"Heute sind es nur eine Handvoll Münzen", sagt Fred Cooper,
Schatzsucher. Seit 26 Jahren sucht er Schätze an der englischen
Südküste. An durchschnittlichen Sommertagen am Strand findet er mit
seinem Metalldetektor 40-50 Pfund - in Münzen. Ab und zu auch Schmuck.
Stolz zeigt er einen mit Edelsteinen besetzten goldenen Ring an seiner
rechten Hand: 150 Pfund sei der wert. Im "richtigen" Leben ist er
Ingenieur beim örtlichen Wasserwerk. Der Schatzsuche geht er nur noch am
Wochenende nach. Immerhin, so berichtet er, habe er damit sein
Ingenieurstudium an der Brightoner Polytech finanzieren können.
Große Konkurrenz an der University of Sussex in Falmer, nur 6
Kilometer außerhalb von Brighton, hat er heute nicht. Schatzsuche am
Palast Pier scheint ausser Mode geraten, vielleicht liegt es auch nur am
sehr britischen Wetter zu dieser Jahreszeit. Die 1961 gegründete
University of Sussex war eine der ersten Universitäten der britischen
Gründungswelle in den 60ern. Sie liegt mitten in einem außergewöhnlich
schönen Park, in den sich die Gebäude harmonisch einfügen. Der Architekt
Sir Basil Spence entschied sich für rostbraune Steine aus der direkten
Umgebung. Für einige der Gebäude wurde er national ausgezeichnet. Das
"Falmer House", hier logieren heute Teile der Verwaltung und die sehr
produktive Studentenvertretung, rangiert in der höchsten
Denkmalschutzklasse, gemeinsam mit etwa der Kathedrale von Canterbury
oder dem Royal Pavillion in Brighton.
Sussex zieht jedes Jahr Studenten aus über 100 Ländern an. Auch in
der Forschung hat die Universität einiges vorzuweisen. In den letzten
zehn Jahren konnte sie stets einen Platz in den britischen
Forschungs-Top-Ten erringen, kein Wunder bei über 1000
wissenschaftlichen Veröffenlichungen jährlich. Doch am meisten freut
sich die Universität über den Anteil der Drittmittelakquisition an ihrer
Finanzierung: In dieser "akademischen Disziplin" war Sussex in den
letzten 15 Jahren immer auf dem Siegertreppchen, zusammen mit Oxford und
Cambridge.
Als Austauschstudent beeindrucken einen zunächst gänzlich andere
Dinge: Etwa die Selbstverständlichkeit, mit der Computer für alle
Arbeitsgänge des Wissenschaftsprozesses benutzt werden. So muß man sich
nicht, wie in Berliner Bibliotheken, durch drei bis vier Karteikarten-
oder Microfichekataloge kämpfen, um an die benötigte Literatur zu
kommen. Die über 600.000 Bücher und die 3.500 Zeitschriften der
zentralen Universitätsbibliothek sind alle über ein einfach zu
bedienendes Computersystem verfügbar. Mögliche Suchkriterien sind
Autorenname, Buchtitel oder gar Stichworte im Titel. Ausgegeben werden
übersichtliche Buchlisten mit Angaben über Standort und Verfügbarkeit.
Die Zeit für die Literatursuche schrumpft auf einen Bruchteil zusammen.
Ebenso praktisch ist die Vielzahl der Zeitungen und Zeitschriften, die
über das campusweite Netzwerk von jedem Computer auf Stichworte
durchforstet werden können.
Den wahren Quantensprung ins akademische Computerzeitalter stellt
jedoch der für jeden verfügbare Zugriff auf das weltweite
Computernetzwerk "Internet" dar. Einfachster und bislang meistgenutzter
Service ist die E-Mail. Ein Dienst, mit dem man auf dem Computer
geschriebene Texte weltweit an andere Vernetzte verschicken kann.
Schneller als ein Fax sind auch seitenlange E-Mails in wenigen Sekunden
einmal rund um die Welt. Den Studenten in Sussex, wie auch den meisten
ihrer Kommilitonen an anderen Universitäten, steht dieser Service
kostenlos zur Verfügung. Plötzlich ist ein täglicher Briefkontakt mit
Freunden in Amerika oder Asien möglich.
Eine fortgeschrittenere Anwendung im Internet ist das World Wide
Web (WWW); hier werden neben simplen Texten auch Fotos, Musik und kurze
Videofilme um die Welt geschickt. Wer sich trotz der alten, langsamen
Kupferleitungen bei WWW-Sitzungen längere Texte mit vielen Bildern
schicken lassen möchte, sollte allerdings eine gute, alte Zeitung bei
sich haben, um mögliche Wartezeiten von einigen Minuten überbrücken zu
können. Die ständige Verfügbarkeit von Informationen aus aller Welt läßt
nationale Grenzen verschwimmen, vor allem die psychologischen. Täglich
die "German News" in der eigenen E-Mail vorzufinden, dank tipp-fleißiger
Studenten an der Univerität Ulm, verändert die Intensität eines
Auslandsaufenthalts. Montags immer die Fußballbundesligaergebnisse mit
Tabelle, täglich auch Landespolitik, größere Unfälle am Kamener Kreuz,
auch mal eine dramatische Entführung, das alles sind Nachrichten, die
selbst die überregionale britische Presse nicht anbietet.
Ganz
verloren geht der Sinn für die fremde Kultur, wenn man im Computerraum
der University of Sussex sitzend, die OZ, Fachschaftszeitung des Otto-Suhr-Instituts der FU, am
Bildschirm lesen kann. So nah und doch so fern erscheint dann wieder das
heimische OSI mit seinen geldgierigen Kopierern, von denen die OZ im WWW
rund um den Globus berichtet.
Doch niemand bleibt auf dieser Insel,
deren Bewohner bisweilen eigentümliche Sitten und Umgangsformen pflegen,
lang der Realität entrückt. Dafür sorgt beispielsweise das britische
Fernsehen: Man ist zweifellos in Good Old England, wenn BBC 2 die "state
opening of parliament" life überträgt. In einer hoch ritualisierten
Prozessionen mit der königlichen Verkündung, was "my government" dieses
Jahr alles an Wohltaten vorgesehen hat, wird alljährlich die
parlamentarische Saison eröffnet. In einer traditionsreichen
Choreographie kniet der Lord Chancellor vor Elisabeth II nieder,
überreicht die vom Premierminister geschriebene Regierungserklärung auf
einem roten Samtkissen und entfernt sich ehrfurchtsvoll, rückwärts
selbstverständlich. Hohe Politik und Seifenoper - Naturzustand im
"Mutterland des Parlamentarismus".
Ebenso ungewöhlich und wirklich "unverkrampft" ist der britische
Umgang mit Kultur. Über die beiden noch bestehenden Piers in Brighton,
der Palast Pier und das nicht mehr benutzte West Pier berichtet nicht
nur das Brighton Museum, sondern auch - recht volksnah - das örtliche
McDonalds. Auf seinen Papierdeckchen auf den Plastiktabletts bietet der
Bouletten-Brater ausführliche Informationen über alle drei Piers an, die
jemals in Brighton gestanden haben: "Wußten Sie", fragt mich der Text
unter den Fritten, "daß der Chain Pier, Brightons erster Pier, 1154 Fuß
lang und bis zu 13 Fuß breit war? Ursprünglich wurde er als Anlegestätte
für Kanalfähren konstruiert, die allerdings wegen der Konkurrenz in
Newhaven, mit seiner neuen Eisenbahnverbindung, ab 1847 seltener genutzt
wurde." Später entwickelte sich der Pier zur Ausflugsstätte und zum
Vergnügungsort. Es spielten Kapellen, Souvenirshops boten ihre Ware feil
und auch der Bazar wurde gerne besucht. Vor allem: "man war unter sich";
mit einem beträchtlichen Eintrittsgeld von zwei Pence wurde damals dem
armen Volk der Zutritt praktisch verwehrt. 1896 wurde der Pier von einem
Sturm verschlungen. Da gab es nur noch zwei - was der Attraktivität des
Seebades keinen Abbruch tat.
Die Zahl der angebotenen Postgraduate-Kurse in Sussex steigt
jährlich. Seit drei Jahren im Rennen ist der "Masterâs Course in Media
Studies", berichtet Professor Roger Silverstone, Direktor des
übergeordneten Forschungszentrums für Kultur- und Sozialforschung.
"Dieses Jahr ist der Kurs besonders international" sagt er, mit einem
lachenden und einem weinenden Auge. Zwar freut er sich, daß von den 16
Kursteilnehmer- ausgewählt aus über 100 Bewerbern - 13 Nicht-Briten
dabei sind. Allerdings hängt die kleine Zahl der britischen Studenten
leider mit der geringeren Zahl der Stipendien für einheimische Studenten
zusammen. Fester Studienbestandteil ist der Grundkurs in Medientheorie.
Hier, so Silverstone, soll in zwei Trimestern ein Überblick über das
inzwischen weite Feld der Medienstudien gegeben werden. Von
soziologischen Theorien bis zur Analyse der Medienrepräsentation
diverser Subkulturen werden viele Wissensinseln angesteuert. Ziel ist
es, eine "mentale Landkarte" der Inselwelt zu vermitteln und durchaus
auch Expeditionen ins Innere der einzelnen Eilande anzuregen.
Allerdings führt das sehr breite Angebot und die Offenheit, was
etwa Themen für Hausarbeiten angeht, auch zu einer wissenschaftlichen
Isolierung der Kursteilnehmer. Anna Altouva, die mit einem
Bachelor-Abschluß in Philosophie, Erziehungswissenschaft und Psychologie
an der Universität von Athen nach Sussex kam, vermißt ein
Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Kommilitonen: "Jeder geht hier fast
ausschließlich seinen persönlichen Interessen nach." Ihr eigenes
Steckenpferd ist die Psychologie in der Werbung.
Die 23jährige
Emily Ho zum Beispiel interessiert das überhaupt nicht, sie hat am
Hongkong Baptist College Linguistik und Kommunikation studiert. Ihr
Interesse gilt vor allem dem Feminismus. Wieder einen anderen
Schwerpunkt setzt Jonathan Nunns, einer der drei britischen Studenten.
Er begeistert sich vor allem für Filmstudien. Der 30jährige, Lehrer an
einer Comprehensive School in Burgess Hill, 16 Kilometer nördlich von
Brighton, möchte mit seinem Masterâs Abschluß die Qualifikation
erlangen, auch ältere Schüler unterrichten zu dürfen. Zwar sind die
Fachgebiete und die Interessenschwerpunkte sehr verschieden, doch
immerhin gibt es schemenhaft ein gemeinsames Interesse am Medieneinfluß
und an den Repräsentationsstrukturen in Presse, Film, Funk und
Fernsehen. So findet man auch als hauptsächlich an Politics
interessierter Medienstudent immer wieder Parallelen und
Aufschlußreiches aus Gebieten, deren Buchtitel einen vorher kalt ließen.
Frank Nürnberger
Der Autor studiert Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut. Bis zum Wintersemester 1995/96 ist er Gaststudent an der University of Sussex bei Brighton.