So allgemein gefragt: ja, Tierversuche sind unverzichtbar, genauso unverzichtbar wie Menschenversuche oder wie die menschliche Neugier. Das wissen auch Tierschützer und Tierversuchsgegner. Es zu leugnen nützt den Tieren nichts. Aber die Art und Durchführung der Tierversuche kann sich ändern.
Die Lebenswirklichkeiten sind so vielschichtig, Erkrankungen und Gebrechen sind so komplex, daß sie in einfachen Modellen wie in Zellkulturen oder Computersimulationen, oft nicht erfolgreich abgebildet und untersucht werden können. Auch komplexere Modelle wie perfundierte isolierte Organe und Modelle mit niederen Tieren wie mit Fliegen bringen nicht immer die gewünschten Ergebnisse. Deshalb hat die diesjährige Nobelpreisträgerin für Medizin, Frau Nüsslein-Vollhardt, ihre wirklich spannenden und folgenreichen entwicklungs-biologischen Entdeckungen erst an Zellen und dann an Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster) gemacht und überprüft sie jetzt an Fischen (Zebrabarben). Weitere Versuche an Embryonen und warm blütigen Wirbeltieren werden sicher folgen; sie sind unverzichtbar.
Aber die Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen für Forschung, und besonders für tierexperimentelle Forschung, Testung und Übung müssen überprüft und präzisiert werden; ähnlich wie es für private und staatliche Neugier ethische und rechtliche Grenzen gibt. Dabei muß auch über eine Einschränkung der Forschungsfreiheit gesprochen werden dürfen.
Konstruktiv und detailliert sollte gefragt werden: Welche Belastungen, Ängste, schwere oder langandauernde Schmerzen, dürfen nach europäischen Wertvorstellungen einem Tier allgemein und einem Versuchstier, das sich in der Obhut des Menschen befindet, nicht zugemutet werden? Wie kann eine solche Belastung definiert werden?
In welchen Bereichen kann auf die Methode des Tierversuchs ohne gesellschaftlichen Schaden verzichtet werden? z.B. bei der Testung von neuen Substanzen für Kosmetika, im Rahmen der Entwicklung von Kriegsgerät oder von weniger schädlichen Zigaretten, bei der Erforschung von Kopf- bzw. Ganzkörpertransplantationen?
Soll eine forschungsintensive, kostenintensive medizinische Maximalversorgung größere Priorität haben als die Verbesserung der Krankheitsprävention und Lebensqualität?
Welche Tierversuche sind nach heutigem Kenntnisstand nicht zu genehmigen? z.B. nicht ausreichend geplante Versuche, Versuche, die nicht moderne nichtinvasive diagnostische Möglichkeiten nutzen, Doppelversuche bzw. nicht ausreichend recherchierte V ersuche?
Nur ganz wenige Menschen haben etwas dagegen, daß Tiere genutzt und auch getötet werden, zur Gewinnung tierischer Produkte oder zu wissenschaftlichen Zwecken, wenn die Tiere "wenigstens ein schönes Leben gehabt haben" und angstfrei getötet werden. Tierärzte und Versuchstierkundler müssen artgemäße, soziale Lebensbedingungen herstellen. Dazu muß noch mehr Gebrauch gemacht werden von "cage enrichment", d.h. einer Bereicherung des standardisierten Lebensraum s.
Sehr viele Menschen gehen aber zu Recht davon aus, daß Tiere zwar sich selbst und ihre Zukunft anders sehen als wir, aber ähnlich empfindsam sind wie wir selbst und eine Seele haben. Sie wenden sich deshalb gegen Versuche, die mit Angst und größeren Schmerzen, Leiden und Schäden verbunden sind. Das muß aus ethischen, gesellschaftlichen und politischen Gründen noch mehr berücksichtigt werden.
Für die Belastung ist entscheidend, welcher Endpunkt für einen Versuch gewählt wird. Muß für den Erkenntnisgewinn gewartet werden, bis ein Tier versuchsbedingt verendet, oder kann es bei ersten Anzeichen einer Schädigung tierschutzgerecht getötet werden? Natürlich ist die Einschätzung, ob es einem Tier schlecht geht, schwerer objektivierbar als die Todesfeststellung am folgenden Morgen. Ein großer Fortschritt für die frühzeitige Erkennung der Wirkung eines Medikaments und der subklinischen Schädigung des Tieres sind moderne nichtinvasive diagnostische Methoden, z.B. die Kernspintomographie, mit der oft gemessen werden kann, wann ein Organ deutlich versuchsbedingt geschädigt ist, bevor es zu klinischen und schmerzhaften Symptomen beim Tier kommt. Diese Erkenntnisse müssen aber oft noch in der Praxis um- und durchgesetzt werden.
Tierversuche, ich meine Tierversuche ohne extreme Belastungen und für "wichtige Zwecke", werden auch in Zukunft notwendig sein. Aber es muß qualifizierter abgewogen werden, ethisch, wissenschaftlich, sowohl durch den Experimentator, die Hochschule, die Industrie, als auch durch die ·ffentlichkeit. So, wie sorgfältig abgewogen werden muß, ob bei einem Menschen, bei dem ein Medikament nicht lehrbuchmäßig wirkt, ein anderes Medikament verabreicht werden soll, obwohl Nebenw irkungen zu erwarten sind.
Die Hoffnungen und Erwartungen in die Entwicklung der Medizin, etwa der Transplantationsmedizin, sind sehr groß. Sie bedient sich der Gentechnik, um eines Tages auch Organe vom Schwein transplantieren zu können. Dieser Zweck, dem auch die Grundlagenforschung dienen kann, wird wohl eine gersellschaftliche Anerkennung behalten. Tierversuche, hoffentlich nur wenig belastende Tierversuche, werden deshalb neben und nach der selbstverständlichen Ausschöpfung von Ergänzungs- und Ersatzmethoden zum Tierversuch ihre Bedeutung nicht verlieren.
Christian Große-Siestrup
Dr. Christian Große-Siestrup begann seine Arbeit an der FU 1973 als Wissenschaftlicher Assistent. Seit 1983 ist er Leiter der Tierexperimentellen Einrichtungen und seit 1986 Tierschutzbeauftragter des Universitätsklinikums Rudolf-Virchow (früher Klinikum Charlottenburg).