DER PRÄSIDENT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN


Liebe FU-Mitglieder,

zum Semesterbeginn möchte ich Sie alle, insbesondere die neuimmatrikulierten Studierenden, mit dem Wunsch begrüßen, daß das freie geistige Leben einer Universität Sie auch alltäglich beflügelt. Dabei kann die beso ndere Tradition der FU ein Ansporn sein; denn diese Universität ist 1948 im damaligen Berlin-West zur Wahrung der politischen und akademischen Freiheit bewußt demokratisch und international verfaßt und als Freie Universität Berlin ge gründet worden, hat alsdann mit diesem Selbstbewußtsein stürmisch wie keine andere deutsche Universität auch gesellschaftspolitisch prägend gewirkt, erinnerlich vor allem in den konfliktreichen Jahren um 1968, ist danach in einer eher ruhigen und angepaßten Phase zu einer der großen Massenuniversitäten gewachsen und steht heute im reifen Alter von bald 50 Jahren angesichts völlig veränderter politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse im vereinte n Berlin und Deutschland wiederum vor der Herausforderung einer neuen Selbstbesinnung und -bestimmung, indem die nach wie vor fraglos gültigen Gründungsideale zeitgemäß zu bedenken und zu beleben sind.

Das kann sich nicht im Bewahren von Besitzständen erschöpfen, zumal es neben der FU und der TU jetzt noch die HU und die Universität Potsdam nahe beieinander gibt, die gemeinsam diese "Universitätslandschaft" bilden und gestalten müssen. Allerdings haben wir auch darauf zu achten, daß wir nicht unter dem Vorwand einer besseren Koordinierung nur zum vermehrten Besitzerwerb für andere verwendet werden; denn es gibt zweifellos einen Sog zum stadt- und regionalpolitisc hen Ausgleich vor allem auf Kosten der FU, die angesichts der Größe und Vielfalt ihrer Fächer dafür auch besonders verlockend wirkt und ohnehin aus Haushaltsgründen wie zur eigenen Konsolidierung einen Teil ihrer Quantität a ufgeben muß und will. Aber das wesentliche Anliegen ist die innere und inhaltliche Erneuerung selbst.

Diese reicht von einer intensiven Pflege der akademischen Gemeinschaft, vor allem zwischen Lehrenden und Studierenden, über die Wahrnehmung einer gemeinsamen Verantwortung für die Verbesserung von Lehre und Studium bis zur Íberprüfung der Inhalte von Forschung und Lehre im Licht zeitgerechter Fragestellungen und fachübergreifender Zusammenhänge, zumal häufig zwischen den Fächern die wichtigsten Entwicklungsperspektiven liegen, beispielhaft bei der Biomedizin und den Umweltwissenschaften. Neben einer gründlichen fachlichen muß auch eine allgemeine universitäre Bildung wieder mehr zum Ziel werden, so daß wissenschaftliche wie gesellschaftliche Verbindungen und damit auch die Verantwortung fü r die großen Probleme der Zeit deutlicher werden. Dabei hat eine Universität wie die FU auch die vom herrschenden Zeitgeist vernachlässigten Themen aufzugreifen, die sich ungelöst häufen und deren Behandlung vor allem die Studier enden einfordern - etwa die Verteilung von Reichtum und Armut im eigenen Lande und in der Welt, die übermäßige Ausbeutung der Umwelt und vieler Menschen zugunsten einer Minderheit, zu der wir selbst gehören, die Suche nach einem besse ren Verhältnis zwischen Solidarität und Konkurrenz, auch im Hinblick auf die beruflichen Perspektiven für die heutige Jugend.

Der besondere politische Gründungsauftrag der FU geht über eine rein akademische Mission hinaus, wobei aber die wissenschaftlichen Grundlagen zu wahren sind, damit nicht ein bloßes Forum persönlicher Meinungen schon viel gilt. De shalb sind auch insoweit wissenschaftliche Leistung und Qualität maßgebend, die heute immer wichtiger werden, wenn es um die Anziehungskraft einer Universität für Studierende, besondere Forschungsaufträge undöffentliche Haus haltsmittel geht. Die teils auch praktizierte Vorstellung von den Hochschulen als unverbindlichen Aufenthaltsstätten mit beliebiger Erfüllung oder Nichterfüllung der Aufgaben in Forschung, Lehre und Studium ist in der FU nicht mehr zu respektieren, die deshalb noch lange keine reglementierte Anstalt sein soll.

Das erfordert eine zunehmende akademische Verantwortung und Leistungskultur in allen Bereichen bei möglichst vielen Mitgliedern, die aktiv fördernd und fordernd dabei mitwirken. Entsprechend sind auch Haushaltsmittel nach transparenten Kriterien der Leistung in Forschung und Lehre differenziert zu verteilen, wie das in der FU seit einiger Zeit geschieht und fortschreitend geschehen muß. Das gilt gerade bei rückläufigen staatlichen Zuschüssen, die verstärkt durch die Einwerbung von Drittmitteln insbesondere für Forschungsleistungen, sonstigen Wissenschaftstransfer und Weiterbildung zu ergänzen sind. Auch die Evaluierung von Lehre und Studium ist in Gang gekommen, die aber nicht bei der studentischen Beurteilung der einzelnen Lehrveranstaltungen stehenbleiben kann und vor allem zu effektiven Verbesserungen führen muß. Selbst die von manchen pauschal abgelehnte Prüfungsberatung für sog. Langzeitstudierende hat, wenn sie nicht als reine Sanktion mißverstanden wird, eine positive Bedeutung, die allerdings für die Zukunft durch eine bessere frühzeitige Studienberatung möglichst überflüssig werden sollte.

Bei aller nötigen Beschäftigung mit unseren eigenen Pflichten müssen wir jedoch auch die politischen Rahmenbedingungen berücksichtigen, die uns immer mehr zu schaffen machen. Massive Haushaltskürzungen, die ohne Rücksicht auf die universitären Aufgaben und dazu gegen jede planerische Vernunft immer größer werden, sind dafür symptomatisch. Aber die Gründe liegen tiefer. In Berlin und ähnlich in den meisten Bundesländern fehlt neben dem staatlichen Geld vor allem ein angemessenes öffentliches Bewußtsein vom Wert der Universitäten, die inzwischen mehr als lästige Kostenfaktoren denn als Träger und Vermittler des wissenschaftlichen Erbes und damit als wichtige Zukunftsinvestitionen behandelt werden. Außerdem fehlende Arbeitsplätze sogar für bestqualifizierte Absolventen der Universitäten, gleichzeitig Abbau von beruflichen Ausbildungsplätzen durch die Wirtschaft, bald vielleicht Darlehenszinsen für BAföG-Empfänger, so daß sich die soziale Diskriminierung wieder verschärft, schließlich auch Studiengebühren - das ist ein Szenario, das den Generationsvertrag mit der Jugend in Frage stellt.

Deshalb dürfen wir uns nicht auf die Universität und deren Erneuerung beschränken und schon gar nicht darüber zerstreiten, sondern wir müssen uns gemeinsam mit den anderen Hochschulen auch bildungspolitisch deutlich zu Wort melden. Wenn sich nach den kommenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, gleichgültig wie sie ausgehen, die Gefahr zusätzlicher Haushalts- und Kapazitätskürzungen im Hochschulbereich abzeichnet, der in den letzten Jahren schon erheblich "eingespart" worden ist, dann müssen wir selbst das öffentliche Interesse der Bildungspolitik geltend machen, so daß Bürgerprotest wie Selbstverantwortung gleichermaßen zur Pflicht werden.

Kürzlich bin ich füreine weitere Amtszeit von vier Jahren als Präsident der FU wiedergewählt worden. Innere Erneuerung und äußere Selbstbehauptung sind die Grundlagen, denen ich mich mit der gesamten Leitung verpflichtet fühle. Darin stimmen inzwischen auch die Mehrheiten in den entscheidenden Gremien wie der größte Teil der FU- Mitglieder überein. Diese Anliegen mögen Sie bitte alle ernst nehmen, wobei es im Grunde aber nicht um eine Last, sondern um die ungewöhnliche Gelegenheit zu einer neuen geistigen Bewegung geht. Deshalb brauchen alle nur wirklich begeistert das tun, was sie mit der eigenen freien Entscheidung als Mitglieder der FU in Forschung, Lehre, Studium und sonstiger Arbeit zu leisten übernommen haben. Bedenken Sie die besondere Begünstigung, die Ihnen als Mitglieder einer Universität "im öffentlichen Dienst" zur eigenen geistigen und persönlichen Entfaltung zuteil wird.

Mit besten Wünschen und vielen Grüßen

Prof. Dr. Johann W. Gerlach

15. Oktober 1995


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