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Teil 2: Die Einleitung
Die klassischen Vorurteile und der Rückgang auf die Phänomene

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Feld und Kontext (I. Empfindung)

Gleich zu Beginn der Einleitung führt Merleau-Ponty eine für seine Theorie der Wahrnehmung zentrale Bestimmung ein: Phänomene werden immer im Kontext mit anderen Phänomenen wahrgenommen. Diesen Kontext bezeichnet Merleau-Ponty als das Feld der Wahrnehmung.

[…] die notwendige Bedingung, unter der überhaupt ein Phänomen als Wahrnehmung angesprochen zu werden vermag [ist folgende]. Stets liegt das Etwas der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines Feldes. Nie vermöchte eine schlechthin homogene Fläche, auf der durchaus nichts wahrzunehmen wäre, Gegenstand einer Wahrnehmung zu werden. S. 22

Ein völlig isoliertes Phänomen kann niemals Gegenstand meiner Wahrnehmung sein. Das Phänomen wäre dann alles was ich wahrnehme. Wenn ich aber nichts anderes wahrnehmen würde, könnte ich das eine, was nun alles ist, von nichts mehr unterscheiden; es wäre somit praktisch selbst nichts, ähnlich wie die völlig homogene Fläche im obigen Zitat. Wahrnehmungen etablieren sich also notwendigerweise über die Herstellung von Kontexten zwischen wahrgenommenen Phänomenen, den Beziehungen, die sich im Feld der Wahrnehmungen finden lassen. Der Begriff des Feldes zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er es erlaubt, Dinge in ihrer Kopräsenz zu sehen und so ihre spezifischen Qualitäten sichtbar werden zu lassen. Bourdieu geht ebenfalls in dieser Weise vor, er zeigt in großer Deutlichkeit wie Menschen sich in einem sozialen Feld bewegen, in diesem Feld Differenzierungen wahrnehmen und diese durch ihr Handeln etablieren. In dieser Hinsicht gleichen die Akteure bei Bourdieu den Phänomenen bei Merleau-Ponty: sie etablieren sich über ihre Unterschiedlichkeit.

Das Vorgehen von Merleau-Ponty und Bourdieu ist anders als das Vorgehen im Rahmen traditioneller wissenschaftlicher Methoden. Aus der Perspektive von Merleau-Ponty zeichnet sich die wissenschaftliche Methode insbesondere dadurch aus, dass sie Gegenstände aus ihrem üblichen Wahrnehmungskontext isoliert und so versucht, sie als Gegenstäde an sich und für sich zu konstruieren. Als Gegenstände also, die bestimmte Eigenschaften haben, und diese Eigenschaften sollen unabhängig davon sein, wo sie sich befinden und wer sie sieht. Die Masse eines Gegenstandes soll diesen eben gerade so bestimmen, dass es keinen Unterschied macht, ob er von einer kräftigen oder einer schwachen Person bewegt und untersucht wird. Die Masse soll eine für alle gleiche, unabhängige und objektive Größe sein. Gegenstände werden so für die Wissenschaft zu objektiv bestimmbaren Dingen; diese wissenschaftlich konstituierte Objektivität der Dinge macht dann ihren spezifischen Charakter aus. Im nächsten Schritt wird dann angenommen, dass die Menschen Dinge als mit eben diesen objektiven Eigenschaften ausgestattete Gegenstände erkennen bzw. erkennen können. Merleau-Ponty illustriert dies folgendermaßen:

Wenden wir jetzt der Wahrnehmungserfahrung uns zu, so entdecken wir, daß die Wissenschaft nur ein Scheinbild der Subjektivität zu konstruieren vermocht hat: sie arbeitet mit einer Vorstellung von Empfindungen, als seien sie Dinge, wo die Erfahrung uns schon Bedeutungszusammenhänge zeigt; sie unterwirft die phänomenale Welt Kategorien, die nur für die Welt der Wissenschaft Sinn haben. Sie fordert, zwei wahrgenommene Strecken, als zwei wirkliche Strecken, müßten gleich oder ungleich sein, ein wahrgenommener Kristall müsse eine bestimmte Anzahl von Grenzflächen haben, ohne ein Auge dafür zu haben, daß es dem Wahrgenommenen wesentlich ist, Zweideutigkeiten, Schwankungen, Einflüsse des Zusammenhangs einzuschließen. In der optischen Täuschung von Müller-Lyer ist die eine der Linien der anderen nicht gleich, ohne ihr darum ungleich zu sein: sie ist vielmehr anders. M. a. W., für die Wahrnehmung sind eine isolierte objektive Linie und dieselbe in einem Gestaltzusammenhang nicht dasselbe. S. 30

Zwei gleichlange Linien, an deren Enden jeweils zwei Linien im 45 Grad Winkel anliegen, bei der einen Linie nach innen geklappt, bei der anderen nach aussen

Die Müller-Lyerschen Linien sind für Merleau-Ponty nicht als ein Beispiel für eine optische Täuschung relevant, sie illustrieren vielmehr, dass Wahrnehmung, im Gegensatz zur einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, Dinge nicht isoliert betrachtet, sondern sie immer als Teil eines Feldes wahrnimmt. So ergibt sich der spezifische Charakter der Dinge also immer in dem Zusammenhang, in dem sie sich befinden, nicht rein aus den Dingen und ihren Eigenschaften selbst.

Das Ganze, die Teile und Konstellationen (II. Assoziation und Gedächtnisprojektion)

Der Zusammenhang selbst setzt sich jedoch nicht wie ein Puzzle aus einzelnen vorgegebenen Teilen zusammen – Teile die jeweils eine feste Form hätten und sich miteinander zu einem festen Ganzen zusammenfügen ließen. Wie oben beschrieben bekommen auch die Teile erst im Feld der Wahrnehmung ihre Form. Es fügen sich nicht die Masse, die Form, die Oberfläche eines Dinges getrennt zu diesem Ding als Ganzem, statt dessen spielen die Teile und das Ganze ineinander und produzieren in diesem Wechselspiel der Wahrnehmung die Dinge, wie wir sie erkennen.

Was ist, sind nicht gleichgültige Gegebenheiten, die, weil faktische Kontiguitäten und Ähnlichkeiten sie so oder so assoziieren, sich zu Dingen zusammentun; im Gegenteil wird die analytische Feststellung von Ähnlichkeiten und Kontiguitäten in Wahrheit dadurch erst möglich, daß wir zuvor bereits ein Ganzes als ein Ding wahrgenommen haben. S. 35

Auch in diesem Fall bietet Merleau-Ponty eine erfahrungsnähere Illustration:

Ich gehe am Strand auf ein am Ufer gescheitertes Schiff zu, der Schornstein oder Mast des Schiffes verfließt mit den Zweigen und Stämmen eines Gehölzes am Rande der Dünen; plötzlich aber verbindet er sich aufs deutlichste mit dem Schiff und verwächst mit ihm zu einem Ganzen. Während ich mich näherte, wurde ich der Ähnlichkeits- und Nähebeziehungen nicht gewahr, die schließlich ein zusammenhängendes Bild ergeben hätten. Ich fühlte nur, daß der Anblick der Dinge plötzlich sich wandeln würde, die Spannung auf etwas, das bevorstand, sich anzeigend wie ein Gewitter in den Wolken. Und plötzlich wandelte sich denn auch die Sicht, meine unbestimmten Erwartungen rechtfertigend. S. 37.

An diesem Beispiel wird das Wechselspiel im Feld der Wahrnehmung sehr deutlich, es gibt einen bestimmten Horizont, das Meer, den Strand, Dünen und Bäume – all dies liegt im Feld der Wahrnehmung, all dies gehört zusammen. In solch einem Kontext liegen bestimmte Wahrnehmung nahe, werden bestimmte Erwartungen an das zu Sehende, zu Hörende, an das zu Erfahrende gehegt. Ein Schiff passt zwar in diesen Kontext, würde der Merleau-Ponty sich jedoch einem Hafen nähern, wäre die Gestalt des Schiffes zwischen den Zweigen vielleicht eher für ihn sichtbar geworden &8211; der Anblick eines gestrandeten Schiffes ist zwar auch passend aber nicht unbedingt alltäglich. Umfeld, Erwartungen, die Bewegung des Wahrnehmenden, die Dinge selbst, all dies ergänzt und wandelt sich im Verlauf der Zeit, fügt sich zusammen und löst sich wieder auf.

Wahrnehmen ist nicht das Erleben einer Mannigfaltigkeit von Impressionen, die zu ihrer Ergänzung geeignete Erinnerungen nach sich ziehen, sondern die Erfahrung des Entspringens eines immanenten Sinnes aus einer Konstellation von Gegebenheiten, ohne den überhaupt ein Verweis auf Erinnerungen nicht möglich wäre. Sich erinnern heißt nicht, das Bild einer an sich vorhandenen Vergangenheit auf neue in den Blick des Bewußtseins bringen, sondern sich in den Horizont des Vergangenheit versenken und Schritt für Schritt die in ihm sich verknüpfenden Perspektiven entfalten, bis die Erfahrungen, die sie enthält, gleichsam neuerlich an ihrem zeitlichen Ort erlebt sind. Wahrnehmung ist nicht Erinnerung. S. 42

Immer werden die Atome der Physik wirklicher scheinen als die historisch-qualitative Gestalt der Welt, physikalisch-chemische Reaktionen wirklicher als organische Gebilde, die psychischen Atome des Empirismus wirklicher als wahrgenommene Phänomene, die intellektuellen Atome, mit denen die Wiener Schule operiert, wirklicher als das Bewußtsein – solange man dabei bleibt, die Gestalt dieser Welt, das Leben, die Wahrnehmung, den Geist konstruieren zu wollen, anstatt in der Erfahrung die wir von all dem haben, die nächste Quelle und das letzte Richtmaß aller Erkenntnis von alledem zu erkennen. Diese die Verhältnisse von Klar und Dunkel umwälzende Blickwendung muß von einem jeden erst einmal vollzogen werden, um sich alsdann in ihrer Notwendigkeit zu bewähren durch die Fülle der Phänomene, die sie zum Verständnis bringt. S. 43

Dem hysterischen Kind, das sich umsieht, ob hinter ihm die Welt noch da ist, fehlen nicht irgendwelche Bilder, sondern für es hat die wahrgenommene Welt jene ursprüngliche Struktur eingebüßt, kraft deren dem Normalen ihre verborgenen Aspekte ebenso gewiß sind wie die sichtbaren. S. 45

III. Aufmerksamkeit und Urteil

Die Aufmerksamkeit, die in jedem Augenblick sich auf beliebige Bewußtseinsinhalte richten kann, ist in diesem Sinne ein unbedingtes, allgemeines Vermögen. Nirgendwo eigentlich produktiv, vermag sie auch nirgends eigentlich interessiert zu sein. Um sie dem Bewußtseinsleben einzufügen, wäre zu zeigen, wie eine Wahrnehmung dazu gelangt, Aufmerksamkeit zu erregen, sodann, wie diese jene entfaltet und bereichert. S 47

Die erste Leistung der Aufmerksamkeit ist also die Schaffung eines überschaubaren – perzeptiven oder geistigen – Feldes, innerhalb dessen Bewegungen des erkundenden Organs und gedankliche Entfaltungen möglich sind, ohne daß das Bewußtsein immer aufs neue seine Erwerbe einbüßte und sich in den von ihm selbst hervorgerufenen Wandlungen der Situation verlöre. S. 50

Aufmerken ist nicht lediglich, zuvor schon Gegebenes klarer ins Licht setzen; vielmehr ist es die Leistung der Aufmerksamkeit, solches Gegebene ursprünglich gestalthaft zu artikulieren. Vorgebildet sind die Gestalten allein als Horizonte, sie konstituieren im Ganzen der Welt eine durchaus neue Region. S. 51

Es gilt, das Bewußtsein mit deinem eigenen präreflexiven lebendigen Beisein bei den Dingen zu konfrontieren, es zu seiner eigenen vergessenen Geschichte zu erwecken: das ist die wahre Aufgabe philosophischer Reflexion und der einzige Weg zu einer angemessenen Theorie der Aufmerksamkeit. S. 53

Die gemeine Erfahrung macht zwischen Empfinden und Urteilen einen sehr deutlichen Unterschied. Danach ist Urteilen Stellungnehmen und zielt auf Erkenntnis eines jederzeit für mich und für jedermann – für jeden wirklichen und möglichen Geist – Gültigen ab; Empfinden hingegen heißt, sich der Erscheinung hingeben, ohne sich ihrer bemächtigen zu wollen. S. 56

Doch hier sind die Gegebenheiten des Problems nicht der Lösung zuvor gegeben, und es ist eben dies das phänomenale Wesen des Wahrnehmungsaktes, die Konstellation des Gegebenen mit dem es verbindenden Sinn in eins schöpferisch erst entstehen zu lassen: nicht bloß den Sinn zu entdecken, den es hat sondern ihm einen Sinne erst zu geben. S. 58

Nun gibt es einen menschlichen Akt, der mit einem Schlage allen nur möglichen Zweifel durchbricht und in der Fülle der Wahrheit sich ansiedelt: eben die Wahrnehmung, im weiten Sinne der Erkenntnis des Existierenden verstanden. Diesen Tisch hier wahrnehmend fasse ich resolut die ganze Erstreckung der seit meinem ersten Blick auf ihn verflossenen Dauer zusammen, überwinde ich die Individualität meines Lebens, den Gegenstand als Gegenstand für jedermann erfassend, vereinige ich in eins zusammenstimmende, doch zerstreute und auf verschiedene Zeitpunkte und Zeitlichkeiten verteilte Erfahrungen. Inmitten der Zeit erfüllt dieser entscheidende Akt das Wesen der spinozistischen Ewigkeit; was dem Intellektualismus zum Vorwurf zu machen ist, ist nicht, daß er auf dieser Urdoxa fußt, sondern daß er es stillschweigend tut. S. 63

[…]sonach bedeutete die Einsicht des Geistes nicht den Begriff, der in die Natur hinabsteigt, sondern im Gegenteil die Natur, die zum Begriff sich erhebt. S. 64

Nie vermag die Reflexion sich selbst über alle Situation zu erheben niemals die Wahrnehmungsanalyse das Faktum der Wahrnehmung selbst, die haecceitas ihres Gegenstands und die zeitlich-örtliche Bindung des perzeptiven Bewußtseins verschwinden zu machen. Nie vermag die Reflexion sich selbst absolut durchsichtig zu werden, stets ist auch sie selbst sich selbst erfahrungsmäßig gegeben […] S. 65

Die Gewißheit des Gegenwärtigen impliziert dessen Gegenwärtigkeit übersteigende Intention, die es zum voraus setzt als unzweifelhaft vormalig Gegenwärtiges der Reihe künftiger Wiedererinnerungen; die Wahrnehmung als Erkennen des Gegenwärtigen ist das zentrale Phänomen in dem die Einheit des Ich und in eins damit die Idee der Objektivität und Wahrheit ihren Ursprung findet. S. 67

Jeder Bewegung des eigenen Leibes ist aufs selbstverständlichste eine gewisse perzeptive Bedeutung zugewiesen, der Leib und die äußeren Phänomene verknüpfen sich so eng zu einem einzigen System, daß die äußere Wahrnehmung der Bewegung der Wahrnehmungsorgane unmittelbar Rechnung trägt und ihnen, zwar nicht eine explizite Erklärung, wohl aber das Motiv des sich wandelnden Schauspiels entnimmt und daher dieses unmittelbar zu verstehen imstande ist. Schon die Intention einer Blickwendung nach links findet ihren natürlichen Widerhall in einem momentanen Schwanken des Gesichtsfeldes: die Dinge bleiben an ihrer Stelle, doch einen Augenblick geraten sie ins Zittern. S. 71

Die Wahrnehmung des Eigenleibes wie die äußere Wahrnehmung überhaupt bieten uns aber, wie wir sahen, das Beispiel eines nicht-thetischen Bewußtseins, d. h. eines Bewußtseins, das nicht im Besitz der vollen Bestimmtheit seiner Gegenstände ist, einer lebendigen Logik, die von sich selbst keine Rechenschaft ablegt, einer immanenten Bedeutung die nicht für sich klar ist und nur in der Erfahrung bestimmter natürlicher Zeichen kenntlich ist. […] die phänomenologische Idee der Motivation [ist] einer jener fließenden Begriffe, deren jeder Rückgang auf die Phänomene unumgänglich bedarf. Ein Phänomen löst ein anderes aus, nicht durch ein objektives Wirkungsverhältnis, sondern durch den Sinn, den es darbietet: ein eigentümlicher Seinsgrund, gleichsam ein tätiger Grund, orientiert den Fluß der Phänomene, ohne in irgendeinem für sich genommen explizit gesetzt bzw. setzbar zu sein. Auf solche Weise motiviert die Intention der Blickwendung im Verband mit dem Festbleiben des Anblicks die Illusion einer Bewegung des Gegenstandes. S. 73

IV. Das Feld der Phänomene

In der Romantik und zum Beispiel bei Herder besitzt das Wort Empfinden noch einen sehr erfüllten Sinn. Es bezeichnet eine Erfahrung, in der uns nicht toteQualitäten, sondern lebendige Eigenschaften gegeben sind. Ein am Boden liegendes Holzrad ist für das Sehen ganz etwas anderes als ein Rad, das eine Last trägt. […] das Empfinden verleiht jeder Qualität einen Lebenswert, erfaßt sie zunächst in ihrer Bedeutung für uns, für jene schwere Masse, die unser Leib ist, und so enthält es stets einen Verweis auf unsere Leiblichkeit. S. 75f

Das Empfinden, also abgelöst von der Affektivität und Motorik, würde zur bloßen Rezeption einer Qualität, und die Physiologie glaubte, die Projektion der Außenwelt ins Innere eines lebendigen Wesens vom Empfänger bis in die Nervenzentren verfolgen zu können. Der also entstellte lebendige Leib war nicht mehr mein Leib, sichtbarer Ausdruck eines konkreten Ich, sondern nur mehr ein Gegenstand unter anderen. Entsprechend konnte auch der Leib eines Anderen mir nicht mehr als die Hülle eines anderen Ich erscheinen. Er war nur mehr einen Maschine, und die Fremdwahrnehmung konnte nicht mehr wahrhaft die Wahrnehmung eines Anderen sein, da sie, bloßes Resultat einer Induktion, hinter dem Automaten seines Leibes lediglich ein Bewußtsein überhaupt ansetzen konnte, und dieses bloß im Sinne einer transzendenten Ursache, nicht in dem eines seinen Bewegungen innewohnenden Bewußtseins. S. 79

Die Wahrnehmung ist nicht der Anfang der Wissenschaft; in Wahrheit ist die klassische Wissenschaft eine Weise der Wahrnehmung, die ihren eigenen Ursprung vergessen hat und sich für vollendet hält. Zur ersten Aufgabe der Philosophie wird so der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegene Lebenswelt, um aus ihr Recht und Grenzen der Vorstellung einer objektiven Welt zu verstehen, den Dingen ihre konkrete Physiognomie wiederzugeben, das eigentümliche Weltverhältnis eines Organismus und die Geschichtlichkeit der Subjektivität zu begreifen; um Zugang zu gewinnen zum phänomenalen Feld der lebendigen Erfahrung, in dem Andere und Dinge uns anfänglich begegnen, zum Ursprung der Konstellation von Ich, Anderen und Dingen; um die Wahrnehmung selbst ins Licht zu setzen und ihre eigene List zu durchkreuzen, durch die sie sich selbst als solche und als Faktum vergessen zu machen sucht zugunsten der Gegenstände, die sie uns begegnen läßt, und zugunsten der rationalen Tradition, die auch auf sie sich gründet. S. 80f

Doch auch der Begriff des Unmittelbaren selbst wandelt sich grundsätzlich: unmittelbar ist nicht mehr die Impression, das mit dem Subjekt zusammenfallende Objekt, sondern der Sinn, die Struktur, der spontane Zusammenhang der Teile. S. 82

Die Erfahrung der Phänomene ist somit nicht, wie die Bergsonsche Intuition, die einer unbekannten Wirklichkeit, die sich keinerlei methodischem Zugang erschließt – sie ist vielmehr Aufhellung und Auslegung des vorwissenschaftlichen Bewußtseinslebens, die den Operationen der Wissenschaft erst ihren vollen Sinn verlieht und auf die eben diese Operationen beständig zurückverweisen. Sie ist nicht Wendung ins Irrationale, sondern Analyse des Intentionalen. S. 82f

Soll also die Reflexion ihrem Gegenstand seine deskriptiven Charaktere bewahren und ihn wahrhaft verstehen, so darf sie sich nicht als einfachen Rückgang auf eine universale Vernunft verstehen und diese als im Unreflektierten zum voraus schon verwirklicht voraussetzen, vielmehr muß sie sich selbst als ein schöpferisches Tun verstehen, das seinerseits an der Faktizität des Unreflektierten noch Anteil hat. Und darum spricht die Phänomenologie als einzige Philosophie von einem transzendentalen Feld. Dieses Wort zeigt an, daß die Reflexion niemals die Welt als Ganzes und die Vielheit der entfaltet objektivierten Monaden in den Blick zu fassen vermag, sondern stets nur über einen begrenzten Gesichtskreis und ein beschränktes Vermögen verfügt. S. 85

Keine Reflexion kann etwas daran ändern, daß ich an einem Nebeltag die Sonne in nur zweihundert Schritt Entfernung aufgehen sehe, daß ich die Sonne aufgehen und untergehen sehe, daß die Weisen meines Denkens ihre Bildung durch meine Erziehung, meine vorangegangenen Bemühungen und meine Geschichte erfahren haben. S. 86

Reflexion ist nur wahrhaft Reflexion, wenn sie sich nicht über sich selbst erhebt, vielmehr sich selbst als Reflexion-auf-Unreflektiertes erkennt, und folglich als Wandlung der Struktur unserer Existenz. S. 87