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Den Marlene-Dietrich-Platz erleben

Abweichung und Hierarchie

Dass ich nie angesprochen wurde, weder von Sicherheitskräften beim längeren Aufenthalt im Foyer des Musical Theaters, noch von anderen Menschen, die sich auf dem Marlene-Dietrich-Platz aufgehalten haben, heißt jedoch nicht, dass ich mich persönlich immer legitimiert gefühlt hätte, dort zu sein und zu beobachten. So war es mir beim Aufenthalt im Foyer oder beim Sitzen vor dem Eingang zum Casino sehr bewusst, dass mein Verhalten an der Grenze des Erlaubten liegt. Anfangs übergehe ich in einer solchen Situation das damit verbundene Unwohlsein. Mit der Zeit aber wird das eigene Verhalten immer fragwürdiger. Falle ich schon auf? Was denken die anderen Leute über mich? Der Kellner des Casino Restaurants hat mich sicher schon bemerkt. Werden die Sicherheitsleute mich irgendwann fragen, was ich hier eigentlich mache? Und auf einer anderen Ebene: Warum sollte ich hier nicht sitzen? Die haben doch eigentlich kein Recht sich über mich zu beklagen, ich sitze hier doch nur friedlich. Ich bin schließlich als Forscher hier, wo ist also das Problem? Die haben selbst Pech, wenn sie mein Verhalten provoziert. Diese inneren Dialoge, diese Unsicherheiten und Konflikte haben dann immer dazu geführt, dass ich meine Position geändert habe, dass ich an einen anderen Ort ausgewichen bin und die Provokation beendet habe.

Mit dieser Beschreibung will ich eine der Konstellationen an diesem Ort herausarbeiten. Der Raum in seinen verschiedenen Ausprägungen ist so gestaltet, dass in ihm bestimmte Handlungen und bestimmte Menschen und Dinge legitim sind, während andere abweichen, auffallen und stigmatisiert werden. Am Marlene-Dietrich-Platz ist es legitim, tagsüber auf andere zu warten oder sich die Gebäude anzuschauen und darüber zu sprechen. Nach einer Musicalaufführung kann auf dem Platz gestanden und, in der großen Masse der Menschen, die das Theaterverlassen, gelacht und achtlos Müll hinterlassen werden. Die Erfahrung der Legitimität ist jedoch an solche Umstände geknüpft. Wenn ich in der Woche nach 21 Uhr längere Zeit auf dem Geländer vor dem Casino sitze und dort stehe, ist dieses Verhalten vielleicht noch legitim. Der Platz ist zu diesem Zeitpunkt nicht leer, die Leute verbleiben allerdings nicht an diesem Ort, sie gehen nur vorbei. Die Beleuchtung sorgt dafür, das der gesamte Platz hell genug ist, um dort Dinge zu erkennen. Die Dinge, die ich sehe, sind Läden, in denen sich die Leute unterhalten lassen, sie sind hier, um sich im Musical zu amüsieren. Es gibt keinen Sichtschutz und keine Nische, die mich vor den Blicken der Anderen verbergen würde. Es ist keine Bank vorhanden, auf die ich mich, nur zur Entspannung, legen könnte. Dies ist eine räumliche Konstellation, die es mir verbietet, mich in einer etwas bequemeren Position auszuruhen, damit ich vielleicht auch noch nach 24 Uhr fit bin und weiter beobachten kann. Unter hiesigen Umständen wäre eine solche Handlungsweise illegitim. Es ist ein feines Zusammenspiel gegenständlicher Komponenten, symbolischer Bedeutungen und architektonischer Raumgestaltungen mit der Wahrnehmung anderer Personen und ihren Erwartungen an diesen Ort und die dort zu findenden Menschen, eine Konstellation, die das Verhalten an diesem bestimmten Ort zu dieser bestimmten Zeit strukturiert.

In diesen Konstellationen finden sich Machtverhältnisse auf mehreren Ebenen wieder; in diese Konstellation ist die Macht der Investoren, Planer und Entwickler des Marlene-Dietrich-Platzes eingewoben, sie erlaubt bestimmte Verhaltensweisen und strukturiert diese. Wenn Menschen sich an diesem Ort bewegen und dort agieren, findet sich in ihrem Handeln und in ihrer Selbstwahrnehmung eine Hierarchisierung wieder. Der Raum ist so angelegt, dass die darin befindlichen Menschen sich auch selbst entsprechend der dort produzierten Hierarchie kontrollieren. Bestimmte Handlungen sind willkommen, z.B. das Konsumieren der angebotenen Unterhaltung; andere Handlungen sind akzeptiert, wie das Warten auf Freunde und Bekannte; andere sind problematischer, wie z.B. die ältere Dame, die sich am 30. April, nachdem sie eine kurze Weile im Stehen auf ihre Begleiter wartet, auf die untere und für sie deutlich unbequeme Strebe des auf Foto 14 (ich habe das Geländer zu einem anderen Zeitpunkt fotografiert) zu sehenden Geländers setzen muss – denn es gibt keine Bänke am Marlene-Dietrich-Platz – und andere Handlungen schließlich sind eigentlich ausgeschlossen. Eine in der Hierarchie unten liegende Handlung ist in Kauf zu nehmen und lässt sich insbesondere dann vor sich selbst rechtfertigen, wenn sie dazu dient, eine legitime oder willkommene spätere Handlung zu ermöglichen (z.B. warten, bevor das IMAX Kino aufgesucht wird). Fehlen diese legitimierenden Aspekte jedoch, wird die Handlung ausgeschlossen. Legitimierend ist auch das Aussehen und die Kleidung der Leute, wenn ich in Hemd und Jackett am Marlene-Dietrich-Platz gesessen und beobachtet habe, habe ich mich zu manchen Verhaltensweisen berechtigt gefühlt, zu denen ich mich nicht in der Weise berechtigt gefühlt habe, wenn ich in einer alten Jeans und im roten Kapuzenpullover da war.

Pierre Bourdieu setzt sich mit diesen Erscheinungen in dem kurzen Aufsatz mit dem Titel Ortseffekte auseinander und er schreibt zur Hierarchisierung des Raums:

Die gesellschaftlichen Akteure, die als solche immer durch die Beziehung zu einem Sozialraum herausgebildet werden, und ebenso die Dinge, insofern sie von den Akteuren angeeignet, also zu Eigentum gemacht werden, sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann. […] So bringt sich die Struktur des Sozialraums in den verschiedensten Kontexten in Gestalt räumlicher Oppositionen zum Ausdruck, wobei der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert. In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert wäre und nicht Hierarchien und soziale Abstände zum Ausdruck brächte.[15]

Der relativen Position des Marlene-Dietrich-Platzes wurde in dieser Arbeit bereits Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Ort ist auf verschiedenen Dimensionen von seiner Umgebung entfernt, zwischen ihm und den Anwohnern (mit Ausnahme der im Quartier DaimlerChrysler und im Sony Center Wohnenden) liegen symbolische Barrieren, wie Regierungs- und Bürogebäude, und physische Barrieren, wie der Kanal, große Straßen, das Kulturforum etc. Außerdem distanziert sich dieser Ort durch seine Architektur und seine Nutzung von anderen Orten in Berlin. Am Potsdamer Platz zu wohnen ist nicht dasselbe, wie in Lichtenberg oder Steglitz zu wohnen. Am Potsdamer Platz ballen sich verschiedene Unterhaltungseinrichtungen, diese und die spektakuläre Architektur kennzeichnen diesen Ort als Ort der Unterhaltung, des konsumbezogenen Vergnügens – nicht als nachbarschaftlichen Wohnort. Die Architektur ist weniger eine lokale, am Berliner Stadtbild orientierte, als eine zwischen verschiedenen Stilen pendelnde, in gewissem Sinn globalisierte Architektur (wobei der globale Bezug hier auf andere Zentren der globalisierten Welt verweist, nicht auf die Peripherien), die sich deutlich absetzt und die sich durch die Beteiligung international bekannter Architekten als hochwertige an der Spitze der architektonisch-räumlichen Hierarchie in Berlin platziert. Als Eigentum von DaimlerChrysler und von Sony ist dieser Raum von der Großen des internationalen Business, echten Global Players, angeeignet und dementsprechend positioniert worden.

Ich möchte allerdings noch auf einen Unterschied zwischen dem, was Bourdieu in den Ortseffekten beschreibt und dem, was ich hier untersuche und herausarbeite hinweisen. In Bourdieus Text liegt der Schwerpunkt auf den sozialräumlichen Hierarchien, die sich in der Verteilung verschiedener Wohnräume widerspiegeln und verfestigen. Der Wohnort ist insofern von besonderer Bedeutung, als dass er eine langfristige Einbettung und Positionierung der dort Wohnenden mit sich bringt – eine Tatsache die besonders deutlich wird, wenn das Ghetto und die Gated Community einander gegenüber gestellt werden. Wohnorte sind Räume, in denen die Anliegenden festgelegt sind, wobei die Festlegung um so stärker wird, je geringer das Kapital und die damit einhergehende Mobilität der BewohnerInnen ist. Der Potsdamer Platz und der Marlene-Dietrich-Platz sind jedoch ein anderer Ortstyp. Um hier hin zu kommen, ist eine gewisse Mobilität Voraussetzung. Die meisten Leute kommen jedoch nicht für längere Zeit zu diesem Ort, sie passieren ihn vielmehr, halten sich für eine gewisse Dauer am Platz und in seinen Einrichtungen auf und gehen dann weiter zu anderen Orten. Für die Menschen, die an diesem Ort wohnen und arbeiten, stellt er jedoch eine dauerhaftere Umgebung dar. Um diese zwei Seiten des Potsdamer Platzes und des Marlene-Dietrich-Platzes zu berücksichtigen, betrachte ich diesen Ort nicht allein als statischen Ort, der von DaimlerChrysler und Sony angeeignet ist und der feste Hierarchien ausdrückt. Als öffentlicher Ort ist der (Sozial-)Raum hier sozusagen flüssiger – deshalb benutze ich den Begriff der Konstellationen. Diese Konstellationen sind flexibel, denn sie bestehen unter bestimmten Bedingungen, sie sind einerseits situativ und anpassbar und sie berücksichtigen andererseits auch die dauerhaften Strukturen, die sich durch diesen Raum ziehen.

Fußnoten

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