Etwas verspätet, zum hundertsten Geburtstag des Zeichners und Malers
George Grosz (1893 - 1959), zeigt die Neue Nationalgalerie eine
Ausstellung zum Gesamtschaffen, die weit über die bisherigen
Präsentationen hinausgeht. Vor allem konnte eine außergewöhnlich große
Zahl von Gemälden nach Berlin gebracht werden, die in den Museen und
Privatsammlungen verstreut hängen. Madrid, New York, Tokio, San Antonio
kann man auf den Herkunftsnachweisen lesen.
Alle diese Bilder
bewegen heute nicht mehr nur wegen ihrer Themen, auch nicht wegen der
einstmals angeprangerten âUnsittlichkeitâ. Viele von Groszâ Arbeiten
faszinieren, ja regen heute auf durch die Präzision der Beobachtung,
durch die Bosheit, die in den gewählten Augenblicken liegt, durch die
Farben. Fast alle Gemälde gewinnen Schärfe durch karikierende Züge,
durch den Einsatz falscher Perspektiven, durch anatomische
Vereinfachungen. Diese Züge entwickelte Grosz seit etwa 1915 in der
Zeichnung. Hier setzte er gezielt Elemente der Kinderzeichnung und der
Wandkritzelei ein.
Grosz bleibt auch in seinen Gemälden Zeichner - nicht zu ihrem
Nachteil. Die Zeichnung mit einfachem, rahmendem Umrißstrich, mit ganz
wenigen Binnenstrichen ist Groszâ Stärke. Grosz ist berühmt wegen seines
Schaffens in den zwanziger Jahren. Die Ausstellung will mehr. Vor allem
zeigt sie auch sein Werk nach der Emigration 1933 in die USA. Sie zeigt
es, ob aber die erhoffte Aufwertung zu erreichen ist, bleibt fraglich.
Die immer beklagte Unschärfe in Groszâ späteren Arbeiten setzte ja
bereits um 1930 in Berlin ein. Die karikierenden Züge nahm er zurück,
die Konturen erscheinen nicht mehr zeichnerisch scharf, Farben werden
schleierhaft-pastos aufgetragen, Erdfarben überwiegen. In den vierziger
Jahren greift Grosz dann Formen des Surrealismus auf, die den Bildern zu
einer etwas vordergründigen Schauerlichkeit verhelfen.
Aufbau und Hängung in den unteren Räumen der Nationalgalerie
bringen eine Überraschung. Gleich im ersten Raum des überwiegend
chronologisch geordneten Rundgangs sieht man zunächst Bilder von E. L.
Kirchner, von Beckmann, von Meidner. Sie binden Groszâ âFrauenmörderâ
(1918), seinen âLiebeskrankenâ (1916) oder den âSelbstmordâ (1916)
thematisch ein. Vergleichsbilder etwa von Boccioni oder Delaunay zeigen
mit ihren dynamisierten Formen oder vielfältig gebrochenen Strukturen
stilistische Einflüsse oder auch Gleichzeitigkeiten. Das ist eine
Methode der Einbindung des Meisters, die relativiert, aber nicht
abwertet, die Vergleiche möglich macht und das Besondere erkennen läßt.
Viel zu selten wagen Ausstellungsmacher solche Gegenüberstellungen.
Leider wird das Spätwerk dagegen geschlossen präsentiert, während
ein separater Raum die amerikanische Malerei seit den 20er Jahren in
ganz herausragenden Beispielen vor Augen führt, also wichtige Arbeiten
von Sheeler oder Hopper zeigt. Grosz hatte diese bei seiner Begeisterung
für Amerika sicher gekannt, auf die er nach der Emigration stieß.
Schließlich mußte er auf dem Bildermarkt mit ihnen konkurrieren. Mit den
Worten des Schriftstellers Günther Anders sei nachdrücklich auf einen
Höhepunkt der Ausstellung hingewiesen: "Wessen Gesicht er zeichnete, der
war âgezeichnetâ. Wessen Typ er traf, der war getroffen, wie von einem
Hieb." Man sollte sich nicht von der aus konservatorischen Gründen
notwendigen Dunkelheit und auch nicht von der etwas lieblos
konzentrierten Hängung der umfangreichen Zeichnungsabteilung abschrecken
lassen. Präzision des Strichs, Schärfe, ja Frechheit der Beobachtung,
auch plakative Vordergründigkeit, pointierte Farbgebung bei den
Aquarellen zeigen eine kaum übertreffbare Meisterschaft des Zeichners.
"Ein kleines Ja und ein großes Nein" wählte Grosz 1955 zum Titel
seiner Selbstbiographie. Das "große Nein" galt immer den Angepaßten, den
Kriegsgewinnlern, den Heuchlern in Politik und Gesellschaft, den
Militaristen und den Selbstzufriedenen. Grosz trauerte sein ganzes Leben
um eine bessere Welt und hoffte, diese durch die Darstellung ihrer
Schlechtigkeit zu gewinnen. "Ein Fetzen Leinwand, ein paar Holzleisten -
und vielleicht doch ein kleines Stückchen Unendlichkeit ?" Das letzte
Wort dieses Satzes aus dem Schlußkapitel der eigenen Lebensbeschreibung
möchte man als âUnsterblichkeitâ lesen wollen.
Harold Hammer-Schenk