Der Griff durch den Spiegel

Durchbruch für neue Diagnose- und Therapieformen


Neue Wirkstoffe gegen Viren oder die Bekämpfung von Tumoren sind nur zwei von vielen revolutionären Möglichkeiten, die sich Wissenschaftler vom Institut für Biochemie der Freien Universität von ihren neuesten Forschungsergebnissen versprechen. Das in der Arbeitsgruppe von Dr. Jens P. Fürste entwickelte "Spiegel-Design" könnte zum Durchbruch auf dem Gebiet der RNA-Technologien führen.

Biochemiker überlisten die Natur mit spiegelbildlich gestalteten Nukleinsäuren. Sie verhalten sich zu den natürlichen Nukleinsäuren wie die linke zur rechten Hand des Menschen: Bild und Spiegelbild können nicht zur Deckung gebracht werden. Das Prinzip dieses spezifischen Drug-designs läßt sich daher am Händedruck veranschaulichen:

(a) Die Alltagserfahrung - zwei rechte Hände. (b) Das Dilemma - zwei linke Hände.
(c) Der Lernprozeß - rechte und linke Hand. (d) Das gewünschte Ergebnis - linke und rechte Hand.

Die Suche nach medizinischen Wirkstoffen und diagnostischen Verfahren erfährt zur Zeit einen grundlegenden Wandel. Durch ein Verfahren, das als "Evolution im Reagenzglas" oder auch "in vitro-Evolution" bezeichnet wird, ist es möglich geworden, eine Milliarde mal eine Million (1015) verschiedener Nukleinsäure-Moleküle innerhalb weniger Monate zu synthetisieren und zu testen. Zum Vergleich: In den letzten 150 Jahren wurden von der pharmazeutischen Industrie "nur" etwa 9 Millionen verschiedene Verbindungen untersucht.

Die "in vitro-Evolution" konnte im Jahr 1990 durch drei amerikanische Arbeitsgruppen nahezu gleichzeitig etabliert werden. Diese Entwicklung war mit einem neuen Verständnis in der Betrachtung von Nukleinsäuren verbunden. In den vorangegangenen Jahrzehnten wurden diese aus vier Bausteinen (Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin bzw. Uracil) bestehenden, kettenförmigen Moleküle lediglich als Träger der Erbinformation betrachtet. Jetzt wurde erkannt, daß sich abhängig von der Sequenzfolge der Bausteine sehr verschiedene und stabile Strukturen ausbilden können, die dann mit anderen Molekülen in definierte Wechselwirkung treten können.

Bei der "in vitro-Evolution" wählt man sich zunächst ein Zielmolekül, z.B. ein wichtiges Hormon oder ein pathogenes Virus. Die Chance, daß nun eine Nukleinsäure mit vorgegebener Sequenz an ein Zielmolekül bindet, ist sehr klein. Setzt man allerdings eine Bibliothek von 1015 verschiedenen Nukleinsäuren ein, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß einige Moleküle nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip an das Zielmolekül binden. Diese Nukleinsäuren werden jetzt isoliert und enzymatisch vermehrt. Bei der Vermehrung können neue Tochtermoleküle mit etwas veränderter, mutierter Sequenz und verbesserten Bindungseigenschaften entstehen. Die Tochtergeneration wird einem erneuten Selektionszyklus unterworfen und das Experiment solange fortgesetzt, bis der Experimentator mit den Eigenschaften seiner Nukleinsäuren zufrieden ist. Die Methode imitiert damit den Ablauf der natürlichen Evolution nach Darwin, dem Zyklus aus Selektion, Mutation und Vermehrung.

Mit dem Verfahren wurden in den letzten Jahren eine große Zahl neuer Nukleinsäuremoleküle, vorwiegend Ribonukleinsäuren (RNA), identifiziert. Bevorzugte Zielstrukturen waren dabei Moleküle, die an bisher nicht heilbaren Erkrankungen des Menschen beteiligt sind, wie z.B. Enzyme des AIDS-Virus oder die an der Krebsentstehung beteiligten angiogenen Faktoren. Weiterhin konnte von uns und anderen Forschergruppen gezeigt werden, daß sich durch "in vitro-Evolution" katalytische RNA-Moleküle isolieren lassen, also Moleküle die chemische Reaktionen beschleunigen können. Die Einsatzmöglichkeiten dieser "natürlichen" Nukleinsäure-Moleküle sind allerdings sehr begrenzt. RNA-Moleküle werden im menschlichen Blut innerhalb weniger Minuten vollständig abgebaut.

Am Institut für Biochemie der FU Berlin ist jetzt ein neues Konzept zum Design von stabilen Nukleinsäuren erarbeitet worden, das in zwei Fachaufsätzen in Nature Biotechnology veröffentlicht wurde. Das neue Verfahren beruht auf der "Händigkeit" der Nukleinsäuren. Wie von Louis Pasteur schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt wurde, besitzen die meisten biologisch wichtigen Moleküle eine "Händigkeit", oder wie der Chemiker sagt, eine Chiralität (von griech. cheir = Hand). Wie die linke und die rechte Hand des Menschen lassen sich diese Moleküle durch Drehen oder Verschieben nicht mit ihren Spiegelbildern zur Deckung bringen. Nukleinsäuren treten, wie die meisten biologisch wichtigen Moleküle, nur in einer der beiden denkbaren Formen auf. Die spiegelbildliche Form, d. h. eine Nukleinsäure mit identischer Sequenz aus spiegelbildlichen Bausteinen, ist in der belebten Natur unbekannt und kann daher auch nicht abgebaut werden. Das Spiegelbild einer Nukleinsäure, die aus der "in vitro-Evolution" hervorgegangen ist, hätte allerdings wenig praktischen Nutzen. Zwar wäre das Molekül stabil, würde aber nicht das Zielmolekül erkennen, sondern ihr in der Natur nicht existierendes Spiegelbild.

Das Problem läßt sich an einem Beispiel aus dem Alltagsleben verdeutlichen. Ein Rechtshänder ö mit der linken Hand vergleichsweise ungeschickt ö will lernen, wie er andere mit seiner linken Hand begrüßen kann. Gibt er sich jetzt mit einem Übungspartner die jeweils rechte Hand, so läßt sich diese Erfahrung unmittelbar durch Spiegelung auf die linke Hand übertragen. Ein "fester Komplex" ensteht allerdings nur mit der linken Hand seines Gegenübers.

Das Dilemma läßt sich umgehen. Bittet er seinen Partner, ihm zunächst die Linke zu geben, kann er den "festen Komplex" mit seiner Rechten erlernen. Die gespiegelte Erfahrung ermöglicht ihm jetzt jederzeit, seine Freunde mit der linken Hand zu begrüßen.

Auch bei der "in vitro-Evolution" besteht Freiheit bei der Auswahl von Zielmolekülen. So kann bei dem Selektionsschritt das Spiegelbild der Zielstruktur eingesetzt werden. Damit gelingt der "Griff durch den Spiegel". Die Spiegelbilder der jetzt erhaltenen Nukleinsäuren erkennen zwangsläufig die "natürlichen" Zielmoleküle.

Dieses Verfahren konnte jetzt erstmalig in der Abteilung von Prof. Volker A. Erdmann etabliert werden. Von Dr. Rolf Bald wurden zunächst die in der Natur nicht vorhandenen spiegelbildlichen Bausteine der RNA-Moleküle durch chemische Synthese präpariert. Aus den Bausteinen wurden dann die spiegelbildlichen Nukleinsäuren an einem Syntheseautomaten zusammengesetzt. Während ihrer Doktorarbeiten konnten Sven Klußmann und Alexis Nolte Moleküle entwickeln, die ein "natürliches" Nukleosid bzw. eine "natürliche" Aminosäure erkennen. Diese neuen Nukleinsäuren zeigten die erwartete Stabilität. In den bisherigen Labortests ließ sich im menschlichen Serum auch nach 60 Stunden kein Abbau feststellen.

Die Anwendungsperspektiven dieser Moleküle sind vielfältig. Der Vorteil spiegelbildlicher Nukleinsäuren gegenüber den etablierten Antikörper-Techniken ist zweifach: Sie sind biologisch stabil und durch chemische Synthese in großer Menge und hoher Reinheit zu präparieren. Das Verfahren eröffnet daher neue Perspektiven für die medizinische Diagnostik, die Umweltanalytik, die Biosensorik und die Biotechnologie. Besonders interessant wäre die Herstellung neuer Arzneistoffe auf dieser Basis. Der Schwerpunkt zukünftiger Forschungen wird auf der Entwicklung von Molekülen liegen, die Viren, Prionen oder Tumorzellen gezielt sabotieren.

Das Potential spiegelbildlicher Nukleinsäuren soll jetzt u.a. in dem von Prof. Erdmann geplanten Netzwerk "RNA-Technologien" zum Einsatz kommen. An dem Netzwerk wollen sich über 70 Arbeitsgruppen aus den Universitäten, Forschungsinstituten und der Industrie im Raum Berlin-Brandenburg beteiligen.

Jens P. Fürste


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