Brief aus Lima



Die Plaza San Martin in Lima

Fast unmerklich, aber mit gleicher Unwiederbringlichkeit, ist nach dem Zusammenbruch der Zweiten auch die Dritte Welt verschwunden. Länder wie Peru, Burundi, Thailand, Korea und Brasilien scheinen nicht mehr zu einer gemeinsamen Kategorie zu gehören. Die neue Weltordnung zwingt uns, plötzlich neu über die ca. 200 Staaten nachzudenken, die unter dem griffigen Gemeinplatz zusammengefaßt waren. Als Mitglied des Lateinamerika-Institutes könnte man nun schnell darauf verfallen, die Länder südlich des Rio Grande seien amerikanisch und lateinisch, aber weder der Kontinent, noch die Sprachgruppe entheben uns des Nachdenkens. Offensichtlich unterscheiden sich selbst Nachbarländer, wie Peru und Brasilien so voneinander wie vielleicht die Bundesrepublik Deutschland und der Iran. Damit sind wir wohl oder übel gezwungen, ein jedes Land erst einmal aus sich selbst heraus, aus seiner Geschichte, zu verstehen, um dann vielleicht zu vergleichen, Unterschiede herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten zu finden.


Von Jürgen Golte /
aus Lima zurück

Peru hat ein Territorium, das etwa achtmal so groß wie das Deutschlands ist. Die Bevölkerung beträgt mit 22 Millionen etwas mehr als ein Viertel der deutschen. Peru ist ein multiethnischer Staat. Zwar sind etwa 90 Prozent der Bevölkerung Nachfahren der Menschen, die schon zur Zeit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert hier lebten, aber diese waren schon in jener Zeit keineswegs einheitlich. Die etwa 5 Prozent Nachfahren von Europäern waren lange Zeit, eben seit dem sechzehnten Jahrhundert, die herrschende Gruppe des Landes. Heute sind sie es nicht mehr. Die restlichen 5 Prozent verteilen sich auf die Nachfahren von afrikanischen Sklaven, chinesischen Kontraktarbeitern und Japanern. Die afrikanischen Sklaven wurden meist schon in der Kolonialzeit als Haussklaven und Sklaven für die Plantagen in den Flußoasen der peruanischen Küste ins Land gebracht und wurden dann Mitte des 19. Jahrhunderts freigelassen. Als Ersatz wurden zunächst chinesische und zur Jahrhundertwende auch japanische Kontraktarbeiter ins Land geholt.

Diese Gruppen sind aus dem Land nicht wegzudenken, wie z.B. der peruanische Staatspräsident Alberto Fujimori, Sohn von japanischen Einwanderern. Seit sechs Jahren, nach einer Wahl, in der er den Schriftsteller Mario Vargas Llosa besiegte, verwaltet Fujimori autokratisch und immer mit Unterstützung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung das Land. Fujimoris Regierung hat das Land international wieder kreditfähig gemacht, indem er die vorher galoppierende Inflation beseitigt, die Staatsbürokratie verkleinert hat und versucht, eine effiziente Verwaltung aufzubauen. Zudem gelang es ihm, die Guerillaorganisation Leuchtender Pfad zu besiegen. Peru reiht sich nun ein in die Gruppe der neoliberal reorganisierten Wirtschaften, die hoffen, über ihre Eingliederung in den Weltmarkt, die Entstaatlichung ihrer Wirtschaft, durch eine eigene und eine von ausländischem Kapital in Gang gebrachte Entwicklung, einen Weg zum Wohlstand zu finden.

Seit etwa 1940 befindet sich das Land in einem massiven Verstädterungsprozeß. Die bäuerliche Bevölkerung verläßt seitdem die Dörfer und siedelt sich überall dort an, wo die jugendlichen Abwanderer glauben, ihre wirtschaftliche Situation verbessern zu können. Meist sind das Mittelstädte, Bergbaugebiete oder z.B. auch die Coca-Anbaugebiete in den feuchtwarmen Tälern des östlichen Andenabhangs und nicht zuletzt die Hauptstadt Lima. Das besondere an dieser Binnenwanderung ist nun, daß sie weniger einen individuellen und stärker einen sozialen Charakter hat. Die dörflichen Verhältnisse, in denen jeder jeden kennt, wo jeder mit dem andern in der einen oder anderen Art verwandt ist, werden von den Migranten nicht aufgegeben, sondern bestehen auch nach der Ortsveränderung weiter. In der Stadt Lima gibt es Kolonien von Abgewanderten aus jedem peruanischen Dorf, die nicht nur untereinander und mit der zurückgebliebenen dörflichen Bevölkerung eng verbunden bleiben, sondern die diese sozialen Verbindungen nutzen, um sich z.B. in der Stadt in gemeinschaftlicher Hilfe eigene Wohnhäuser zu errichten, um handwerkliche und manufakturelle Betriebe mit Verwandten aufzubauen. Dabei werden sie unterstützt von anderen Verwandten, die vorher erfolgreich einen solchen Betrieb geschaffen haben. Das Netz von Verwandten und aus dem gleichen Dorf stammenden ersetzt dann auch einen offenen Arbeitsmarkt, ist Grundlage von Handelsorganisationen, informeller Kreditgeber, organisiert Festlichkeiten und regelt im allgemeinen auch die Heiraten der jüngeren Generation. Häufig ist auch die städtische Wirtschaft dieser Abgewanderten mit der ländlichen verbunden. Ein derartiger Zusammenhalt ist nicht ohne Rückgriff auf die dörflichen Verhältnisse, die dortige Verwandtschafts- und Produktionsorganisation verständlich, vielleicht auch nicht ohne den Bezug auf eine sehr lange Geschichte. Die Dorfbevölkerungen sehen sich in ihrer Schöpfungsgeschichte als gesondert und verschieden von anderen Dörfern. Sie sehen sich verbunden mit einer langen Reihe von Vorfahren, die im Reich der Toten auch für das Wohlergehen der lebenden Nachkommen arbeiten.

Damit wären wir bei der Geschichte. Seit mehr als dreitausend Jahren gibt es geschichtete komplexe Gesellschaften in den zentralen Anden. Noch einmal 10.000 Jahre zuvor begann der allmähliche Übergang von Großwildjägern zu Feldbauern und Viehzüchtern. Zum größten Teil ist diese lange Entwicklung sehr genau archäologisch erfaßbar. Der Westabhang der Anden und insbesondere die Küste haben ein extrem trockenes Klima. Dadurch ist die Erhaltung von organischen und anderen Überresten von Siedlungen aus dieser langen Geschichte erstaunlich gut.

Berlin hat in der peruanischen Archäologie eine ca. 100 Jahre währende Tradition, worin die Erforschung der in den andinen Kulturen geschaffenen Bildwerke eine besondere Rolle spielt. Die frühen Staatsgesellschaften in den künstlich bewässerten Flußoasen haben hunderttausende von figürlich bemalten Tongefäßen, aber auch Malereien auf Geweben, Freskomalereien in Tempeln und auf Pyramidenwänden hinterlassen, deren Verständnis die Altamerikanisten seit langer Zeit herausgefordert hat.

Eine der Bildtraditionen ist die der Moche-Gesellschaft, die etwa zwischen dem zweiten und sechsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Täler der nördlichen Küste beherrschte. Im fünften und sechsten Jahrhundert verfeinern sich die Maltechniken der Keramikkünstler und sie bemalen ihre Gefäße mit figurenreichen Szenen. Um deren Verständnis bemüht sich die Berliner Altamerikanistik seit den zwanziger Jahren. Anfang der neunziger Jahre gelang uns, die Rekonstruktion eines langen Erzählzyklus, der praktisch alle Bilder dieser Phase umfaßt, der von der Auseinandersetzung zwischen einem Nacht- und Meeresgott und seinem Hofstaat mit einem Taggott und dessen Hofstaat handelt. In dem Kampf der Götter wird der Taggott gefangen genommen, die Erde verdunkelt sich, Meeresungeheuer und von Menschen hergestellte Artefakte wenden sich gegen die Menschen und nehmen diese gefangen, um sie dem Nachtgott zu übergeben. Die Erzählung handelt von einem göttlichen Held, der die Meeresungeheuer besiegt, den in den Bergen gefangenen Taggott befreit und ihm dazu verhilft, wieder am Firmament aufzusteigen. Die allgemeine Verbreitung dieser Erzählung fällt mit Veränderungen in der Moche-Gesellschaft zusammen, vor allem einer zunehmenden Urbanisierung und der Herausbildung einer zentralen staatlichen Macht.

Mit einer Gruppe von Studenten am Lateinamerika-Institut unternahm ich den Versuch, die von uns bei der Rekonstruktion dieser Erzählung benutzten Techniken auf einen weiteren Korpus von Vasenmalereien anzuwenden. Diesmal handelten die Malereien von der Nazca-Kultur, die sich in etwa dem gleichen Zeitraum an der peruanischen Südküste fand. Der Versuch scheiterte zwar in puncto Erzählung, brachte aber ein nicht minder kohärentes Ergebnis. Die Nazcamalereien erwiesen sich als eine komplexe Genealogie, beginnend mit einer androgynen Gottheit und einem androgynen Wurm, deren Nachkommen der ersten Generationen auch noch Götter, in den nächsten Generationen aber Fischer, Bauern, Tiere, Samenpflanzen, Knollenfrüchte etc. waren. D.h. die Nazca malten eine Genealogie, die unter anderem die hierarchischen Verhältnisse zwischen den Menschen oder deren besonderen Pflichten in der Produktion aus deren unterschiedlichen Verwandt-schaftslinien zu den ursprünglichen Wesen erklärte. Letztendlich handelt es sich also um einen Diskurs über den Ursprung der Welt, einschließlich der hierarchischen Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, in verwandtschaftlichen Kategorien. Hiermit beantwortet er ein zentrales Problem in frühen geschichteten Gesellschaften, nämlich die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit unter Menschen, die in einer Tradition von undifferenzierten, nur durch Verwandtschaftsregeln geregelten frühbäuerlichen Dörfern oder Stämmen stehen. Insofern scheint es nicht zufällig zu sein, daß sich die Vorläufer des für die Nazca herausgearbeiteten Systems bis ins frühe Formativum, d.h. die Entstehung von komplexen Gesellschaften in den Bewässerungsoasen der peruanischen Küste zurückverfolgen läßt.

Jürgen Golte ist Professor für Altamerikanistik am Lateinamerika-Institut der FU. Von Februar bis Oktober 1996 war er für ein Forschungssemester am Instituto de Estudios Peruanos in Lima. Er arbeitete in einem von der DFG unterstützten Forschungsprojekt zur überregionalen Vernetzung von bäuerlichen Migranten und gleichzeitig in einem längerfristigen Projekt zur Erforschung der Systematik der Ikonographie der andinen Kulturen.


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt]