Die Großstadt
Ort der Verführung

Zu sehen auf der Abschlußveranstaltung der Filmfestspiele: Der Stummfilm "Asphalt" zeigt ein Berlin der Filmarchitekten



Am Drehort in den Ufa-Studios


Mit dem Beginn der Neuen Sachlichkeit verändert sich der filmische Blick auf die Großstadt. Er haftet nun an der Oberfläche der Dinge und betont deren physische Präsenz. Wenn nicht gleich "Metropolis", so heißt die Großstadt, die gegen Ende der Stummfilmzeit auf der Leinwand erscheint, Berlin.

Doch das Berlin im deutschen Spielfilm der zwanziger Jahre ist fast nie das reale Berlin; es ist das imaginierte Berlin der Filmarchitekten, die Vision einer Stadt, realisiert in Holz und Pappe. Den kühnsten dieser Berlin-Entwürfe präsentiert der im März 1929 im Ufa-Palast am Zoo uraufgeführte Film "Asphalt".

Der Film beginnt mit einigen in den Straßen des tatsächlichen Berlin gedrehten Einstellungen: ein dokumentarischer Anfang wird von einer sich authentisch gebenden Fiktion fortgeführt. Die reale Stadt wird mit der fiktiven verwoben, beide werden im Kino zur filmischen Realität synthetisiert. Erst die Attrappe ermöglicht den Realismus der Szenerie, hebt ihn aber auch auf und überführt ihn in die stilisierte Welt des Melodrams. Mit Hilfe der Studiotechnik wird das Bild der großstädtischen Einkaufsstraße gemäß den Erfordernissen des Drehbuchs visualisiert.

So errichtete der Filmarchitekt Erich Kettelhut auf dem Gelände der Ufa in Neubabelsberg quer durch alle drei Hallen eines neu erbauten Atelierkomplexes eine Geschäftsstraße nach dem Vorbild der Leipziger Straße. Der Presseabteilung der UFA kam die Idee, renommierte Firmen zu bewegen, jeweils einen Laden in dieser bis dato grössten Studiokulisse Europas auszustatten. Die Firmen schickten ihre Waren, ihre Chefdekorateure und ihre Elektriker, die Lichtreklamen anbrachten.

Die sorgfältig rekonstruierte Einkaufsstraße ist Sujet und Schauplatz der spektakulären Anfangssequenz des Films. Die Stadt wird dem Zuschauer aus der Sicht der Passanten dargeboten. Die Blickwinkel auf die Stadt werden multipliziert, und erst in der Vervielfältigung der Perspektiven wird die Stadt erfahrbar. Und doch wirkt das Bild der Großstadt einheitlich: als Straße, weil nie ein Horizont in den Blick gerät, und als Ensemble von Geschäften, Schaufenstern, Vergnügungsstätten, weil die Bewegung der Kamera sie zusammenhält. Kettelhut und der Kameramann Günther Rittau entwickelten speziell für diese Sequenz einen Kranwagen, mit dessen Hilfe die Dekoration der gebauten Stadt in einer einzigen totalen Bewegung aufgenommen werden konnte.

Der Entwurf einer Stadt im Studioatelier bedeutet zugleich auch deren Interpretation. Trotz der authentischen Details tendiert die realistische Illusion zur Stilisierung. So definiert sich die Großstadt Berlin vorrangig durch Bewegung: Bewegung der Passanten, Bewegung des Verkehrs. Beide zirkulieren auf festgelegten Bahnen: der Strom von Menschen und Fahrzeugen folgt einer strengen Choreographie, erscheint gleichsam ornamentalisiert.

Großstädtisch ist in "Asphalt" auch das Verhältnis von Exterieur und Interieur: Die Metropole endet nicht an den Fassaden, jedes Innen ist zugleich auch ein Außen. Neben dem Prinzip des Blickes von außen nach innen gibt es häufig auch die Umkehrung dieser Perspektive. So sehen wir mit einer Traube von Neugierigen einer jungen Frau zu, die im Schaufenster eines Geschäftes langsam einen Seidenstrumpf über eines ihrer attraktiven Beine streift. Im Gedränge stiehlt der junge Hans Albers Geld aus einer Handtasche. Die Kamera zeigt uns den Vorgang aus dem Fenster heraus. Das Motiv des Diebstahls wird anschließend mit einer ununterbrochenen Kamerabewegung in das Interieur eines Juweliergeschäftes getragen. Dort bleibt die Großstadt aber nicht allein durch die Verdoppelung des Diebstahls gegenwärtig: der Straßenverkehr ist in einem Spiegel, die eilenden Passanten durch eine transparente Glastür sichtbar.

Die architektonische Struktur der Stadt findet sich auch in den Innenräumen wieder. Das luxuriöse Appartement einer Juwelendiebin setzt den verführerischen Glanz des nächtlichen Boulevards fort. Der Verkehrspolizist, der die schöne Diebin verhaften soll, ist ebenso begierig hinter die vielen Türen zu schauen wie das Kinopublikum. Aus der Wohnung und den Fängen Betty Amanns gibt es für den Gesetzeshüter Gustav Fröhlich kein Entkommen. Wie eine Raubkatze springt die Juwelendiebin den Polizisten an: der Helm landet auf dem kostbaren Teppich, eine Hand krallt sich in seinen Schopf, langsam gleitet ein nacktes Frauenbein an seinem Stiefel herab. In der Großstadt, dem Ort der Verführung, siegt die Erotik über das Pflichtbewußtsein, die Liebe über den persönlichen Vorteil.

Die Berlinale präsentiert in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek "Asphalt" am 20. Februar im Zoopalast als Abschlußveranstaltung. Die Vorstellung ist zugleich eine Premiere: Nicht die bekannte Version des Films wird zu sehen sein, sondern eine von Martin Koerber erarbeitete neue Fassung, die nicht nur bislang unbekanntes Material enthält, sondern auch einige recht wichtige Schnittänderungen aufweist. Karl-Ernst Sasse hat für den Film eine neue Musik komponiert (die Originalmusik gilt als verschollen), die die Brandenburgischen Philharmoniker unter Leitung von Manfred Rosenberg aufführen werden.


Robert Müller


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