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Automatische Irritationen
Ein Versuch zum DB Fahrkartenautomaten

Autor: Lars Frers, Juni 2004

Diesen kurzen Versuch habe ich als Vorstudie für mein Dissertationsprojekt am Graduiertenkolleg Technisierung und Gesellschaft geschrieben und im Zusammenhang mit einem (erfolgreichen) Verlängerungsantrag für meine Drehgenehmigung bei der Pressestelle der DB AG eingesandt.
Ich veröffentliche diesen Text und die dazugehörigen Videosequenzen unter der Creative Commons License im Netz, da ich den Fortschritt meiner Arbeit an diesem Projekt im Web dokumentieren möchte.
Creative Commons License

In dieser Kurzanalyse will ich meine Arbeitsweise anhand eines Fallbeispiels erläutern und auch schon eine der Richtungen aufzeigen, in die sich meine Arbeit im Verlauf der kommenden Monate entwickeln kann. Die für das Fallbeispiel ausgewerteten Videosequenzen sind bei einer meiner ersten Aufnahmen entstanden. Eine Anonymisierung der Personen im Video habe ich bei den vorliegenden Sequenzen nicht vorgenommen – die Auflösung ist gering und die Personen recht weit entfernt – sie ist aber bei entsprechender Identifizierungsmöglichkeit für die spätere Veröffentlichung der Arbeit vorgesehen und notwendig.

Bevor ich zur Beschreibung und Analyse des Materials komme, ist es sinnvoll, die beiden analysierten Videosequenzen möglichst mehrfach anzuschauen. Beim Anschauen des Videomaterials ist insbesondere auf die Körperhaltungen der Akteure im Verhältnis zum Fahrscheinautomaten zu achten.

Für die Einbindung der Videosequenzen verwende ich moderne Webstandards (HTML 5). Diese werden von Firefox (Version 3.5+) und Safari (Version 4+) unterstützt. Für ein komfortables Nutzen der Webseite empfehle ich diese Browser (oder auf diesen basierende). Die Videoclips können auch über einen Rechtsklick heruntergeladen und dann mit einem Programm wie dem Open Source Player VLC oder mit Apples QuickTime Player abgespielt werden.

Bei beiden Sequenzen handelt es sich um den Abschluss einer Interaktion mit dem Fahrscheinautomaten, in deren Verlauf Fahrscheine gelöst werden – insofern sind diese Sequenzen nichts ungewöhnliches. Was sie allerdings auszeichnet, ist die Tatsache, dass beide Male eine Irritation zu beobachten ist: die junge Frau in der ersten Sequenz und der Mann in der zweiten Sequenz wenden sich nach Entnahme der Belege/Fahrscheine und einer ersten Bewegung vom Automaten weg demselben wieder zu, blicken auf die Anzeige bzw. in das Ausgabefach des Automaten, bewegen sich gleichzeitig wieder zurück in Richtung des Automaten, bevor sie sich schließlich endgültig abwenden und zum Bahnsteig gehen.
In diesem Fall lässt sich von einer Irritation sprechen, da in der Mehrheit der bisher von mir beobachteten Fälle ein solcher Abbruch des Handlungsflusses, also eine Rückwendung zum Automaten nicht sichtbar wird. In der Regel werden die Belege entnommen, woraufhin die Personen sich vom Automaten abwenden und ihrer Wege gehen. Eine Statistik zu diesem Interaktionsaspekt kann ich erst nach Abschluss der Datenerhebung präsentieren.

In der ersten Sequenz ist ein Anlass für diese Irritation gut auszumachen. Nachdem die junge Frau einen Abschnitt aus dem Automaten entnommen und sich schon während der Entnahme des Abschnittes vom Automaten abwendet, nimmt sie sich den entnommenen Abschnitt vor, schaut ihn an, verzögert die abwendende Bewegung, blickt zum Automaten und zu dessen Ausgabefach zurück und wendet sich diesem dann wieder zu. Sie beugt sich hinunter, um einen weiteren Abschnitt zu entnehmen und wendet sich dann wieder vom Automaten ab. Dabei betrachtet sie den neu entnommenen Abschnitt (auch ihre Begleiterin wirft einen Blick auf den Abschnitt) und verlässt schließlich, nach einem weiteren Schulterblick zurück zum Automaten, den Schauplatz.
Nun zu meiner vorläufigen Analyse dieses Falles: Es ist davon auszugehen, dass die junge Frau den ersten Abschnitt in der Erwartung entnommen hat, damit den Fahrschein bekommen zu haben, den sie benötigt, weshalb für sie der Zweck der Interaktion mit dem Automaten erfüllt ist und sie diesen verlassen kann. Während sie sich abwendet schaut sie auf den Zettel und bemerkt vermutlich, dass es sich bloß um den Zahlungsbeleg handelt, der vom Automaten vor dem Fahrschein ausgegeben wird. Daraufhin wendet sie sich wieder zurück, um nach dem bezahlten Fahrschein zu schauen, den sie dann ebenfalls im Ausgabefach vermutet und von dort auch entnimmt. Schließlich wendet sie sich vom Automaten ab, um zu gehen, wirft aber noch einmal einen Blick zurück, um sich zu versichern, dass die Interaktion tatsächlich endgültig abgeschlossen ist.

In der zweiten Sequenz ist der Anlass für die Irritation weniger klar. Das in dieser Sequenz zu beobachtende Pärchen hat schon vor Beginn der Sequenz deutliche Anzeichen von Eile erkennen lassen (vor allem wiederholtes Blicken auf Armband- und Bahnhofsuhr und verschiedene hektische Gesten). Die Frau entfernt sich schon vor Abschluss der Interaktion vom Automaten in Richtung der Bahnsteige, während der Mann (in allen bisher von mir einer vorläufigen Auswertung unterzogenen Fällen hat der Mann den Automaten bedient) letzte Eingaben auf dem Touchscreen des Automaten macht und die Ausgabe von Beleg und Fahrschein erwartet. Nachdem er diese beiden Abschnitte einzeln entnommen hat startet er in Richtung der ihn begleitenden Frau, die sich schon fast aus seinem Blickfeld entfernt hat. Der Aufbruch ist jedoch erst noch uneindeutig. Der Mann wendet sich in seiner Körperhaltung nicht sofort vom Automaten ab, sondern bleibt dem Automaten auch im Fortgehen noch etwas zugewandt. Er unterbricht dann die Bewegung zu seiner Begleiterin und wendet sich noch einmal voll zum Automaten zurück, inspiziert die Anzeige des Touchscreens und wendet sich erst nach dieser Inspektion endgültig vom Automaten ab und geht schnellen Schrittes zu der wartenden Frau.
In diesem Fall ist der Verlauf der Interaktion mit dem Automaten ein Anderer. Im ersten Beispiel lässt sich der abschließende Blick zum Automaten mit der erst im zweiten Anlauf gelungenen Entnahme des Fahrscheins erklären. Im zweiten Beispiel ist die Entnahme des Fahrscheins unproblematisch. Trotzdem und trotz der offensichtlichen Eile des Pärchens zögert der Mann und wendet sich noch einmal zum Automaten zurück um zu prüfen, ob die Interaktion tatsächlich beendet ist.

Wie lässt sich dieses Verhalten erklären? Was ist der Grund für die zu beobachtende Irritation der beobachteten Akteure? Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage für beide Fälle scheint es mir möglich, einen gemeinsamen Grund auszumachen: Ich habe im bisherigen Text von der Interaktion zwischen Personen und Automaten gesprochen – normalerweise wird in der Soziologie nur das Verhalten von Menschen zueinander als Interaktion bezeichnet. Der Umgang mit der nicht menschlichen Umwelt ist von geringerem Interesse und wird mit Begriffen wie zweckgerichtetem Handeln oder Arbeit belegt. Im Gegensatz zu dieser orthodoxen Vorgehensweise will ich den Umgang mit der (technisierten) Umwelt in meiner Studie als Interaktion fassen, d.h. im weitesten Sinne, dass ich den Dingen (den Fahrscheinautomaten, den Schiebetüren, den Displays, den Kameras, der Architektur) ein eigenes Handlungspotential zuschreibe, sie zu Akteuren mache, um damit auf gemeinhin vernachlässigte Aspekte des sozialen Handelns im konkreten Raum einen analytisch geschärften Blick zu werfen.
Wenn man also mit einer solchen Perspektive auf die angeführten Beispiele blickt, kann man das gemeinsame Problem beider Parteien ausmachen. Der Automat erscheint hier als Interaktionspartner, von dem erwartet wird, was zum Abschluss einer jeden expliziten Interaktion erwartet wird: ein Abschied. Für die meisten Nutzer der Automaten geht mit der Entnahme der Abschnitte die Erwartung einher, dass die Interaktion nun beendet sei (dass es sich um zwei, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander ausgeworfene Abschnitte handelt ist ein eigenes Problem, auf das ich an dieser Stelle nicht eingehe). Der Automat produziert jedoch nicht in erwarteter Klarheit und Geschwindigkeit seinen Teil des Abschieds. Den Personen, die den Automaten bedienen, wird nicht deutlich gemacht, wann die Interaktion auch für den Automaten tatsächlich beendet ist. So wird erst nach Auswurf des abschließenden Belegs (in der Regel des Fahrscheins) – und dann noch mit einiger Verzögerung – ein weiterer, komplexer und kleingeschriebener Dialog angezeigt, in dem nachgefragt wird, ob noch weitere Vorgänge bearbeitet werden sollen. An dieser Stelle der Interaktionssequenz wird aber ein möglichst klares Abschiedssignal vom Automaten erwartet (das sicher durch das Angebot einer Fortführung der Interaktion ergänzt werden könnte).


Ich hoffe in diesem sehr kurzen – aus wissenschaftlicher Perspektive zu kurzem – Einblick in meine bisherige Arbeit zum Verhältnis von Menschen und Technik in Bahnhöfen und Passagierterminals deutlich gemacht zu haben, worin die Attraktivität dieses Projektes liegt. Durch die äußerst detaillierte Analyse von auf Video aufgezeichneten Handlungssequenzen kann ich spezifische Aspekte und Probleme des Verhältnisses Mensch-Technik aufdecken, kritisieren und so auch einer eventuellen Verbesserung zugänglich machen.

Bisher habe ich mich auf den augenscheinlichsten Fall, d.h. die Beobachtung von Interaktionen mit dem Fahrkartenautomaten, konzentriert – in Zukunft werde ich mich aber auch weiteren, zu Teil schwerer zugänglichen Aspekten widmen, so z.B. der architektonisch-räumlichen Gestaltung von Bahnhofsgebäude, Reisezentrum und den Bahnsteigen.

Dieses Projekt befindet sich noch in der ersten Phase, in der ich vor allem Material sammle (sowohl durch Videoaufzeichnung als auch durch Beobachtung und die dazugehörigen Protokolle). Im Verlauf dieses Jahres werde ich weiter beobachten und filmen und einige erste Analyseschritte vornehmen. Im folgenden Jahr beabsichtige ich dann die weitgehende Analyse und auch schon die Verschriftlichung wesentlicher Teile der Arbeit. Auch in diesen späteren Phasen der Arbeit ist eine regelmäßige Rückkehr ins Feld erforderlich; zum einen um sich im Verlauf der Analyse neu stellende Fragen zu untersuchen, zum anderen um vorhandenes Material zu verifizieren und zusätzliche Fallbeispiele zu finden.