Alle Wege führen ins Paradies
Der schnellste Weg dorthin führt über den Breitenbachplatz und dann
nach links in die Englerallee. Daß das Ziel also nur die Freie
Universität sein kann, versteht sich von selbst. Nun, die FU ist groß,
und wo genau ist das Paradies? Da wir alle wissen, daß Paradies Park
oder Garten bedeutet, ist die Sache eigentlich schon entschieden. Der
Name Engler zudem soll für den Moment Weg und Ziel markieren. Er führt
uns topographisch und historisch zu dem hin, was in letzter Zeit
gelegentlich ein Juwel genannt wurde.
Alles ein bißchen größer
Um die Jahrhundertwende konnte
es sich Boomtown Berlin leisten, einem einfachen Acker zu einer
blühenden Karriere zu verhelfen. Nach langwierigen Verhandlungen war
beschlossen worden, den Botanischen Garten und das Botanische Museum,
damals noch "königlich", von Schöneberg nach Dahlem zu verlegen. Die
aufstrebende Metropole kesselte die alten Anlagen in Schöneberg langsam
ein, an Erweiterung war nicht zu denken. Und die war dringend nötig.
Carl Ludwig Willdenow, seit 1801 Direktor, hatte das schlafende
Dornröschen wachgeküßt und Grundlagen geschaffen, die ständig wachsenden
Pflanzensammlungen wissenschaftlich zu bearbeiten. Er selbst hatte
unermüdlich in der Umgebung gesammelt. Für die Erweiterung des
Horizontes sorgte zudem sein illustrer Schüler in Sachen Botanik,
Alexander von Humboldt, der ihm von seinen Amerikareisen reiches
Pflanzenmaterial mitbrachte.
Das botanische Interessse beschränkte sich längst nicht mehr auf die einheimische Flora. Viele der großen botanischen Gärten erreichten ihre Blüte mit der Ausdehnung des Kolonialismus. Exotische Pflanzen wurden einem staunenden Publikum vorgeführt. Das Entzücken über Palmen und Bananen hörte auf, ein exklusives für Adel und Bürgertum zu sein. Zwar hatte die erste Berliner Victoria regia, die Riesenseerose vom Amazonas, 1850 noch ganz allein für August Borsig und den Kaiser geblüht, aber schon 1853 konnte sie im Botanischen Garten dem großen Publikum gezeigt werden. Es war eine Sensation und wurde folgerichtig Stadtgespräch. Der Garten verwandelte sich vom Expertenterrain zum Publikumsmagneten. Noch weit entfernt war man von der Selbstverständlichkeit, mit der wir uns heute exotisches Gewächs aus allen fünf Erdteilen auf die Fensterbank und in den Garten stellen. Die Anfänge waren bescheiden.
Der Lust-, Pracht- und Kräutergarten am Stadtschloß war zu klein geworden. Aber der Große Kurfürst hatte noch einen Küchengarten in Schöneberg. 1679 - und hier beginnt unsere Geschichte - befahl er die Erweiterung dieser Anlage zu einem kurfürstlichen Mustergarten. Die Entwicklung aber zu einem botanischen Garten im heutigen Sinne begann mit einer Sparmaßnahme. Dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. war nämlich der Garten zu teuer. Er unterstellte ihn 1718 der Preußischen Societät (später Akademie) der Wissenschaften. Danach konnte es nur noch eine Steigerung geben: die Universitätskarriere. Die begann 1810 mit der Gründung der Friedrich-Wilhelm Universität; der Direktor Willdenow wurde der erste Botanik-Professor in Berlin. An dieser Ämterkonstruktion hat sich nichts geändert, nur die Universität ist eine andere als früher. Und das führt uns wieder nach Dahlem.
Adolf Engler, seit 1889 Direktor, wollte eigentlich gar nicht nach Dahlem. Zu weit draußen war es seiner Meinung nach. Schließlich ließ er sich überreden und machte aus dem Kartoffelacker das, was heute immer noch ein Publikumsmagnet ist. Dieses gigantische Projekt nahm ein paar Jahre in Anspruch. Engler machte die Pläne für das bewegte Gelände am Südhang des Fichtenbergs im wesentlichen selbst. Das Bodenrelief bot gute Voraussetzungen für die Gestaltung der pflanzengeographischen Abteilung, nur der Himalaja und die anderen Gebirge mußten aufgeschüttet werden. 1903 konnte das Freiland für Besucher geöffnet werden, das Gesamtkunstwerk mit den Gewächshäusern des Baurates Koerner wurde am 25. Mai 1910 offiziell eröffnet.
Die Kartoffel ist geblieben. 20.000 kamen bis heute dazu. 20.000
Wildpflanzenarten auf 43 ha Gesamtfläche (das sind 86 Fußballfelder),
12.000 qm unter Glas, davon etwas über die Hälfte als Schaugewächshäuser
der Öffentlichkeit zugänglich. Das ist noch nicht alles. Im Herbar gibt
es an die 3 Mio. getrocknete Pflanzen, in der Bibliothek rund 120.000
Bände und 1.100 Zeitschriften, damit ist sie die größte botanische
Fachbibliothek im deutschsprachigen Raum, und das botanische Schaumuseum
ist das einzige in Europa. Botanik für Angeber? Mitnichten! In Berlin
ist eben alles ein bißchen größer. Der Botanische Garten eben auch.
"Die sinnige Betrachtung der Pflanzen..."
"Die sinnige
Betrachtung der Pflanzen ist geeignet, in weiten Kreisen erquickend und
anregend zu wirken." Mit wissenschaftlichen Prinzipien sei dies ohne
weiteres vereinbar, schreibt Engler 1909. Erquickung und Anregung für
jährlich knapp eine halbe Million Besucher ist reichlich vorhanden. Sie
werden auf die Reise geschickt durch europäische Wälder,
Himalajabergwelten, durch ostasiatische Landschaften bis nach
Nordamerika. Stumme Führer des Betrachters sind die Wege, die in genau
kalkulierter Linienführung ein Leitsystem durch das lebhafte Relief der
Vegetationsbilder bieten. Aber um ehrlich zu sein: Nicht einmal wir
kennen alle Darsteller in diesem Welttheater der wilden Pflanzen so aus
dem Ärmel. Der Erwerb des (fast) alle Fragen beantwortenden, reich
illustrierten, Gartenführers sei daher dringend angeraten! Wo auch er
nicht weiterhel-fen kann, z. B. bei Fragen wie: Warum ist die Banane
krumm? (das ist kein Witz!), können Spezialisten des Hauses zu Rate
gezogen werden. Tropische Nutzpflanzen sind von jeher ein Renner bei den
Besuchern, wollen doch alle gern einmal sehen, wie das Gebräu, das viele
von ihnen erst in die Lage versetzt, die Morgenzeitung - oder diesen
Artikel - zu lesen, auf dem Stengel aussieht. Der Kakao für die Kinder
ist im Original auch viel schöner als im Paket.
Im größten freitragenden Tropenhaus der Welt werden Träume wahr,
zumindest vorübergehend, und wer dann immer noch nicht genug bekommen
kann - das verstehen wir gut - der sollte sich sonntags einer der
kostenlosen Führungen anschließen. Erquickung und Anregung ist die eine
Seite der gebotenen Mannigfaltigkeit. Andererseits eignet sich der
Botanische Garten mit seiner Artenvielfalt in idealer Weise dazu,
Verständnis und Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit für die Probleme
des Natur und Artenschutzes zu wecken. Ein Informationssystem
"Gefährdete Pflanzenarten" ist ebenso im Auflbau wie eine Samenbank, die
in einigen Fällen gegenüber der Dauerkultur im Garten Vorteile bietet.
Dies alles wird unterstützt durch die Entwicklung eines ehrgeizigen
Datenerfassungs-Programms. Auch die Beteiligung des BGBM (wie
Botanischer Garten und Botanisches Museum abgekürzt werden) am
Rahmenprogramm für die Welt-Klimakonferenz im Frühjahr â95 soll helfen,
für diese Fragen Öffentlichkeit herzustellen.
Wer die Ordnung
liebt, sucht das System
Im Garten ist das in zweigeteilter Form zu finden: als System der
krautigen Pflanzen in angemessen formaler Gestaltung und als Arboretum -
Gehölzsammlung - in der Anmutung eines Landschaftsgartens.
Wissenschaftlich sind wir in medias res. Botanik in Berlin heißt
systematische Botanik. Forschungsschwerpunkte sind Arbeiten zu Flechten,
Pilzen und Algen, zur Systematik der Gefäßpflanzen, seien es Farne,
Kakteen, Orchideen, Gräser und Korbblütler. Nein, das ist nicht alles.
Die Mitarbeit an zahlreichen Florenwerken sei genannt, außerdem
Pflanzengeographie und Vegetationskunde. Auch international hat der BGBM
mehr als ein Wörtchen mitzureden.
Ein Beispiel: Während des 15.
Internationalen Botanischen Kongresses in Tokio Anfang September 1993
wurde beschlossen, bestehende geläufige Pflanzennamen zu stabilisieren
und willkürlichen, unnötigen Umbenennungen und damit der
wissenschaftlichen Unsicherheit einen Riegel vorzuschieben. Denn seit
dem Inkraftsetzen des ersten internationalen Codes für Pflanzennamen
1868 in Paris sind viele Namen allzu schnell Schall und Rauch geworden.
Einen besseren Überblick über die Neuentdeckung von Pflanzen erhofft man
sich von der Schaffung eines globalen Pflanzenregisters, mit nationalen
Zentren in allen Ländern, in denen botanisch geforscht wird. Die
internationale Leitung soll am Sitz der "International Association for
Plant Taxonomy" (IAPT) am BGBM angesiedelt werden. Routinemäßig wurde
auf dem Tokioter Kongreß ein Nomenklaturkomitee gewählt. Dieses Komitee
tagte im Januar â94 unter dem Vorsitz von Werner Greuter am BGBM. In
dieser "Revisions"-Sitzung, die alle sechs Jahre stattfindet, wird der
Internationale Pflanzennamen-Code jeweils auf den neuesten Stand
gebracht.
So wie die IAPT wesentliche Verantwortung für diesen Teilaspekt der Internationalen Botanischen Kongresse wahrnimmt, ist die zweite am Botanischen Museum etablierte wissenschaftliche Gesellschaft, die Organization for the Phyto-Taxonomic Investigation of the Mediterranean Area (OPTIMA), hauptsächliche Trägerin der alle drei Jahre stattfindenden OPTIMA Meetings, deren siebentes im Juli â93 in Bulgarien stattfand. Über die lAPT-Schiene ist die Berliner Botanik beinahe zwangsläufig an den neuen Bestrebungen und Programmen auf dem Gebiet der systematischen Botanik beteiligt. Zu nennen ist hier insbesondere die International Organization for Plant Information (IOPI), deren EDV und IT-Teilbereiche neuerdings von Berlin aus betreut werden. Die IOPI hat sich zur Aufgabe gemacht, eine umfassend definierte Gruppe von Nutzern schnell und effektiv durch das Dickicht der einschlägigen Literatur zu führen. So, das war jetzt nur in etwa der Anfang des zuletzt veröffentlichten Jahresberichts für den BGBM. Werâs genau wissen will, dem sei er hier zur Lektüre empfohlen.
Ein Weg etwas geringeren Widerstands führt durch das Botanische
Schaumuseum. Die Geschichte der systematischen Botanik wird hier anhand
großer Forscherpersönlichkeiten exemplarisch vorgestellt. Historische
Schwerpunkte haben in der Regel auch die Sonderausstellungen des
Museums, die einer immer größer werdenden Öffentlichkeit botanische
Themen präsentieren. Und so manches Geheimnis wird gelüftet, z.B. was
Carl von Linne meinte, als er von - sagen wir - zwei Männern und einer
Frau in einem Bett sprach. Spekulieren ist müßig, die eigene Anschauung
zeitigt immer noch die besten Ergebnisse. Also, so weit ist es ja nicht.
Susanne Weiss