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Der Bleistift

Autor: Christopher Deyer
für das Seminar Materialität & Dinge, Wahrnehmung & Handeln, ausgerichtet im Sommersemester 2007
am Institut für Soziologie der TU Darmstadt
von Lars Frers

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Inhalt

Essay

Wieder einmal versuche ich ein Ding zu finden, über das ich schreiben kann. Andere würden sich nun ihr Notebook schnappen oder sich an ihren PC setzen, zu Füller oder Kugelschreiber greifen, doch ich brauche einen Bleistift. Erst wenn ich ihn in meinen Fingern halte, beginnt mein Geist zu arbeiten. Dieses Ding gehört zu meinem Arbeitsalltag wie der Bus zu einem Busfahrer. Ohne ihn könnte ich mein Studium nicht betreiben. Bei jedem Buch, das ich lese, liegt ein Bleistift mindestens in greifbarer Nähe, wenn nicht schon in meiner Hand.

Schon nach diesen wenigen Sätzen bemerke ich wie normal es für mich geworden ist, immer einen in Reichweite zu haben und nahezu immer trage ich ein Stück Papier und einen Stift bei mir. Man weiß ja nie, was einem unterwegs alles einfällt. Damit ist er nicht nur ein Schreibgerät, das meine Gedanken festhält, er hilft mir auch beim Denken. Warum dem so ist, möchte ich nun ein wenig durchleuchten.

Wenn ich an einer Tastatur schreibe, erinnert mich das zu sehr an ein Diktat. Ich erhalte einen Input und schreibe ihn nieder, oft ohne genauer über das Gesagte nachzudenken. Ich verbinde mit dem Schreiben am PC mehr ein Reiz-Reaktions-Schema als ein aktives Auseinandersetzen mit meinen Worten. Will ich aber nachdenken, greife ich zu meinem Bleistift, um etwas vermeintlich Neues zu schaffen, vor allem aber um meine losen und wirren Gedanken zu ordnen. Das beste Beispiel hierfür ist dieser Text.

Nach mehreren Stunden verweilen am PC, sah ich vor mir nur verkorkste Sätze und abgebrochene Essays. Also schnappte ich mir doch wieder Papier und Bleistift und begann zu schreiben. Trotz oder vielleicht auch gerade weil ich diesen Text dann zwei Mal schreiben muss. Doch so paradox es klingen mag, ich scheine nicht einmal selbst zu schreiben. Führe ich noch den Bleistift oder führt er mich? Schwer vorstellbar, das ist doch schließlich nur leblose Materie und ein Werkzeug! Aber eben das ist es schon lange nicht mehr. Meine losen Gedankenfetzen bilden erst im Ritual des Schreibens einen Zusammenhang. Meine Gedanken somit zu ordnen und vermittelbar zu machen, ermöglicht mir meist eben nur dieses Holzstück in der Hand.

Das mutet schon seltsam an und ich blicke an meine Schreibanfänge in der Schule zurück, doch leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht wurde mir damals einfach ein Bleistift in die Hand gedrückt, weil sonst nichts anderes in der Nähe war. Aus einer Not könnte eine Tugend geworden sein. Während ich dieses Ding zwischen meinen Fingern betrachte, kommt so mein Gedanke zu Norbert Elias. Er könnte mir hierbei helfen, wenn ich seine Beschreibung des Messers [1] mit diesem Bleistift vergleiche.

So wie ich die Benutzung des Messers gelernt und durch Wiederholungen verinnerlicht habe, erscheint mir auch der Gebrauch des Bleistifts völlig natürlich, nahe liegend und frei gewählt. Ich habe zum Beispiel immer gerne gezeichnet und möglicherweise deswegen den Bleistift einem Füller vorgezogen. Man kann ihn für meine Begriffe viel leichter führen. Doch genau das wurde mir wohl eingetrichtert. Woher es kommt, bleibt dennoch weiterhin unerschlossen.

Auf die Frage nach meiner Vorliebe zum Bleistift, fallen mir noch weitere Parallelen zu Norbert Elias ein. Der Bleistift ist nicht nur ein Schreibwerkzeug, er zeigt vielmehr, was ich für eine Art von Mensch bin. Er sagt etwas über mein Wesen, meine Einstellungen aus.

So klemme ich ihn mir gerne hinter mein Ohr. Einen Kugelschreiber an diesem Ort würde ich völlig unangebracht empfinden und ein Laptop dürfte schon aus reinen Quantitätsgründen nur schmerzlich dort unterzubringen sein. Der Kugelschreiber gehört in die Hemdtasche eines Ingenieurwissenschaftlers, der Laptop auf einen Tisch oder den Schoß eines bequemen Menschen und der PC nur auf und unter den Schreibtisch.

Will ich mich also mit dem Bleistift von anderen gesellschaftlichen Gruppen abgrenzen? Will ich damit sagen: Ich bin keiner von euch! ? Was bewegt mich dazu, mit einem Kugelschreiber keine vernünftigen Sätze bilden zu können, sondern nur meine Unterschrift zu leisten?

Donald A. Norman mag mir hier vielleicht weiter helfen. Er könnte sich mir gegenüberstellen und sagen:

Schau dir doch mal das Design des Bleistifts an! Das Holz der Ummantelung verweist auf die Stabilität und Kontingenz, die du dir in deinen Schriften erhoffst! Das Holz ist über Jahre gewachsen, so wie deine Texte erst langsam Jahresringe anlegen. Auch wenn kein Blei im Bleistift enthalten ist, verweist die Vorstellung des Materials auf die schwere deiner Worte, die du am Liebsten gegen alle kritischen Alpha-Strahlen abschirmen möchtest. Und nimm nur die Graphitmine! Sie unterstreicht noch einmal dein Verlangen nach Stabilität und Konsistenz! Außerdem verweist das Design des Bleistifts auf seine Vergänglichkeit. Noch magst du mit ihm schreiben, aber er wird irgendwann als ein Stummel im Müll oder einer Box landen oder ganz verschwunden sein. Was du heute geschrieben hast, magst du in einigen Monaten befremdlich finden oder ganz anderer Meinung sein. Vergiss das nicht! [2]

Er könnte noch nebenbei bemerken, dass das Wort „Graphit“ vom griechischen γραφειν (graphein) abstammt. Was nichts anderes bedeutet als – und jetzt kommt es! – schreiben. Der Kreis hätte sich geschlossen und ich nichts zu erwidern.

Dennoch möchte ich auch einen Blick außerhalb dieses Kreises werfen. Ich picke mir hierfür Jennifer Price als Assistentin heraus. Sie beschreibt ihre Erlebnisse beim Verweilen in den Läden der Kette The Nature Company [3] und kommt zum Schluss, dass dort mehr als nur Nature verkauft werden soll. Es ist ein Ort und es sind Produkte, wie für sie und ihre ganze Generation gemacht. Nicht Natur wird feil geboten, sondern menschliche Sehnsüchte erhalten ihre Entsprechungen in der materiellen Welt. Die ganze Generation der Babyboomer identifiziert sich mit diesen Produkten. Sie suchen die Authentizität der Natur, als hätte es so etwas jemals gegeben. Sie sehnen sich nach Unerreich- und Unerfüllbarem. Doch wonach sehne ich mich? Sehne ich mich mit meinem Bleistift zurück in Zeiten großer Dichter und Denker und will das Schreiben authentisch erleben?

Doch bevor ich mich nun noch mehr zur Schau stelle, noch mehr von mir Preis gebe, packe ich meinen Bleistift lieber wieder weg und gebe die kurze und vage Antwort: Ein schönes Seminarende.

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Endnoten