Die Harvard Medical School - von den 33 Nobelpreisträgern Harvards gehen 18 auf das Konto der Medical School - ist das Zentrum für biochemische und biomedizinische Forschung der Welt. Das, obwohl diese Wissenschaftszweige quasi in Berlin an den Kaiser Wilhelm Instituten (KWG, heute Max-Planck-Gesellschaft, MPG) Anfang des Jahrhunderts begründet wurden. Hitler sorgte ab 1933 für den Exodus nahezu der gesamten deutsch-jüdischen Elite und damit für den geistigen Ausverkauf der jungen Biowissenschaft direkt nach ihrem Entstehen.
Adolf Butenandt, dem Hitler 1939 in Berlin die Annahme des Nobelpreises für seine Arbeiten über die Aufklärung der Steroidhormone verbot, und dem 1949 die Urkunde - der Geldpreis war verfallen - rasch über den Schreibtisch des schwedischen Konsuls hinweg überreicht wurde, mußte nach dem Krieg bei einer Einladung nach Boston anerkennen: "Ich habe diesen Morgen (in Harvard d.A.) wie einen Göttertrank genossen. Ich bin wirklich von der Wissenschaft hier bis ins Mark getroffen. Wir werden sie nicht mehr einholen." Was in Berlin mit der KWG begann, dann über ein Kriegs-interludium in "Oxbridge" eine Fluchtstätte fand, hat heute seine dauerhafte Bleibe in Harvard gefunden.
Das Hauptgebäude der Harvard Medical School
Boston als Studentenstadt: Trotz über einer Viertelmillion Studenten an über 65 Colleges und Universitäten mangelt es in Boston keineswegs an studentischem Wohnraum, anders als in Berlin. Am sogenannten "moving day", dem 1. September, findet man überall ein buntes Durcheinander von Möbeln, Geschirr und sonstigen Wohnutensilien auf den Straßen und in den Vorgärten. Ein Schnäppchen ist bei den unzähligen yard-sales schnell gemacht und das 30-teilige Küchengeschirr für $5 oder das Fahrrad für $10 ergänzen im Nu den Hausrat.
Vor zwei Jahren, bei meiner ersten Laborrotation in Boston, fand ich eine Unterkunft mit vier Mitbewohnern zunächst in einer sogenannten "mixed neighbour-hood" in Mission Hill. Meine "landlady" erklärte mir, daß hier neun Schwarze auf einen Südamerikaner kommen und versuchte damit, die hohe Kriminalitätsrate dieser Gegend zu begründen. Weiße wohnen dort nicht, obgleich man sich einen Steinwurf von der Longwood Medical Area befindet. Die Huntington Avenue bildet die Demarkationslinie zwischen den Privathospitälern und dem Slum, zwischen Arm und Reich. Jetzt lebe ich zur Untermiete in einer feudalen Villa in Brookline, dem reichsten und (nahezu) rein weißen Viertel. Autos oder Haustüren braucht man hier nicht abzuschließen, Diebstähle kommen so gut wie nie vor. Ein amerikanisches Paradoxon: der vielbeschriebene "melting pot" ist eben doch keiner, und Klassen- und Rassenunterschiede errichten klar erkennbare Grenzen.
Der Wissenschaftsbetrieb ist Bostons Wirtschaftsfaktor Nummer eins. Damit zurück zum allgegenwärtigen Fundraising. Nahezu die gesamte Forschung wird aus Drittmitteln und Spendengeldern finanziert. Für deutsche Verhältnisse recht ungewohnt, stößt man an allen Ecken und Enden auf Plaketten mit den Namen der großzügigen Donatoren. So ißt man zu Mittag in der "Cable Dining Hall", behandelt Patienten in der "A. Grossman Adult Clinic" und verschnauft zwischendurch in der "Wellman Recreation Area". Immer wiederkehrende Aktionen sind etwa der "Walk for Life" (wer mitwandern möchte, muß zunächst einmal selbst $100 spenden!) für die AIDS-Forschung oder der Vorspann im Kino über den Jimmy Fund mit freiwilligen Helfern, die anschließend mit der Spendenbüchse durch die Reihen gehen. Auch der Modezar Karl Lagerfeld spendete - recht werbewirksam für die Aids-Forschung - Geld zur Finanzierung zweier Postdoktorandenstellen in unserem Labor.
Die immensen privaten Zuwendungen sorgen für die Spitzenposition der HMS in der Forschung und machen Harvard zum größten Arbeitgeber Bostons. Allein aus ihren Rücklagen könnte die HMS etwa sechsmal das Hauptgebäude der FU errichten. Und nur durch eine solch üppige Finanzierungsweise lassen sich rein experimentelle Forschungskrankenhäuser wie das Dana-Farber finanzieren: Hier kommen auf 1.200 Naturwissenschaftler und Ärzte etwa 40 in-house Patienten. Die "endowment funds" (finanzielle Ausstattung) Harvards betragen zur Zeit über 6,2 Milliarden Dollar, die jährlichen Operationskosten lagen 1994 bei fast dem Doppelten des FU-Haushaltes, allerdings bei nur einem Drittel der Studentenzahl der FU. Die Vermar ktung des Namens "HARVARD" als ein elitäres Fanal scheint mittlerweile allerdings eine gewisse Eigendynamik bekommen zu haben. Das old boys network der ehemaligen Studenten ist für jede Universität ein unschätzbares Kapital, denn es ebnet den eigenen Bewerbern beim hindernisreichen Kampf um Drittmittel den Weg zu noch mehr Geld und Ruhm.
"Free? Is it really for free?", schaut mich fragend einer meiner Laborkollegen an, wobei sein Blick an der Aufschrift "Free University Berlin" meines T-Shirts mit Erstaunen hängenbleibt. Jedesmal amüsiert es mich von neuem, meinem ungläubigen Gegenüber zu erklären, daß das "Free" im Namen der Universität eine politische Bedeutung besitzt, die universitäre Ausbildung in Deutschland kostenlos ist und kein Schulgeld von $26.000 im Jahr gezahlt werden muß. Bei solchen Beträgen sind aber auch selbstverständlich infrastrukturelle Einrichtungen wie das Shuttle-Bussystem eingeschlossen, die jeder Harvard Student kostenlos nutzen kann.
Eines Tages komme ich mit so einem Shuttle vom "satellite campus", wie das MIT (Massachusetts Institute of Technology) auf der Cambridger Seite von den Harvadianern genannt wird, von einem Vortrag nach Boston zurück. Wohin ich auch schaue, der Bus ist zu über 90 Prozent mit Asiaten besetzt. Mein Nebenmann, ein "African American", beugt sich zu mir herüber und raunt mir ins Ohr "They have taken over!". Über 50 Prozent der Wissenschaftler an der HMS kommen aus dem asiatischen Raum, an manchen Universitäten im Süden der USA sind es bereits über 80 Prozent mit steigender Tendenz. In dem Labor, in dem ich arbeite, sind zwei Drittel Ausländer aus Europa, Asien und Südamerika.
Der Globusautor im Sicherheitslabor
Das ist das Wissenschaftsparadoxon: Die us-amerikanische Forschung wird schon lange nicht mehr von Amerikanern betrieben. Kaum ein US-Student nimmt noch die Mühen eines naturwissenschaftlichen Studiums auf sich - die Karriere als ewig armer und ehrlicher Wissenschaftler scheint den meisten zu mühevoll angesichts der lukrativen Alternativen der Medical, Law oder Business Schools. Auch der Arbeitstag in der Forschung von "16/7" (16 Stunden am Tag, siebenmal in der Woche) ohne entsprechende Vergütung ist so einfach nicht jedem schmackhaft zu machen. Um dennoch über genügend Nachwuchs in den Naturwissenschaften zu verfügen, wird den graduate students das Schulgeld erlassen und bis zu ihrem Abschluß ein Lebenshaltungskosten-Stipendium bezahlt - eine lobenswerte Neuerung auch im deutschen Uni-System?
Ein deutsches Paradoxon: Jeder Student in den Naturwissenschaften muß den sogenannten "BTA" (been to America) machen. Früher kam man nach einigen Jahren wieder nach Deutschland zurück. Heute lassen die hoffnungslose Situation auf dem heimischen Arbeitsmarkt und die stagnierende Entwicklung der Biomedizin (Bio-/Gentechnologie) - aufgrund der fortschrittsfeindlichen Stimmung in Deutschland, die in den USA Befremden hervorruft - eine Rückkehr fast nicht mehr zu. Und so sammeln sich auch in Boston immer mehr Exilberliner...
Andreas Weimann (25), studiert seit 1990 an der FU Biochemie und Medizin. Als "Visiting Research Scholar" hat er in der Division of Retrovirology am Dana-Farber Cancer Institute, einem Lehrkrankenhaus der HMS, seine biochemische Doktorarbeit über Virus-Zellinteraktionen von HIV-1 angefertigt.