Aufgabe von RNA-Molekülen beschränke sich im wesentlichen auf eine einfache Informationsübertragung vom Genspeicher, der Desoxyribonukleinsäure (DNA), zu den Proteinen, den eigentlichen Akteuren auf der biochemischen Bühne. Doch bisweilen sterben sogar in der Biochemie alte Dogmen. Jetzt weiß man, daß auch die RNA ihren eigenständigen Part spielen kann. Die Arbeitsgruppe von Prof. Erdmann interessiert sich für diese neuen Mitspieler und will selbst RNA-Moleküle konstruieren, die dann nach den Regeln der Menschen mitspielen sollen. Im Falle der Krebserkrankung, die von der Gruppe von Professor Erdmann untersucht wird, gilt ein bestimmtes RNA-Molekül als potentieller şbeltäter. Der Krebs soll jetzt mit den eigenen Waffen geschlagen werden.

Diesen ungewöhnlichen Forschungsansatz wird die Arbeitsgruppe in einer ebenso ungewöhnlichen Zusammenarbeit mit palästinensischen und israelischen Forschern und Ärzten vorantreiben. Im Zentrum dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts steht eine Krebserkrankung der Harnblase, die vor allem im Nahen Osten gehäuft auftritt, aber auch weltweit im zunehmenden Maß beobachtet wird. Im Nahen Osten ist in vielen dicht besiedelten Gebieten, wie zum Beispiel der West-Bank oder dem Gaza-Streifen, die Umwelt stark mit Chemikalien belastet. Sehr wahrscheinlich ist dies der Grund für die dortige weite Verbreitung des Blasenkrebses. Die Krankheit soll in Palästina nun auf zwei Ebenen bekämpft werden.


Biochemiker und Mediziner arbeiten Hand in Hand

Einerseits sollen vor Ort verbesserte Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Am Rafidia Surgical Hospital in Nablus wird unter der Leitung von Dr. Abdul Salam Quasem ein Zentrum für die Erkennung und Behandlung des Krebses aufgebaut. Vor allem mangelt es dort an Erfahrung in der Diagnose der Krebserkrankung. Hilfe kommt von Prof. Dr. Abraham Hochberg und Prof. Dr. Nathan de Groot von der Hebrew University in Jerusalem. Sie haben ein Verfahren entwickelt, mit dem der Nachweis sogar einer einzigen Krebszelle in einer Gewebeprobe gelingt. Es soll jetzt in Nablus eingeführt werden. Dort allerdings fehlen noch viel grundlegendere Techniken und Erfahrungen für die Beurteilung von krebsverdächtigen Gewebeproben der Patienten. Hier sollen die Pathologen Dr. Ilana Ariel vom Hadassah University Hospital in Kiryat, Israel, und Prof. Dr. Dymitr Komitowski vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg helfen. Natürlich nicht nur vor Ort, sondern von Israel und Deutschland aus. Ein computergestütztes Datenfernleitungsnetz und hochauflösende Videokameras in den beteiligten Laboratorien werden das Rafidia Surgical Hospital mit den nötigen Daten für die Beurteilung schwieriger Fälle versorgen. Durch diese neue Form der Ferndiagnose und durch die Schulung der palästinensischen Ärzte an der Universität Jerusalem soll das Krebszentrum in Nablus allmählich internationalen Standard erreichen.

Der zweite Schwerpunkt des Projekts ist die Erarbeitung neuer Strategien für die Bekämpfung des Blasenkrebses. An diesem Schwerpunkt wird in den Gruppen der Professoren Hochberg und de Groot in Jerusalem und in der Gruppe von Professor Erdmann an der FU gearbeitet.


Modell eines RNA-Moleküls aus Kolibakterien. Links ist das Molekül schematisch dargestellt, auf der rechten Seite läßt sich die angenommene räumliche Struktur nachvollziehen. Die Symbole A, C, G und U stehen für die vier verschiedenen RNA-Bausteine (Nukleotide) Adeninphosphat, Cytidinphosphat, Guanosinphosphat und Uridinphosphat. Dieses Molekül besteht aus 120 Bausteinen. Wesentlich komplexer ist dagegen die H 19 RNA, die Prof. Erdmanns Gruppe erforscht: Sie besteht aus 2300 Bausteinen.

Für die RNA-Arbeitsgruppe von Professor Erdmann wurde die Krebserkrankung interessant, als die israelischen Wissenschaftler herausfanden, daß ein bestimmtes RNA-Molekül dabei eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Diese sogenannte H19 RNA findet man normalerweise nur in embryonalem Gewebe und in der Plazenta, also dort, wo sich Zellen sehr schnell vermehren müssen. Bei den Tumoren taucht sie allerdings überraschenderweise auch auf - und zwar in den äußeren Zellschichten. Hier verdrängt das Tumorgewebe durch sein starkes Wachstum das gesunde Gewebe des Körpers. Die genaue Rolle, die das RNA-Molekül bei diesem Prozeß spielt, ist noch unbekannt, zumindest ist aber sicher, daß es nicht zu einer einfachen Informationsübertragung von einem Gen zu einem Protein dient. Es handelt sich bei der H19 RNA also um eine der eingangs erwähnten neuen Mitspielerinnen auf der biochemischen Bühne und die Umstände legen es nahe, daß sie gerade bei der Geschichte mit dem Blasenkrebs eine tragende Rolle spielt.

Eine der Mitarbeiterinnen von Professor Erdmann, Dr. Corinna Lippmann, soll ein RNA-Molekül entwickeln, das die H19 RNA zerstören kann. In der Natur gibt es RNA-Molekül, die andere RNA-Molekül zerschneiden können. Corinna Lippmann soll ein derartiges Molekül so verändern, daß es dann die H19 RNA als zu zerstörendes Ziel erkennt. Ein solches verändertes RNA-Molekül könnte man chemisch im Labor herstellen und bei den Patienten mit einem einfachen Katheder direkt in die Harnblase einbringen. Dort würde es von den Tumorzellen aufgenommen werden und in ihrem Inneren dann hoffentlich seine therapeutische Pflicht tun, die H19 RNA also zerstören. Wenn die These von Prof. Erdmann und seinen Kollegen zutrifft, sollten die Tumoren dann zurückgehen.


Einfache Diagnose in Sicht

Unabhängig von diesen Ansätzen zu einer Therapie soll natürlich die tatsächliche Rolle der H19 RNA bei der Entwicklung des Tumors genauer erforscht werden. Die Arbeitsgruppen aus Berlin und Jerusalem werden außerdem versuchen, die H19 RNA oder verwandte Molekül in anderen Tumorarten ausfindig zu machen. Es gibt nämlich Hinweise darauf, daß diese RNA bei vielen Arten von Krebs die Hand mit im Spiel hat.

Für die Diagnose des Blasenkrebses ist die Entdeckung der H19 RNA bereits heute von ausschlaggebender Bedeutung. RNA-Moleküle lassen sich mit hoher Empfindlichkeit nachweisen, darauf beruht auch die bereits erwähnte Möglichkeit, einzelne Tumorzellen in Gewebeproben aufzuspüren. Mit verbesserten Methoden hofft man, solche Zellen künftig auch im Urin der Patienten aufspüren zu können. Damit wäre die Möglichkeit geschaffen, einen Großteil der Bevölkerung frühzeitig einfach und billig auf den Blasenkrebs hin zu untersuchen.

Das Gesamtprojekt wird zunächst mit 1,1 Mio DM für 2 Jahre von der DFG gefördert. Das Geld soll nicht nur der reinen Forschung dienen. Wie bei zwei weiteren DFG-Projekten, soll der Austausch von Wissenschaftlern und Know-how zwischen Israel, Palästina und Deutschland den schwierigen Friedensprozeß im Nahen Osten unterstützen.

Nach Ablauf der zwei Jahre hoffen die Projektpartner bereits Näheres über die tatsächliche Rolle der H19 RNA sagen zu können und die Verhältnisse bei anderen Krebsarten untersucht zu haben. Bei der Krebsbekämpfung mit Hilfe von RNA steht die Forschung noch ganz am Anfang. Ergebnisse sind hier nur auf lange Sicht möglich. Professor Erdmann ist aber zuversichtlich, daß zumindest die Untersuchungsmethode für den Urin in drei bis vier Jahren verfügbar sein könnte.

Thomas Fester


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