"Wir hatten das Glück zu überleben."

Erinnerungen an das Kriegsende 1945


April 1945. Die Rote Armee hatte Berlin eingeschlossen. Straße um Straße, Haus um Haus rückten die sowjetischen Truppen gegen den erbitterten Widerstand der deutschen Soldaten in Richtung Stadtmitte vor. Ihr Ziel: das Führerhauptquartier.

Am 2. Mai nahmen die Angreifer Moabit ein. Dort wartete Horst Hartwich im Keller des Wohnhauses seiner Eltern auf das Ende des Krieges. "Als die Russen da waren, wußte man, nun ist es endgültig aus. Manche hofften, andere befürchteten, daß noch ein deutscher Gegenstoß kommt, ich nicht."

Zwei Wochen vorher war der damals 24-jährige Apothekersohn aus einem Zwangsarbeitsbatallion der "Organisation Todt "in Zerbst bei Magdeburg geflohen, nachdem die Amerikaner den dortigen Flugplatz durch einen Bombenangriff vernichtet hatten.

Während der Naziherrschaft mußte Hartwich erfahren, was es bedeutete, als sogenannter "Halbjude" in Deutschland aufzuwachsen.

So war er von allen Jugendorganisationen ausgeschlossen. Rückhalt und Orientierung gab ihm eine Jugendgruppe der Bekennenden Kirche, der er sich 1937 angeschlossen hatte. Er schlug sich als Hilfsarbeiter durchs Leben, bis ihn die Nazis zum brutalen Arbeitseinsatz der "Organisation Todt" nach Zerbst schickten.

Diese prägenden Erfahrungen der rassischen Diskriminierung und Verfolgung erweckten im späteren Gründungsstudenten der Freien Universität Berlin das Mißtrauen gegen jegliche Form totalitärer Unterdrückung. Das verband ihn mit vielen anderen jungen Menschen, die ein ähnliches Schicksal durchlitten hatten und die der Zufall wenige Jahre später an der Friedrich-Wilhelms-Universität zusammenführen sollte.

Die Lebenswege von Horst Hartwich und Otto Heß kreuzten sich erstmals im Lager Zerbst. Auch Hess war Halbjude. Wie Tausende andere , die gezwungen wurden, für das Dritte Reich zu kämpfen, wurde er 1941 aus rassischen Gründen aus der Wehrmacht entlassen und interniert.

Trotz des sie umgebenden Elends gaben beide ihre Hoffnung nie auf, nach dem Ende des Krieges ein Studium aufnehmen zu können. Zum damaligen Zeitpunkt ahnte noch keiner, daß Hess wenige Jahre danach zum führenden Kopf der studentischen Opposition gegen die Vereinnahmung der Universität Unter den Linden durch die Ostberliner Machthaber werden sollte.

Auch Helmut Coper wurde zum Arbeitsdienst der "Organisation Todt" eingezogen. In Jena sollten die Lagerinsassen unterirdische Bunker für die Fabriken von Schott und Zeiss bauen. Weniger als die Hälfte der Männer, die mit ihm aus Berlin abtransportiert wurden, überlebten diese Zeit.

Als die amerikanische Front immer näher rückte, verschwanden die Bewacher. Der Weg in die Freiheit war für die Lagerinsassen plötzlich frei. Mit einem gefälschtem Marschbefehl brachen sie nach Berlin auf. Dort mußten sie sich zunächst versteckt halten, da immer noch die Gefahr bestand, von den Nazis aufgegriffen und als Deserteure exekutiert zu werden.

Den Tag der deutschen Kapitulation hat Helmut Coper heute noch als den Tag der Erlösung von seiner Angst um sein Leben in lebendiger Erinnerung. Für ihn war es allerdings ein Tag des Glücks ohne Glücksgefühl, denn dort, wo er lebte, herrschte Agonie: "Wenn man die ganze Zeit in Unsicherheit gelebt hat , in schrecklichen Ängsten, dann ist schon das Fehlen der permanenten Bedrohung eine Befreiung, das ist gar keine Frage. Aber das Leben und Überleben in Trümmern lief nun auf einmal auf einer ganz anderen Ebene weiter. Wir sind ja nicht gleich mit Care-Paketen überschüttet worden, sondern da waren schon die nächsten drei, vier Wochen ziemlich bitter. Es ging darum: Woher bekommt man Wasser? Kriegt man irgendwo ein bißchen Brot oder klaut man etwas Eßbares in irgendeinem Lager ? Das war also auch wieder eine Form des Überlebenskampfes, so daß man an ideelle und geistige Dinge damals nicht so wahnsinnig gedacht hat, geschweige denn an ein Studium. "

Stanislaw Karol Kubicki, 1926 in Berlin geboren, entstammte einer deutsch-polnischen Familie. Sein Vater, ein mit dem Anarchisten Erich Mühsam befreundeter Künstler, hatte engen Kontakt zu seinen polnischen Verwandten in Posen gehalten und war 1934 aus Deutschland ausgewiesen worden. Nach der Besetzung Polens durch die Nazis schloß sich sein Vater der Polnischen Heimatarmee an. Er wurde schließlich wie Tausende andere Widerstandskämpfer von der Gestapo gefaßt und liquidiert.

Den Sohn schickten die Nazis 1944 zu einer Ausbildungskompanie nach Polen an die Front, die kurz darauf von der Roten Armee überrollt wurde. Kubicki erlebte den 8. Mai in sowjetischer Gefangenschaft in Posen. Nie hatte er am Untergang des Dritten Reichs gezweifelt, doch als er plötzlich besiegelt war, stellte sich beim Gefangenen kein Gefühl der Befreiung ein : "Ich dachte 'Ach, mein Namenstag. Genau an meinem Namenstag ist also der Krieg zuende gewesen.' Ich mag den Namen zwar nicht, aber es war mein Namenstag." Und er korrigiert die Erwartung der Nachkriegsgenerationen, daß er und alle anderen Überlebenden des Naziterrors an diesem historischen Tag auf einen Schlag von einem wahnsinnigen Druck entlastet wurden: "Wie dieses Reich kaputtging, das war für mich sukzessive Druckentlastung".

Kubicki wurde Ende August 1945 entlassen und kehrte nach Berlin zurück. Erst dort erfuhr er vom Tod seines Vaters. Doch nicht Rache bestimmte sein Denken, sondern die Sehnsucht nach Frieden: "Als ich nach Hause kam, hatte ich an den Nazis kein Interesse mehr. Den Neubeginn wollte ich mitgestalten. Ich dachte 'Jetzt bricht die Demokratie aus und wir werden dran teilnehmen'."

Daß man die Demokratie nicht geschenkt bekommt, sondern sie erringen und verteidigen muß, erfuhren Kubicki, Hartwich, Hess und Coper nur wenige Jahre später als Studenten der Universität Unter den Linden. Sie wollten eine Universität ohne politsche Bevormundung, eine freie Universität. Am 4. Dezember 1948 entstand sie in Dahlem.


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