Eine junge Vietnamesin wird wegen Diebstahls in einem Berliner
Kaufhaus festgenommen. Da sie weder der Polizei, noch dem Dolmetscher,
noch dem Ermittlungsrichter Auskunft gibt, wird gegen sie Haftbefehl
erlassen und sie wird in die Haftanstalt Plötzensee gebracht. Erst zwei
Tage später liest zufällig ein Justizbeamter in der Zeitung, daß eine
gehörlose Vietnamesin vermißt würde. Und bei seinen Nachforschungen
stellt sich tatsächlich heraus, daß es sich bei der verhafteten Frau um
eben dieselbe handelt.
Gehörlose Menschen sind in ihrem Alltag schwerwiegend
beeinträchtigt. Schon einfachste Mitteilungen an hörende Personen, die
den Umgang mit Gehörlosen nicht gewohnt sind, können unüberwindliche
Probleme aufwerfen. Der gängige Begriff der "Taubstummheit" wird von
den Betroffenen abgelehnt. Gehörlose können zwar nicht hören, durchaus
aber sprechen lernen, da ihre Sprechorgane intakt sind. Nach
Einschätzung von Jens Heßmann, Mitarbeiter des Projektes
"Gebärdensprache" der FU, wird der Begriff "taubstumm" von Gehörlosen
als diskriminierend abgelehnt, weil damit gemeinhin geistige
Unzulänglichkeit verbunden wird. Geistig unzulänglich sind aber die
Gehörlosen ganz und gar nicht.
Heßmann: "Wer kommunizierende Gehörlose unbefangen beobachtet, wird
kaum umhin können, die Gewandtheit und Kreativität, mit der körperliche
Mittel hier benutzt werden, anzuerkennen. Bewegungen der Finger, Hände
und Arme spielen fein abgestimmt mit Körperhaltung und Gesichtsausdruck
zusammen." Das Projekt "Gebärdensprache" möchte gehörlose Menschen nicht
aus der Perspektive ihres behandelbaren - oder nicht behandelbaren -
Defektes betrachten, sondern deren gesamtes soziales Umfeld in die
Forschung einbeziehen.
Die Gebärdensprache schweißt Gehörlose zusammen. So leben in
Berlin ungefähr 6000 Gehörlose, die sich alle mehr oder weniger kennen.
Gebärdensprache ist ein lebendiges und kreatives Medium. Es gibt
nationale Gebärdensprachen, mit einigen länderübergreifenden identischen
Gebärden.
Es überwiegen jedoch die Unterschiede, so daß sich z.B. deutsche
und französische Gehörlose nicht problemlos verständigen können.
Andererseits sind Gehörlose durchaus in der Lage diese
Kommunikationsbarrieren schnell zu überwinden, weil sie in der
internationalen Verständigung bildhafte Elemente betonen und aufgrund
ihrer gemeinsamen Lebenserfahrung, gestisch und mimische Zeichen leicht
deuten können. Ist jedoch die Kommunikationssituation nicht dialogisch,
können erhebliche Verständigungsschwierigkeiten auftreten. So stellte
die amerikanische Gehörlosenaufführung des Theaterstückes "Gottes
vergessene Kinder" für die britischen ZuschauerInnen eigens einen
Dolmetscher, da die Unterschiede zwischen britischer und amerikanischer
Gebärdensprache zu groß sind, als daß die Inselbewohnerinnen und
-bewohner problemlos hätten folgen können. Nach dem Motto: «Die
Mehrheit hört, die Mehrheit spricht, also müssen Gehörlose sprechen
lernen«, wird im deutschsprachigen Raum traditionell die Integration
Gehörloser in die Gesellschaft über Lautspracherwerb betrieben.
Noch bis vor wenigen Jahren wurde der Gebrauch der Gebärdensprache
den Kindern in Gehörlosenschulen weitestgehend vorenthalten, da - wie
häufig angenommen wird - diese den Lautspracherwerb stark behindere.
Ein weiterer, banalerer Grund für die stiefmütterliche Behandlung der
Gebärdensprache im Schulalltag ist, daß Lehrer nur unzureichend die
Gebärdensprache beherrschen. Die Vermittlung der deutschen Sprache lief
also bisher weitestgehend ohne Rückgriffe auf gebärdensprachliche
Elemente.
Tatsache ist jedoch: Eine Kommunikation zwischen Gehörlosen und
Hörenden ist problematisch - wenn nicht auch die Gebärdensprache
eingesetzt wird. Heßmann: "Einerseits verstehen ungeübte Hörende die
Aussprache Gehörloser nur bruchstückhaft, andererseits können Gehörlose
durch Lippenlesen nur in Ausnahmefällen eine Gesamtaussage in ihrem
Zusammenhang erschließen." Hinzu kommt, daß Gehörlose meist über einen
sehr eingeschränkten Wortschatz verfügen. Wenn Gehörlose in ihrer
Kindheit nicht gerade von ihren Eltern gezielt und sehr engagiert
gefördert wurden, können sie als Erwachsene nur wenig lesen oder
schreiben.
Jens Heßmann macht dafür nicht nur die erheblichen Schwierigkeiten
beim Sprechenlernen verantwortlich, sondern auch die traditionell
einseitige Ausrichtung in der Gehörlosenpädagogik. Er hofft, daß durch
bilingualen Spracherwerb (Gebärdensprache als Muttersprache, deutsche
Sprache als "1. Fremdsprache") oder durch lautsprachbegleitende Gebärden
im Unterricht die Lese- und Schreibkompetenz Gehörloser künftig zunimmt.
Ein derzeit in Hamburg anlaufendes Modellprojekt soll bald darüber
wichtige Aufschlüsse geben. Dort wird erstmals bilingualer
Sprachunterricht in einer Gehörlosenklasse erprobt.
Gehörlose wollen nicht als Behinderte angesehen werden. Sie
verstehen sich nicht als defizitäre Menschen, sondern fordern die
Anerkennung als sprachliche Minderheit. Was sie sich wünschen, wären
professionelle Dolmetscher, eine bessere Ausbildung, die bilingualen
Sprachunterricht und eine bessere Lehrerfortbildung einschließt.
Sabine Drangsal