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Lebkuchenherz

Autor: Fabian Kraus
für das Seminar Materialität & Dinge, Wahrnehmung & Handeln, ausgerichtet im Sommersemester 2007
am Institut für Soziologie der TU Darmstadt
von Lars Frers

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Inhalt

Essay

Foto von Lebkuchenherzen an einer MarktbudeIn einem anderen Seminar bekam ich die Aufgabe, während des Heinerfestes, dem jährlich stattfindenden Darmstädter Volksfest, eine Beobachtungsübung durchzuführen. Ich suchte mir einen Süßigkeitenstand mit Märchenmotiv, das Knusperhäuschen, aus, der unter anderem mit einer Vielzahl von Lebkuchenherzen ausgestattet war.

Die Herzen wurden in verschiedenen Größen angeboten: Die größten (17,90 €) erreichten die doppelte Größe eines Esstellers, die kleinsten (2,90 €) die einer Untertasse. Die Herzen hingen an verschiedenfarbigen Plastikbändern entlang der gesamten Verkaufsfläche, so dass den Verkäufern nur noch schalterähnliche Lücken blieben, um mit den Kunden in Kontakt treten zu können. Je größer die Herzen wurden, desto exklusiver wurde der Platz, an dem sie präsentiert wurden. Die kleinsten hingen in ganzen Batterien ungefähr auf Augenhöhe eines Erwachsenen. Man konnte sie auf der Suche nach dem passenden Exemplar wie Kaufhauskleider von der Stange bequem durchblättern (vgl. Foto). Die Ausdifferenzierung der Angebotspalette bei gleichzeitiger Preisdiskriminierung weist auf ein betriebswirtschaftliches Kalkül hin, das wohl ganz unsentimental nicht mehr mit den großen Gesten mittels großer Herzen rechnete. Die kleineren Herzen konnten wegen der sichtbaren Masse ihrer Kopien die Herkunft aus der Massenproduktion nicht verbergen. Große Herzen, die ja diesen Umstand teilten, verborgen dies durch künstlich hohe Preise bei gleichzeitig verringertem Angebot. Die warenförmige Produktion der Lebkuchenherzen führt also dazu, dass mit zunehmender Größe, d.h. zunehmendem Preis auch der Schein größerer Individualität einhergeht.

Irritierend wirkte auf mich, dass sich ab den Herzen mittlerer Größe ein mir vorher unbekanntes Motiv in die Sprüche, die die Herzen zierten, einschlich: Beleidigungen. Sprüche wie Du bist ein verdammter Lügner oder Du alte Schlampe unterliefen den romantischen Sinn, den ich bisher mit Lebkuchenherzen und dem, was man mit ihnen macht, verbunden habe. Das Gefühl der Irritation verweist darauf, dass ich eine bestimmte Vorstellung davon habe, wie Lebkuchenherzen auszusehen haben, damit man mit ihnen machen kann, was man mit ihnen machen sollte. Diese natürliche Einstellung zu den Herzen, die Normalitätsvorstellung, die in der obigen Erfahrung nicht aufging, muss zuerst rekonstruiert werden.

Da sind zuerst dessen dingliche Qualitäten. Die Form des Herzens steht in einer langen symbolischen Tradition [1] der Liebe bzw. der gefühlvollen Zuwendung. Beschimpfungen, die kaum eine Chance einer ironischen Wendung zulassen, stehen dem konträr gegenüber. Da Lebkuchenherzen, im Gegensatz zu fast allen anderen Waren an einem Süßigkeitenstand, kein Essen auf die Hand sind, spielen die Zutaten, der Lebkuchenteig und der Zuckerguss der Aufschrift nur insoweit eine Rolle, dass sie die Form des Herzens durch die Verhärtung eines nicht mehr frischen Lebkuchens auf lange Zeit konservieren. Obwohl auf der Verpackung ein Mindesthaltbarkeitsdatum angegeben ist, ist die Möglichkeit, das Herz zu essen, kaum von Bedeutung. Frische Herzen haben meist einen zu hohen emotionalen Gehalt, alte Herzen sind zu hart, um sie zu essen.

Die Herkunft dieses emotionalen Gehalts wird deutlich, wenn man beobachtet, dass Lebkuchenherzen eigentlich immer als Geschenk, als Gabe einem Anderen, idealerweise einem Anwesenden, gekauft werden. Ja, mehr noch. Durch das halskettenlange Umhängebändchen [2] wird die Geschenkübergabe zu einer zeremoniellen Verleihung, die wie eine Ordensverleihung ein öffentlich sichtbares Symbol der emotionalen Verbundenheit, das genau einem Individuum zugeordnet ist, hinterlässt. Dies steht natürlich im Widerspruch mit der Massenware Lebkuchenherz. Es ist interessant zu fragen, warum es trotzdem funktioniert, warum man nicht wahllos jedem ein Herz schenkt, warum man nicht sich selbst ein Herz kauft und es genussvoll verzehrt, wo es doch vom Prinzip der Produktion her nichts anderes ist als die gebrannte Mandel oder der Mohrenkopf.

Das Tragen eines Lebkuchenherzens macht auf der einen Seite deutlich, dass jemandes Herzen für den Träger/die Trägerin als Beste Mutti oder als dem Kuschelbären schlägt, andererseits demonstriert man damit auch in aller Öffentlichkeit, diese Gefühlsoffenbarung schmeichelhaft zu finden. Dieses Aufeinandertreffen von privater und öffentlicher Sphäre kann die Adressaten der Herzen auch ziemlich überrumpeln und beschämen. Im positiven Extrem wird das Herz ähnlich wie Eheringe oder geteilte Halsketten zur Verdinglichung einer tiefen emotionalen Verbindung zu einem anderen Menschen. Im negativen Extrem kann dies natürlich auch in einen zwanghaften Bund umschlagen: das Herz als Besitzbrandmarkung. Zwischen diesen Polen liegen wohl vor allem Dank der Amüsieratmosphäre eines Jahrmarktes unendlich viele uneindeutige, kreative und spielerische Möglichkeiten mit dieser stark symbolisch aufgeladenen Situation (Herz und Gabe) umzugehen. Die Performativität im Umgang mit dem Herzen wird also zu großen Teilen durch das Setting bestimmt, in denen das Handeln mit diesem Gegenstand vollzogen wird. Lebkuchenherzen im Supermarkt würden sicher ganz andere Sinnzusammenhänge und daran anschließend andere Handlungen hervorbringen.

Ich habe kurz angerissen, woher wohl meine Irritation in Konfrontation mit den Herzen und den bösen Sprüchen herrührt. Der nächste Schritt müsste darin liegen, diese Erkenntnisse in die Bewertung dieses (für mich) neuen Phänomens einfließen zu lassen. Nur zwei Gedanken dazu: Die Betreiberin des Süßigkeitenstandes verriet mir, dass diese Herzen gar nicht so gut gehen und für sie eher eye-catcher sind. Man muss bedenken, dass sich durch Jahrmärkte meist Ströme von Menschen ergießen, die man vom Flanieren zum Stehenbleiben und Konsumieren bewegen muss.

Die Beobachtung eines jungen Mädchens stellte gar meine gesamten Überlegungen zur Normalität auf den Kopf. Sie kaufte für sich ein Herz mit der Aufschrift Du kannst mich mal, hängte es sich selbst um den Hals und verschwand mit einem kecken Kichern wieder im Strom der Leute. Sie nutzte hier die Doppeldeutigkeit aus, die sich sicherlich nicht in jedem Spruch (s.o.) finden lässt. In einer doppelten Umdeutung von erstens dem eigentlich beleidigenden Spruch und zweitens dem normalen Verlauf eines Herzkaufs (für Andere) bindet sie auf kreative Weise das irritierende, in seiner Erfahrung brüchige Lebkuchenherz in eine sinnvolle, neu geschaffene Praxisform ein. Mit de Certeau (1988) könnte man ihr zubilligen, aus der Position einer entmündigten Konsumentin sich mit taktischer Finesse das Lebkuchenherz in seiner Bedeutung für individuelle, nicht vorgegebene Zwecke angeeignet zu haben.

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Literatur

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Endnoten