Stürmischer Applaus bricht los, als der kleine weißhaarige Mann
in Begleitung mehrerer Sicherheitsbeamter den völlig überfüllten Hörsaal
1a der Rostlaube betritt. Das soll er also sein: Der Mann, dem
vorgeworfen wird, die geistig-moralischen Gefühle des türkischen Volkes
zu verletzen und der deswegen von den auflagenstarken, auch in
Deutschland erscheinenden türkischen Zeitungen befehdet wird.
"Aziz Nesin ist der derzeit bedeutendste und bekannteste Schriftsteller
der Türkei", sagt Prof. Dr. Helmut Essinger vom Institut für
Interkulturelle Erziehung zur Vorstellung seines Gastes. Nesins Thema an
diesem Abend: Demokratie und Fundamentalismus in der Türkei. Aus Nesins
Feder stammen nahezu 100 Bücher in überwiegend satirischer Form, die
mittlerweile in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. Seit Beginn
seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat Aziz Nesin sich gegen Willkür
und Ungerechtigkeit, für sozialstaatliche Gerechtigkeit und Demokratie
in seinem Land eingesetzt. Den Regierungen der Türkei waren seine
politischen Forderungen unbequem, und so hat Nesin unzählige Verhöre,
Verfolgungen und mehrjährige Gefängnisstrafen auf sich nehmen müssen.
Sein mutiges Eintreten für die Übersetzung von Salman Rushdies "Die
satanischen Verse" ins Türkische und deren Veröffentlichung brachte ihm
die Todesdrohung islamischer Fundamentalisten ein, so daß er sich nun
nicht mehr ohne Polizeischutz bewegen kann.
"Demokratie gibt es in der Türkei nicht", sagt Aziz Nesin
bestimmt. "Wir versuchen es in jedem Jahr wieder, doch die Leute wählen
immer genau die Parteien, die gegen sie arbeiten." Voraussetzung für
Demokratie ist - so Nesin - ein Demokratisierungsprozeß in den Köpfen
der Menschen. In anderen heute demokratischen Ländern sei der Demokratie
eben dieser Bewußtseinsprozeß und der Kampf um Demokratie
vorausgegangen. In der Türkei war das völlig anders: "Nach dem 2.
Weltkrieg hat einfach jemand die Demokratie verkündet, dadurch ist aber
nur eine āformaleā Demokratie erreicht worden."
Christina Engel