Politik für mehr
REICHTUM
Daten und Anmerkungen zur Entwicklung
von Reichtum und Armut in Deutschland
Zusammengestellt und kommentiert von Martin Klauss
Hg. von ChristInnen
für den Sozialismus (CfS) / Freiburg und Linke Liste-Friedensliste / Freiburg,
4. Aktualisierte Auflage Januar 1998
Als Broschüre gegen einen Unkostenbeitrag von 5,- DM erhältlich bei: Büro der CfS c/o Martin Klauss, Schwarzkehlchenweg 30, 79111 Freiburg, Fax: 0761-4766008, e-mail: wuermell.klauss@t-online.de
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Inhaltsverzeichnis
A Krise im Standort Deutschland
2. Langfristige Politik für mehr privaten
Reichtum
2.1. Angehäuftes Geldvermögen
2.2. Steigende Gesamteinkommen bei Selbständigen
und abhängig Beschäftigten
2.3. Vergleich der Brutto- und Nettoeinkommen
2.4. Vergleich der Realeinkommen von Selbständigen
und abhängig Beschäftigten
3. Hintergründe des Ungleichgewichts
3.1. Einfluß der Politik
3.2. Steuerverzicht und leere Kassen
3.3. Steigende Sozialabgaben
4. Immer mehr Reiche
4.1. Das "Herunterrechnen" von Einkommen
4.2. Reichtumsverteilung auf Haushaltsgruppen
C Die Kehrseite wachsenden Reichtums
1. Geringfügig Beschäftigte
2. Arbeitslose und EmpfängerInnen von Sozialhilfe
1. Trotz allem: Geld ist genug da
2. ... und noch ein Fazit
Anhang
1. "Schöne Aussichten"
1.1. Senkung der "Arbeitskosten"
1.2. Kürzungen der "sozialen Kosten"
1.3. Steuererleichterungen
2. Einnahmen des Staates, Einnahmen und Ausgaben der BA für Arbeit,
der Rentenversicherung und der ges. Krankenversicherungen 1995 (nur in
der gezipten Version zum Herunterladen enthalten)
Abkürzungen:
DIW: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung;
Wochenberichte
DBB-M: Deutsche Bundesbank Monatsbericht
IFO: Institut für Wirtschaftsforschung
ISW: Sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.
IWD: Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft;
wöchentliche Mitteilungen
RWI: Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
StBA: Statistisches Bundesamt; F: Fachserie; StJB:
Statistisches Jahrbuch; WS: Wirtschaft und Statistik
WSI: Wirtschafts- und Sozialpolitisches Institut; monatliche Mitteilungen
A: Krise im Standort Deutschland
Alle sind sie aufs höchste besorgt. PolitikerInnen und Unternehmerverbände,
Parteien, ProfessorInnen und ExpertInnen und zuletzt auch ein großer
Teil der Bevölkerung. Keine Zeitung kann mehr gelesen, keine Nachrichtensendung
mehr gesehen und kaum eine Talkshow mehr konsumiert werden, ohne daß
sie einen mit der Nase darauf stoßen, welche Gefahr uns alle zu überrollen
droht. Zur Beschreibung der Situation schien hergebrachtes Vokabular zu
schwach. Ein neues "Wort des Jahres" wurde kreiert: Standort
Deutschland. Standorte waren uns zwar geläufig, als Gemeinwesen mit
integrierter Bundeswehrkaserne; jetzt ist die ganze Republik ein solcher.
Standort Deutschland. Da gehören alle dazu. Ohne Ausnahme. So ist
es gemeint von denen, die in gewohnt fürsorglichem Eifer vorgeben,
Verantwortung für alle zu tragen und uns warnen vor dem, was
auf uns zukommt, wenn nicht eine radikale Kursänderung in Wirtschaft
und Gesellschaft herbeigeführt wird. Sie, und nur sie wissen,
wie es um uns alle steht und was zu tun ist, um den drohenden Absturz in
letzter Minute zu vermeiden.
Das Bild, das vor uns ausgebreitet wird, ist das Bild eines verarmenden
Landes, dessen Bevölkerung viel zu lange über ihre Verhältnisse
gelebt hat und sich nun leider "viele liebgewonnene soziale Luxuseinrichtungen"
nicht mehr leisten kann. Lohnfortzahlung bei Krankheit, Kündigungsschutz,
"zu hohe" Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe und
vieles mehr ist zu teuer geworden, läßt sich einfach nicht mehr
bezahlen.
Wir müssen sparen. Angeblich alle, was sich bei näherem Hinsehen
jedoch als nicht so ganz zutreffend erweist. Aber (fast) alle, die die
Möglichkeit haben, sich öffentlich zu äußern, stimmen
in den Sparzwang - Chor mit ein. Gewerkschaften, SPD, GRÜNE1
und viele andere Gruppen opponieren zwar (noch?), teilweise sehr heftig
("Lohnfortzahlung"), aber meist nicht grundsätzlich. Ihr
Ziel ist, so macht es den Eindruck, lediglich eine Linderung des "Katalogs
der Grausamkeiten"; und so stimmen sie im Prinzip der angeblichen
Notwendigkeit zu, genau in den von der Bundesregierung vorgegebenen Bereichen
Einsparungen vornehmen zu müssen. Wen wundert's, daß kaum mehr
jemand anzutreffen ist, der (die) nicht infiziert scheint von der Verpflichtung,
seinen (ihren) Beitrag zum allgemeinen "Sparen" zu leisten.
Es ist an der Zeit, den Fernseher einen Moment abzuschalten und die Zeitung wegzulegen. Es ist an der Zeit, wieder klaren Kopf zu bekommen und die Realität zu sehen, wie sie wirklich ist. Was sind die Fakten?
Tatsache ist, die öffentlichen Kassen sind leer, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte (von Bund, Ländern und Gemeinden) steigt ins Unermeßliche (über 2100 Mrd. DM im Jahr 1996) und die Schuldzinsen fressen einen Großteil der finanziellen Gestaltungsmöglichkeiten auf. Ebenso zutreffend ist, daß die Belastung von sozialversicherungspflichtiger Arbeit durch die sog. Lohnnebenkosten immer mehr zunimmt.
Tatsache ist aber auch ein ungeheurer Reichtum in privater Hand und eine skandalöse Zahl von Armen in unserem Land. Den vielstimmigen Äußerungen "unserer" PolitikerInnen und Medien ist zu entnehmen, daß am Zustandekommen der leeren öffentlichen Kassen niemand beteiligt war außer jenen, die - zum Schaden aller - die sozialen Errungenschaften in Anspruch nahmen ("zu hohes Anspruchsdenken", "Sozialschmarotzer", "Leben auf Kosten der Gemeinschaft" usw.). Von Armen ist selten die Rede, und Reichtum wird einfach verschwiegen. Wenden wir uns deshalb zunächst dem zu, über das offensichtlich nicht geredet werden soll:
B: Reichtum in privaten Händen
Wir leben in einem unbeschreiblich reichen Land, einem der reichsten Länder dieser Erde2. Diesen Reichtum in seinem ganzen Ausmaß darzustellen, ist nahezu unmöglich, zeigt er sich doch in so unterschiedlichen Merkmalen wie:
In dem Bewußtsein, nur einen Teil dessen zu erfassen, was Reichtum ausmacht, wird im folgenden der Versuch unternommen, diesen anhand der meßbaren Größe "Geldmenge" etwas zu erhellen.
Im Jahr 1996 betrug das öffentlich registrierte Geldvermögen3
der privaten Haushalte4 ca. 4955 Mrd. DM5. Bei gleichmäßiger
Verteilung würde dies für jeden Menschen in Deutschland, vom
Baby bis zur Oma etwa 60.700.- DM bedeuten. Dieser von der Deutschen Bundesbank
erfaßte Reichtum6 ist selbstverständlich (wir trauen
uns ja kaum noch, von anderem zu träumen) nicht ganz gleichmäßig
auf die Leute verteilt.
Wie sich die Verteilung 1993 ungefähr darstellte,
zeigt Schaubild 1a7. Die Daten
entstammen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)8,
einer Art repräsentativer Befragung einiger tausend Haushalte, bei
der die Befragten sehr detailliert über Einkommen, Vermögen und
Ausgabeverhalten Auskunft geben sollen. Nach diesen Angaben verfügt
das oberste Zehntel der Haushalte in Deutschland über knapp die Hälfte
des gesamten Geldvermögens, während sich die untere Hälfte
der Bevölkerung mit insgesamt 8,5% zufrieden geben muß. Für
das untere Zehntel (das sind immerhin fast 3,5 Mio. Haushalte) überwiegen
Verpflichtungen aus Konsumentenkrediten9 die Guthaben, so daß
sich für diese Gruppe ein negatives Geldvermögen (-1,0%) ergibt.
In diesem Teil der Bevölkerung findet sich ein Großteil der
mehr als 2 Millionen überschuldeten Haushalte, deren "Schulden
so hoch sind, daß sie die Kredite nicht mehr bedienen, bzw. offene
Rechnungen nicht mehr bezahlen können"10.
Das tatsächliche Ausmaß der Ungleichverteilung des privaten
Geldvermögens läßt sich aus den Ergebnissen der EVS allerdings
nur annähernd ablesen. Ein unvollständiges Bild ergibt sich dabei
vor allem aus der, besonders bei hohen Vermögen, mangelnden Fähigkeit
oder Bereitschaft, tatsächlich das gesamte Vermögen und alle
Einkünfte anzugeben sowie der Tatsache, daß EinkommensbezieherInnen
von mehr als 35000.- DM Monatseinkommen erst gar nicht erfaßt wurden11.
Das führte dazu, daß lediglich 56%!12 des
von der Deutschen Bundesbank errechneten Geldvermögens in privater
Hand in den EVS-Daten enthalten sind; die fehlenden 44% befinden sich größtenteils
im Besitz von Haushalten mit großem Vermögen und überdurchschnittlichen
Einkünften13.
Berücksichtigung findet das "fehlende" Geldvermögen
in Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)14,
die (unter Einbeziehung der Einkommensteuerstatistik) zu einer realistischeren
Darstellung der Verteilung des privaten Geldvermögens (insbesondere
der Wohlhabenden) führen (Schaubilder
1b und c). 450.000 Haushalte (das sind 1,3% von allen) verfügen
demnach über fast ein Viertel (23,7%) des gesamten Geldvermögens
(durchschnittlich 1,67 Mio. DM pro Haushalt), 4,3% (1,5. Mio. Haushalte)
über 41,1%, und die "oberen" 8% der Haushalte (2,8 Mio.)
nennen mehr als 52% ihr eigen. Dagegen können die "unteren"
80% der Haushalte lediglich ein Viertel (26,3%) des Netto-Geldvermögens
unter sich aufteilen (Durchschnitt: DM 29.000 pro Haushalt). Zu berücksichtigen
ist allerdings auch bei diesen Zahlen, daß sie sich ausschließlich
auf das "registrierte Geldvermögen" beziehen. Die vielen
hundert, vor allem von wohlhabenden BundesbürgerInnen im Ausland gelagerten
Milliarden, sind nicht enthalten. In Wirklichkeit ist also die Ungleichverteilung
noch größer, als es diese Zahlen darstellen können (vgl.
Fußnote 6).
2. Langfristige Politik für mehr privaten Reichtum
Der Versuch, Reichtum und seine Verteilung zu erfassen, darf sich nicht darauf beschränken, die derzeitig ungerechte Situation zu beschreiben und zu beklagen. Wichtiger ist es, zu untersuchen, wie eine solch eklatante Ungleichverteilung zustande kommt und welche Rolle die Politik dabei spielt. Dazu bedarf es notwendigerweise einer Analyse der Entwicklung der letzten Jahre, die deutlicher als Parteiprogramme oder Absichtserklärungen von PolitikerInnen die in Wirklichkeit verfolgten politischen Ziele erkennen läßt. Aus dem Verlauf dieser Entwicklung ergibt sich außerdem die Möglichkeit, zu erahnen, wie es - ohne grundsätzliche Kurskorrektur - in einigen Jahren aussehen wird. Unterstellen wir also der Bundesregierung erfolgreiche Politik in den letzten Jahren (wie sie es ja auch selbst gerne tut) und schließen aus dem Erreichten auf die politische Absicht für Vergangenheit und Zukunft.
Das private Geldvermögen belief sich im Jahr 1980 (laut Bundesbank)
auf 1480 Mrd. DM und wuchs innerhalb von 16 Jahren auf weit mehr als das
Dreifache an (4955 Mrd. DM; siehe Schaubild
2a). Gegenüber diesem Anstieg um 235% fällt selbst die Preissteigerungsrate
von insgesamt 53% über den ganzen Zeitraum eher niedrig aus. Ein Vergleich
mit den wichtigsten Sozialausgaben, über deren Höhe so häufig
Klage geführt wird, gibt eine Vorstellung von der Größenordnung
der jährlichen Wachstumsraten15 dieses privaten Geldreichtums
(Schaubild 2b). Die Zunahme
um 305 Mrd. DM im Jahr 1996 ist gut 6 mal so viel, wie die gesamten Sozialhilfeausgaben,
mehr als alle Rentenzahlungen in ganz Deutschland und mehr als doppelt
so viel wie die gesamte Zunahme der Verschuldung aller öffentlichen
Haushalte16 (137 Mrd. DM im Jahr 1996).
Dieses Wachstum des Geldreichtums in privater Hand sprudelte im Wesentlichen
aus zwei Quellen: Einkünfte aus dem vorhandenen Geldvermögen
sowie sog. Ersparnis aus anderen Einkünften. Trotz gewisser Schwankungen
von Zins und anderen Renditeformen im Lauf der Jahre zeigen die Einkünfte
aus Geldvermögen eine sehr ähnliche Dynamik wie das Vermögen
selbst: Anstieg um 205%17 in 16 Jahren (Schaubild
3). Bei Gleichverteilung hätte (im Jahr 1996) jeder Haushalt DM
5800.- aus dieser Einnahmequelle bezogen. Die tatsächliche Ungleichverteilung
soll hier nur mit einer Zahl angedeutet werden: Spitzenreiter sind die
2 Millionen Haushalte von Selbständigen (ohne Landwirte) mit durchschnittlich
DM 20.100.- pro Jahr18.
Es ist fast überflüssig zu erwähnen, daß Einkünfte
aus (Geld-) Vermögen fast ausschließlich denen zugute kommen,
die viel Vermögen ihr eigen nennen. Verstärkt wird dieser Effekt
der Vermögenskonzentration noch dadurch, daß auch die zweite
Quelle im wesentlichen derselben Bevölkerungsgruppe Vermögenszuwachs
beschert: die Ersparnis aus anderen Einkünften (Schaubild
4)19. Wer nichts hat oder wenig, macht eher Schulden; BezieherInnen
hoher Einkommen sind in der Lage, bis zu über 30% ihrer hohen Einkünfte
aufs "Sparbuch" zu legen - nicht mitgerechnet (mangels nachprüfbarer
Informationen) die bereits angesprochenen "grauen Pfade" der
Geldanlage.
2.2. Steigende Gesamteinkommen bei Selbständigen und abhängig Beschäftigten
Lassen sich die Einflüsse der Politik, die zu dieser "Explosion" des privaten Geldvermögens führten, nach dem bisher Gesagten nur vermuten, so wird vieles klarer sichtbar bei einer Untersuchung des zweiten großen Anteils am privaten Geldreichtum: den laufenden Einkünften. Zunächst sehr grob in 2 Gruppen aufgeteilt20 soll auch hier die Entwicklung der letzten 17 Jahre betrachtet werden. Schaubild 5 zeigt die Gesamtsumme aller in Deutschland bezogenen Brutto-Einkommen aus unselbständiger Arbeit, Schaubild 6 die Summe aller Brutto-Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen21. Dabei ist zu beachten, daß ab 1991 die Einkommen in Ostdeutschland mit einberechnet sind. Die gesamten Netto-Einkommen der jeweiligen Gruppe ergeben sich durch Abzug der auf diese Einkommen tatsächlich gezahlten Steuern22 und Sozialabgaben23. Deren prozentualer Anteil am Brutto-Einkommen ist in den Schaubildern 5a und 6a dargestellt.
2.3. Vergleich der Brutto- und Nettoeinkommen
Auf den ersten Blick scheint sich die Entwicklung der Einkommen für
beide Gruppen nicht allzu stark zu unterscheiden. Die Bruttoeinkommen
der abhängig Beschäftigten stiegen im angegebenen Zeitraum
insgesamt um 115%, die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen um 200%24 (Dabei ist allerdings zu beachten,
daß die Einbeziehung der "neuen Länder" ab 1991 bei
den abhängig Beschäftigten einen deutlich stärkeren Einfluß
auf den Verlauf der Kurve erkennen läßt, als bei der anderen
Gruppe. Ein Herausrechnen des ostdeutschen Anteils würde deutlich
machen, daß das Gesamteinkommen abhängig Beschäftigter
in Westdeutschland um deutlich weniger als die angegebenen 115% stieg,
bei den übrigen Einkommen würde sich durch die Nichtberücksichtigung
des Ostens wenig ändern).
Einen wesentlich größeren Unterschied zwischen beiden Gruppen
zeigt ein Vergleich der Nettoeinkommen. Bei den abhängig Beschäftigten
liegt der Anstieg der Nettoeinkommen mit 95% (gegenüber brutto
115%) deutlich niedriger, bei den anderen mit 253% (gegenüber 200%)
deutlich höher als der Zuwachs der Bruttoeinkommen. Das
gesamte Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen
nahm also mehr als zweieinhalb mal so stark zu, wie das der abhängig
Beschäftigten.
Bei diesen Zahlen stellt sich allerdings die Frage nach der Vergleichbarkeit der bisher betrachteten Nettoeinkommen. Selbständige und BezieherInnen von Einkommen aus Vermögen beteiligen sich bekanntermaßen im allgemeinen nicht an den Abgaben an die Sozialkassen der abhängig Beschäftigten und gestalten Alters- und Krankheitssicherung auf privaten Wegen. Welchen Anteil ihres Einkommens sie dafür aufwenden, und wie sich dieser Anteil in den letzten Jahren entwickelt hat, läßt sich zahlenmäßig nur schätzungsweise und für kleine Gruppen darstellen25. Aus diesem Grund werden im folgenden (zunächst) lediglich die "reduzierten" Nettoeinkommen verglichen, die sich aus der Differenz von Bruttoeinkommen und tatsächlich bezahlten Steuern (also vor Abzug der Sozialabgaben) ergeben26. Bedeutende Verschiebungen ergeben sich durch diese Differenzierung allerdings nicht. Auch gegenüber dem "reduzierten" Nettoeinkommen der abh. Beschäftigten (Anstieg um 108%) nahm das Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen weit mehr als doppelt so stark zu (Anstieg um 253%).
2.4. Vergleich der Realeinkommen von Selbständigen und abhängig Beschäftigten
Noch deutlicher wird das Mißverhältnis bei der Gegenüberstellung
der Steigerungsraten der inflationsbereinigten Realeinkommen beider
Gruppen (Schaubild 7a).
Unter Berücksichtigung der "Geldentwertung" (die "Lebenshaltungskosten"
stiegen von 1980 bis 1997 um ca. 53%) ergibt sich bereits brutto ein
mehr als doppelt so starker Zuwachs (92% zu 38%) der Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen, bei den Nettoeinkünften (und nur die zählen
ja wirklich!) wird der Abstand zwischen beiden Gruppen noch größer.
Die Real-Netto-Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und
Vermögen haben insgesamt fast 4 mal so stark zugenommen (um 126% zu
33%) wie die gesamten "reduzierten" Real-Netto-Einkünfte
aller abhängig Beschäftigten.
Wer nun meint, diese Unterschiede dadurch erklären zu können,
daß die Anzahl der einen stark ab-, die der anderen da-gegen stark
zugenommen habe, sieht sich schnell auf der falschen Fährte. Tatsächlich
stieg die Zahl der abh. Beschäftigten durch die Einbeziehung der "Neuen
Länder", stark an (von 23,9 Mio. im Jahr 1980 auf 30,4 Mio. im
Jahr 1997)27, so daß das verfügbare Netto-Einkommen
pro Beschäftigten nach Berücksichtigung der Inflationsrate über
diesen Zeitraum fast ein "Null-wachstum", für die letzten
Jahre sogar ein zunehmendes "Minuswachstum"28 aufweist.
Dagegen wuchs die Zahl der EinkommensbezieherInnen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen deutlich schwächer (von 3,16 Mio. auf 3,58 Mio.
im gleichen Zeitraum)29, woraus zu schließen ist, daß
deren Realeinkommen auch pro Kopf über all die Jahre kräftig
anstieg. Auf die einzelnen EinkommensbezieherInnen umgerechnet ergibt sich
das in Schaubild 7b dargestellte
Bild. Danach sind die realen Nettoeinkommen aus unselbständiger
Arbeit im Verlauf dieser 15 Jahre fast überhaupt nicht gestiegen (plus
1%), während die realen Pro-Kopf-Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen einen stattlichen Anstieg um 100% aufweisen.
3. Hintergründe des Ungleichgewichts
Eine Hauptursache dieser so unterschiedlichen Entwicklungen wird erkennbar bei einer Betrachtung des Anteils der Steuern, die von beiden Gruppen entrichtet wurden (Schaubilder 5 und 6). Da findet sich bei den abhängig Beschäftigten ein Anstieg der insgesamt bezahlten Steuern um 151%30, während die anderen 1997 mit insgesamt 68 Mrd. DM31 nur 11% mehr direkte Steuern zu entrichten hatten als 17 Jahre zuvor (61 Mrd. DM). Rechnet man auch hier die Inflation heraus, zeigt sich (Schaubild 7a) der eklatante Gegensatz: einem deutlichen realen Anstieg der Steuern abhängig Beschäftigter um 61% steht ein realer Rückgang des gesamten Steueraufkommens der anderen um 29% gegenüber. Anteilsmäßig stieg die Belastung durch Steuern für die abhängig Beschäftigten von 15,8% auf 18,4%32 des Gesamteinkommens, für die BezieherInnen von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sank die Belastung deutlich von 22,1% auf 8,2% (Schaubild 5a und 6a). Ergänzend ist in einem weiteren Schaubild (8) die Entwicklung von Unternehmensgewinnen (von Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit)33 und ihrer Besteuerung in den letzten Jahren dargestellt. Sie unterscheidet sich lediglich dadurch, daß der Abfall der steuerlichen Belastung (von 33,6% auf 18,3% im dargestellten Zeitraum34) noch stärker ausfällt, als bei den gesamten Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen35.
Auffällig an diesen Zahlen ist die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit
und ihrer Darstellung in der Öffentlichkeit. Die allseits beklagte
Beschreibung Deutschlands als "Höchststeuerland" trifft
für die, die sich darüber am lautesten beschweren36,
gerade nicht zu. Vergleichsweise hohe Steuern zahlen hierzulande lediglich
die abhängig Beschäftigten. Für Gewinne aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen stimmt genau das Gegenteil, deren Besteuerung entwickelt
sich fast gegen Null37 (durchschnittlich 8,2% im Jahr 97)38.
Daß auch für die Zukunft nichts anderes zu erwarten sei, machte
Daimler-Chef Jürgen Schrempp 1996 gegenüber einer Gruppe von
Haushaltsexperten des Deutschen Bundestags deutlich, als er erklärte:
"Von uns bekommt Ihr mindestens bis zum Jahr 2000 nichts mehr!"39
Folgerichtig häufen sich - zumindest bei den Konzernen40
- große Mengen von Kapital an, das Geldvermögen der deutschen
Produktionsunternehmen41 stieg von 1980 (657 Mrd. DM) bis 1996
(2.639 Mrd. DM) auf das Vierfache an42, die Eigenkapital-Finanzierung
von Investitionen war noch nie so hoch wie heute, und mit dem Teil, für
den man keine profitträchtige Investition zu finden glaubt, wird spekuliert43.
Entwicklungen dieser Art sind Ergebnisse zielgerichteter Politik44.
Sie lassen sich nicht mehr erklären durch Konjunkturschwankungen oder
Verschiebungen auf dem Weltmarkt. Fast unbemerkt von einer breiten Öffentlichkeit,
nicht durch eine einzelne einschneidende Entscheidung (die wahrscheinlich
massiveren Widerstand ausgelöst hätte), sondern in vielen, kleinen
Schritten wurden bereits in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft
einschneidende Veränderungen vorangetrieben. Einem Teil der Erwerbstätigen
wurde dabei (zum großen Teil durch steuerliche Entlastung) ein immer
größerer Anteil des wachsenden Reichtums zugeschustert, während
die anderen die Belastungen zunehmend alleine zu tragen haben. Dabei ist
das Anwachsen der Steuerbelastung abh. Beschäftigter in erster Linie
durch die Wirkung der Steuerprogression zu erklären, die bei (Brutto-)
Lohnsteigerungen zu einem steigenden Steuersatz führt45.
Im Gegensatz dazu wurde dieser Progressions-Effekt für Einkommen aus
Unternehmertätigkeit und Vermögen durch eine Vielzahl von Steuererleichterungen
mehr als nur ausgeglichen. Alle derartigen Maßnahmen aufzuzählen,
würde den Rahmen dieser Broschüre sprengen. Direkte Steuererleichterungen
und Senkungen von Spitzensteuersätzen46 gehören ebenso
dazu wie die Reduzierung der Anzahl von Steuer-beamtInnen zur Aufdeckung
von Steuerhinterziehung (in Westdeutschland von 9189 im Jahr 1990 auf 8234
im Jahr 1993)47; Erleichterungen bei Abschreibungen verschiedener
Art ebenso wie die erhöhten Abschreibungen beim Immobilienkauf (oder
bei sonstigen "Investitionen") in den "neuen Ländern"48.
Und auch die Möglichkeiten, Gewinne und Kapital in Steueroasen zu
verschieben49, wurden von den gleichen Politikern geschaffen50,
die jetzt so langsam anfangen, darüber zu klagen, daß diese
den Großunternehmen eröffnete Möglichkeit der Steuervermeidung
von den Unternehmen tatsächlich genutzt wird!
Neben einer Vielzahl solch direkter Hilfen zur Senkung des Steueranteils
auf Unternehmensgewinne wirkten sich auch andere, eigentlich alle SteuerzahlerInnen
betreffende Änderungen der steuerlichen Rahmenbedingungen vor allem
zu Gunsten der BezieherInnen hoher Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen aus51.
Als Beispiel soll hier eine einzelne solche Maßnahme in Erinnerung
gerufen werden, die seinerzeit zwar breit diskutiert wurde, inzwischen
aber wieder in Vergessenheit geraten ist: das Steuerreformpaket 1986/88/90.
Gerade angesichts derzeitiger Pläne für eine weitere große
"Steuerreform" erscheint ein Rückblick auf die letzte sinnvoll.
Wie Schaubild 9 zeigt, betrug
das gesamte Entlastungsvolumen 33,5 Mrd. DM jährlich52.
Davon profitiert das obere Fünftel der etwa 22 Millionen EinkommensbezieherInnen
mit 19 Mrd. DM jährlich (59% der Gesamtentlastung) etwa 63 mal so
stark wie das untere Fünftel (0,3 Mrd. DM bzw. 0,9%)53.
Nach Berechnungen des RWI54 bestand die Gesamtwirkung dieser
Steuerreform zusammen mit dem im folgenden Jahr wirksam werdenden Steuer-
und Abgabenpaket sogar in einer zusätzlichen Belastung für
die untere Hälfte der EinkommensbezieherInnen, für die
obere Hälfte dagegen in deutlichen Entlastungen. Während
der Anstieg der Belastung der ersteren bis zu mehr als 6% des Bruttoeinkommens
beträgt, ergibt sich für ein(e) SteuerzahlerIn mit beispielsweise
200.000.- DM (zu versteuerndem) Jahreseinkommen eine Entlastung von mehr
als 4,5% (oder umgerechnet 9.000.- DM) pro Jahr55.
3.2. Steuerverzicht und leere Kassen
Ein Resultat der bisher beschriebenen, durch politische Entscheidungen herbeigeführten Entwicklung ist die allseits beklagte Situation leerer öffentlicher Kassen. Daß diese Entwicklung nicht zwangsläufig war, vielmehr von denen, die sie beklagen, gerade herbeigeführt wurde, soll im folgenden anhand einer fiktiven Rechnung dargestellt werden:
Angenommen, wir würden den Abstand zwischen den Steuern
auf Einkommen aus unselbständiger Arbeit und solchen aus selbständiger
Arbeit und Vermögen aus dem Jahr 1980 als in Ordnung ansehen;
Angenommen, die Besteuerung wäre in den folgenden Jahren für
die in Wirklichkeit zunehmend entlasteten Bezieher Innen von Einkommen
aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um genau die gleichen Prozentpunkte
gesteigert worden wie für die abhängig Beschäftigten;
Angenommen, das somit mehr eingenommene Geld wäre nicht auf
anderen Wegen denen zurückgegeben worden, die es nicht lebensnotwendig
brauchen,
dann wäre die jährliche Entlastung der öffentlichen
Haushalte so angestiegen, wie es Schaubild
10a aufzeigt.
Die Gesamtentlastung betrüge bis Ende 1997 etwa 1070 Mrd. DM. Darin
enthalten sind ca. 270 Mrd. DM, die (bei einem angenommen Zinssatz von
6% für den ganzen Zeitraum) an Zinsen eingespart worden wären.
Schaubild 10b zeigt zum
Vergleich die jährliche Zunahme der Verschuldung des Bundes für
die letzten Jahre56.
Selbstverständlich sind diese Überlegungen weder ein Plädoyer
für eine weitere Erhöhung der Belastung der Gesamtheit der EinkommensbezieherInnen,
noch so etwas wie eine nachträgliche Rechtfertigung für das starke
Anwachsen der Belastung der abhängig Beschäftigten. Sie sollen
lediglich aufzeigen, daß die heutige Situation bei entsprechender
politischer Absicht hätte vermieden werden können57,
ist sie doch so offensichtlich das Ergebnis einer Politik, die sehr einseitig
einen großen (vorwiegend reichen) Teil der Bevölkerung zunehmend
aus seiner (zumindest finanziellen) Verantwortung für die Allgemeinheit
entläßt.
Was in den öffentlichen Kassen derzeit fehlt, taucht bei genauerem
Hinsehen an anderer Stelle wieder auf: auf den Bankkonten und in Aktiendepots
von Privatleuten58.
Die Entwicklung der Sozialabgaben der abhängig Beschäftigten
fügt sich nahtlos in das bereits entstandene Bild ein. Der beträchtliche
Anstieg von 12,8 % im Jahr 1980 auf 17,3 % im Jahr 1997 (siehe Schaubild
5a) führte zusammen mit den gestiegenen Steuern zu einer Belastung
der Einkommen aus unselbständiger Arbeit von inzwischen 35,7% der
gesamten Bruttoeinkommen (gegenüber 28,8% im Jahr 1980; siehe
Schaubild 5a).
Unter Berücksichtigung dieser Zahlen reduziert sich der reale (inflationsbereinigte)
Zuwachs der gesamten Nettoeinkommen dieser Gruppe von 33% (wie in
Schaubild 7a angegeben) auf nur noch 25% (bei
einer realen Steigerung der Gesamtabgaben um 72%) im angegebenen Zeitraum59.
Eine Einbeziehung der steigenden Gesamtbelastung abhängig Beschäftigter
in die Modellrechnung zu den Mindereinnahmen des Staates (Schaubild
10a) läßt deren Gesamtbetrag auf etwa 1200 Mrd. DM60
anwachsen.
In der von Bundesregierung und Wirtschaft losgetretenen Diskussion werden
die steigenden Sozialabgaben61 zunehmend zur Begründung
der Notwendigkeit sogenannter "Sparpakete" und Entlastungsmaßnahmen
für die Unternehmen ins Feld geführt. Bezeichnenderweise liegt
die Betonung dabei stets auf der Belastung von Unternehmen; die wachsende
Belastung abhängig arbeitender Menschen, die eigentlich doppelt "bezahlen",
werden schlichtweg verschwiegen. Neben der Verringerung ihrer Realeinkommen
trifft diese ein ständiges Herunterschrauben der Leistungen:
im Krankheitsfall genauso wie bei Arbeitslosigkeit oder Rente.
In der äußerst polemisch geführten Debatte (die Rede ist
u.a. von "Vollkaskoversicherung", "Verteilung von Wohltaten
nach dem Gießkannenprinzip" oder "Ausruhen in der sozialen
Hängematte") wird der Sozialstaat zum "Auslaufmodell"
degradiert62. Sein "Umbau" sei - so die zentrale Behauptung
- notwendig, weil Staat und Wirtschaft durch das übermäßige
Anwachsen der Sozialausgaben finanziell überfordert würden63.
Angesichts dieser - von Vielen als plausibel akzeptierten - Behauptung
ist es angebracht, neben der Entwicklung der Beiträge zu den
Sozialversicherungen die Entwicklung der gesamten Sozial-Ausgaben zu
untersuchen.
Das Ergebnis ist höchst aufschlußreich: Während die "Sozialbeitragsquote"64
für die gesamte Republik von 17,2% im Jahr 82 auf 19,2% im Jahr 94
gesteigert wurde, sank die "Sozialleistungsquote" in Westdeutschland
zwischen 81 (33,5%) und 94 (30%) um 3,5 Prozentpunkte, d.h.: trotz wachsender
Beitragszahlungen und steigender Arbeitslosenzahlen und Sozialhilfebedürftigkeit,
sowie (angeblich65) explodierender Gesundheitskosten wurde ein
immer kleiner werdender Teil (der insgesamt erwirtschafteten Mittel) für
soziale Zwecke aufgewandt. Welche immensen Einsparungen durch Leistungskürzungen
hinter diesen wenigen Prozentpunkten stecken, wird deutlich anhand absoluter
Zahlen: 3,5% des Bruttoinlandsproduktes des Jahres 1994 sind rund 115 Mrd.
DM. Anders ausgedrückt: bei gleichbleibender Quote hätten 1994
ca. 115 Mrd. DM66 mehr für soziale Zwecke zur Verfügung
gestanden67.
Für ganz Deutschland liegt die Sozialleistungsquote mit 33,5%
(im Jahr 1994) nicht allzu hoch über dem Wert, der 1981 für Westdeutschland
berechnet wurde. Der Grund für diese (gegenüber der Westquote)
erhöhte Gesamtquote liegt in den wesentlich höheren Zahlen
für die "neuen Länder". Dort stieg die Sozialleistungsquote
(u.a. als Folge der zunehmenden Zahl von Arbeitslosen) auf einen Höchststand
von 68,1% (1992), um danach bis 1994 auf immer noch stattliche 61,4% abzunehmen.
In den "blühenden Landschaften" müssen also fast 2/3
der insgesamt erwirtschafteten Mittel dazu verwendet werden, die sozialen
(Miß-)Verhältnisse "abzufedern".
Zumindest für die letzten Jahre findet sich demnach in der Einbeziehung
der "neuen Länder" in das Sozialsystem ein Hauptgrund für
den Anstieg der auf die Einkünfte aus unselbständige Arbeit zu
entrichtenden Sozialabgaben. Die "Lasten der deutschen Einheit"
wurden zu einem großen Teil dem bestehenden Sozialversicherungssystem
aufgebürdet, obwohl absehbar war, daß auf der Einnahmenseite
aus den "neuen Ländern" nicht viel zu erwarten war. Eine
Überlastung der Sozialkassen wurde dadurch vorprogrammiert.
Ein zweiter wesentlicher Grund für die wachsende Belastung durch Sozialabgaben
ist die rückläufige Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter
(Schaubilder 15a und
b). Vor allem die zunehmende Arbeitslosigkeit, die deutlich wachsende
Zahl von Berufstätigen in "ungeschützten Arbeitsverhältnissen"68
und die immer größer werdende Zahl von "Scheinselbständigen"
führt dazu, daß immer weniger Beschäftigte Beiträge
zu den Sozialversicherungen leisten. Darüber hinaus führt die
Existenz von "Beitragsbemessungsgrenzen" dazu, daß ausgerechnet
bei "Besserverdienenden" (die es bekanntlich auch unter den unselbständig
Beschäftigten gibt) Lohnsteigerungen nicht zu einem ausreichenden
Anstieg der Sozialabgaben dieser Personengruppe führen.
Neben mehreren, den Sozialkassen in den letzten Jahren aufgebürdeten,
versicherungsfremden Leistungen (auf die hier im einzelnen nicht weiter
eingegangen werden soll)69 trieb der Rückzug des Staates
aus der Finanzierung der "Sozialschutzausgaben" die Belastung
abhängig Beschäftigter in die Höhe. Wurden noch 1960 ca.
40% aller Sozialausgaben durch öffentliche Mittel (Steuern) finanziert,
und waren es 1980 noch 33,7%, so sank dieser Anteil bis auf 29,4% im Jahr
199070. Für Gesamtdeutschland lag der steuerfinanzierte
Anteil 1994 mit 31,2% kaum höher (Schaubild
11). Die Auswirkung dieser verringerten staatlichen Beteiligung wird
deutlich anhand konkreter Zahlen. Bei einem Sozialbudget (Summe der Sozialleistungen)
von über 1140 Mrd. DM im Jahr 1995 hätten die Sozialkassen (bei
einem gleichbleibenden Beteiligungssatz des Staates von 37,2% - wie 1970)
jährlich über 68 Mrd. DM zusätzlich zur Verfügung.
Sie wären daher auf Beitragserhöhungen nicht angewiesen. Die
o.g. Zahlen zeigen, daß dieser Weg nicht gewählt wurde. Statt
dessen wurde zum Ausgleich des "Rückzugs des Staates" der
prozentuale Beitrag der Versicherten zu den Sozialausgaben von 19,7% (1960)
über 22,1% (1970) und 27,6% (1989) auf 28,6% im Jahr 1993 gesteigert71,72.
Angesichts dieser Daten kann keine Rede mehr davon sein, daß die
Sozialausgaben nicht mehr finanzierbar wären. Richtig ist vielmehr:
Es fehlt der "politische Wille", sie zu finanzieren. Die "sozialen
Kosten" gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Entscheidungen
wurden und werden nicht auf alle EinkommensbezieherInnen gleichmäßig
verteilt, geschweige denn überwiegend denen aufgebürdet, die
Einbußen ihres persönlichen Reichtums verkraften könnten,
ohne auch nur entfernt in Existenznöte zu geraten73.
Zusammenfassend läßt sich feststellen:
1. Das Gesamteinkommen aller Erwerbstätigen (Volkseinkommen) hat
in den letzten 17 Jahren stetig zugenommen.
2. Während der Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen am Volkseinkommen stark angewachsen ist, ging der Anteil
der Einkommen aus unselbständiger Arbeit entsprechend deutlich zurück74.
3. Den abhängig Beschäftigten wurde ein immer größerer
Teil ihrer Einkünfte zur Finanzierung von Staatsaufgaben und einer
(immer schlechter werdenden) sozialen Absicherung abverlangt, währenddessen
zunehmend auf eine Beteiligung der Selbständigen und VermögensbesitzerInnen
an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben verzichtet wurde.
4. Die leeren Kassen bei Bund, Ländern und Gemeinden sind ein Ergebnis
dieser Politik.
Bereits aus den bisher aufgezeigten Entwicklungen läßt sich
ablesen, daß die gewaltige Zunahme des Reichtums - dank politischer
Weichenstellung - ganz und gar nicht gleichmäßig allen EinkommensbezieherInnen
zugute kam. Die Zahl der Menschen, die unter diesen Verhältnissen
ihren privaten (Einkommens-) Reichtum entscheidend mehren konnten, läßt
sich (mit einigen Einschränkungen) aus den Einkommensteuerstatistiken
herauslesen. Zieht man eine Grenze bei 100.000.-DM Jahreseinkommen75
("Gesamtbetrag der Einkünfte"76), so ergibt sich
ein erstes, aufschlußreiches Bild der wachsenden Zahl von Personen
mit hohen Einkommen (Schaubild
12a)77. Die Zahl der (unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen
natürlichen) Personen mit mehr als DM 100.000.- Jahreseinkommen stieg
innerhalb von 12 Jahren (von 1980 bis 199278) auf das 5-fache,
das sind mehr als 2,7 Millionen79 Steuerpflichtige im Jahr 1992.
Die durchschnittlichen Einkünfte dieser Gruppe werden mit 184.000.-
DM angegeben.
Ob sich dieser Anstieg mit der gleichen Dynamik bis heute fortgesetzt hat
(dies würde für 1996 eine Zahl von weit über 4 Millionen
BezieherInnen solcher Einkommen bedeuten80) oder etwas flacher
verlaufen ist, läßt sich noch nicht feststellen81.
Sicher scheint aber, daß die Entwicklung zumindest tendenziell so
weiterging und auch für die Zukunft ist nichts wesentlich anderes
zu erwarten. Die politischen Weichen dafür sind bereits und werden
weiter gestellt82.
Teilweise läßt sich dieser (exponentielle) Anstieg mit den (durchschnittlich)
steigenden Einkünften erklären. So "rutschte" ein Teil
der EinkommensbezieherInnen durch tarifliche Lohnerhöhungen statistisch
gesehen in die nächsthöhere Einkommensgruppe. Unter Berücksichtigung
der Steigerung der Lebenshaltungskosten83 entsprächen (im
Vergleich der Kaufkraft) 120.000.- DM Jahreseinkommen 1992 einem Einkommen
von 100.000.- DM im Jahr 1983. Doch auch bei Berücksichtigung der
sich daraus ergebenden Korrekturen84 bleibt festzuhalten, daß
die Anzahl von BezieherInnen hoher Einkommen deutlich gestiegen ist. Die
Zahl der Reichen nimmt rasant zu. Das zeigt sich gleichermaßen in
der zahlenmäßigen Zunahme (Anstieg um 167%) der Leute mit über
250.000.- DM Jahreseinkommen (Schaubild
12b). Deren durchschnittliches zu versteuerndes Einkommen lag 1992
bei ca. 602.000.- DM.
Wesentlich differenziertere Aufschlüsse über den wachsenden privaten
Reichtum lassen die vorliegenden Daten leider nicht zu. Zu unterschiedliche
"Steuerfälle" sind in den Einkommensteuertabellen mit dem
(scheinbar) gleichen Einkommen registriert. Hauptgrund dafür ist die
Tatsache, daß die Aufteilung der Steuerpflichtigen in Einkommensgruppen
nicht nach der Höhe der tatsächlichen Einkünfte, sondern
nach dem (etwas irreführenden sog.) "Gesamtbetrag der Einkünfte"
vorgenommen wird (siehe Fußnote 76). Werbungskosten (darunter fallen
alle wesentlichen privaten Absetzungsmöglichkeiten außer der
Eigenheimförderung und Sonderausgaben), sog. "negative Einkünfte"
aus anderen Einkunftsarten (beispielsweise Schiffsbeteiligungen) und Betriebsausgaben
(Beispiel: Firmenwagen) sind also bereits herausgerechnet85.
Ein angegebenes Jahreseinkommen von 100.000.- DM kann demnach bedeuten:
· das gesamte Bruttoeinkommen einer Familie mit 2 Verdienenden,
von dem nach Abzug von über 40% Steuern und Sozialabgaben ein Nettomonatseinkommen
von weniger als 5000.- DM übrigbleibt,
· aber auch: das "heruntergerechnete" Einkommen
von Selbständigen (Absetzbarkeit der Betriebsausgaben86)
oder sonstigen "Besserverdienenden", die aufgrund ihrer hohen
Einkünfte in der Lage sind, von den vielfältigen Steuerminderungsangeboten
Gebrauch zu machen.
Die (legale und illegale) Möglichkeit, Einkommen "herunterzurechnen"
führt dazu, daß eine große (leider nicht exakt festzustellende)
Zahl von BezieherInnen hoher und extrem hoher Einkommen in den amtlichen
Steuerstatistiken nicht (bzw. als "Verlustfälle") erscheinen
oder zumindest in sehr niedrigen Einkommensgruppen eingeordnet werden.
Insofern kann festgehalten werden, daß auch die vorliegenden Zahlenangaben
das wahre Ausmaß der Konzentration von Einkommens-Reichtum verschleiern.
Viele Reiche werden von diesen Statistiken nicht erfaßt87.
4.1. Das "Herunterrechnen" von Einkommen
Die Praxis der "rechnerischen Verringerung" des zu versteuernden Einkommens verdient, etwas näher betrachtet zu werden. Zunächst ist zu beachten, daß bekanntlich den abh. Beschäftigten die "Last" der Bestimmung der Einkommenshöhe abgenommen wird (Steuern und Abgaben werden direkt vom Lohn abgezogen), den Selbständigen und VermögensbesitzerInnen jedoch nicht. Sie "müssen" die Höhe ihres Einkommen (und der steuermindernden Betriebsausgaben) selbst errechnen und dem Finanzamt mitteilen, wobei die Gefahr der amtlichen Überprüfung erfahrungsgemäß als nicht hoch anzusetzen ist.
Das "Herunterrechnen" von Einkommen
Eine Modellrechnung der Wirtschaftswoche88 über einen Zeitraum von 10 Jahren. Steuerfall: Ehepaar ohne Kinder, zwei Verdiener, Einkommen: 500.000.- DM im Jahr.
Zeitraum | Sachverhalt | Steuermindernder Betrag (DM) | Steuermindernder Betrag im ganzen Zeitraum (DM) | zusätzliche Einkünfte (DM) |
1. bis 10. Jahr | Arbeitszimmer | 8.000 pro Jahr | 80.000 | |
1. bis 10. Jahr | Außergewöhnliche Belastungen | 8.000 pro Jahr | 80.000 | |
1. bis 6. Jahr | Mieteinnahmen aus Mehrfamilienhaus | Abschreibung 40.000; Zinsabsetzung 110.000 |
150.000 | Mieteinnahmen 6 mal 70.000=420.000 |
1. Jahr | Kauf einer Schiffsbeteiligung | Verlustzuweisung 165.000 | 165.000 | |
2. Jahr | Beteiligung an soz. Wohnungsbau in Berlin | Verlustzuweisung 145.000 | 145.000 | |
3. Jahr | Beteiligung an geschl. Immobilienfond in Ostdeutschland | Verlustzuweisung 100.000 | 100.000 | |
3. Jahr | Verkauf der selbstgenutzten Wohnung | Gewinn (gegenüber dem Kaufpreis) 100.000 (steuerfrei) | ||
4. Jahr | Kauf einer Beteiligung am soz. Wohnungsbau in Berlin | Verlustzuweisung 170.000 | 170.000 | |
4. Jahr | Kauf einer selbstgenutzten Villa | Schuldzinsen-Absetzung: 6 Jahre je 12.000 | 72.000 | |
5. Jahr | Kauf einer Schiffsbeteiligung | Verlustzuweisung 165.000 | 165.000 | |
6. Jahr | Auszahlung einer Lebensversicherung | Gewinnanteil 340.000 (steuerfrei) | ||
7. Jahr | Verkauf eines vermieteten Mehrfamilienhauses | Gewinn (gegenüber dem Kaufpreis) 500.000 (steuerfrei) | ||
7. Jahr | Kauf eines Mehrfamilienhauses in Ostdeutschland | Schuldzinsenabsetzung 150.000 pro Jahr | 600.000 | Mieteinnahmen 4 mal 150.000 im Jahr = 600.000 |
7. bis 10. Jahr | Abschreibungen für o.g. Mehrfamilienhaus | 480.000 pro Jahr | 1.920.000 | |
Gesamtbeträge | 3.647.000 DM | 1.960.000 DM |
1. Jahr | 2. Jahr | 3. Jahr | 4. Jahr | 5. Jahr | 6. Jahr | 7. Jahr | 8. Jahr | 9. Jahr | 10. Jahr | insgesamt | |
zu bezahlende Steuer (DM) Steuersatz |
80930 |
91600 |
113000 |
72190 |
74700 |
160000 |
0 |
0 |
0 |
0 |
592424 8,5% |
Hilfreich zur Beurteilung der Steuerehrlichkeit gerade der reichen MitbürgerInnen ist die Tatsache, daß im Jahr 1983 von den unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen den Finanzämtern gegenüber insgesamt 834 Mrd. DM als Einkünfte angegeben wurden, während das DIW und das Statistische Bundesamt für das gleiche Jahr übereinstimmend eine Gesamtsumme derartiger Einkünfte von 1.200 Mrd. DM errechnen. Nach Angaben des DIW geht aus der Steuerstatistik für 1986 hervor, daß 90% der gesamten Bruttolohn- und Gehaltssumme der abhängig Beschäftigten gemeldet wurde, von den Einkünften aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft sowie selbständiger Arbeit aber lediglich 55%. Anfang der Achtzigerjahre waren es noch 60%89. Bei den Angaben über Vermögen, das ja ebenfalls eine nicht unerhebliche Quelle von Einkommen darstellt, sind die Verhältnisse noch deutlicher: das in der Vermögenssteuerstatistik erfaßte, von allen natürlichen Personen zusammen deklarierte Gesamtvermögen belief sich 1983 auf 479 Mrd. DM, während die Deutsche Bundesbank für das gleiche Jahr allein ein Geldvermögen der privaten Haushalte von 1.800 Mrd. angibt. 1986 wurden den Finanzämtern gegenüber insgesamt 543 Mrd. Gesamtvermögen (darunter ganze 375 Mrd. DM Geldvermögen) "zugegeben", während das gesamte Geldvermögen in diesem Jahr in Wirklichkeit 2.336 Mrd. DM betrug.
Daneben beruht das "legale Herunterrechnen der Einkünfte"
im wesentlichen auf einer Vielzahl von Abschreibungsmöglichkeiten
bzw. "legalen Tricks, Verluste zu machen", die das zu versteuernde
Einkommen vor allem bei den "Besserverdienenden" kräftig
drücken91. Ein typisches Beispiel für die Möglichkeiten
zur Senkung des persönlichen Steuersatzes liefert die Zeitschrift
Wirtschaftswoche, deren Leserschaft sich hauptsächlich in den
obersten Einkommensregionen zu finden scheint92. In einem Artikel
zur geplanten Steuerreform wird offen eingeräumt, daß "die
derzeitigen Höchststeuersätze auf mehr oder weniger heruntergerechnete
Einkommen bezahlt werden", wobei die Praxis dieses "Herunterrechnens"
in einer Modellrechnung dargestellt wird (siehe Kasten).
Bemerkenswert ist neben der staatlich geförderten Anhäufung von
Privatbesitz die Tatsache, daß in den letzten vier Jahren des angenommenen
Zeitraums überhaupt keine Steuer mehr zu bezahlen ist. Das bedeutet,
daß dieses Ehepaar in keiner Einkommensteuerstatistik mehr erscheint,
höchstens noch unter den "Verlustfällen"! Übrigens:
der Gesamt-Steuersatz, bezogen auf alle Einkünfte dieser 10 Jahre,
beträgt stolze 8,5%! Es gibt allerdings viele, die nicht einmal so
viel zu entrichten haben.
Ähnlich der Wirtschaftswoche nutzen andere führende Zeitschriften
die bevorstehende Steuerreform dazu, ihre LeserInnen rechtzeitig auf (noch)
vorhandene "Angebote" zur Steuersenkung hinzuweisen. Unter dem
Titel "Wie zahlt man Null Steuern?" werden in Capital (Nr.
11/96) die lukrativsten Möglichkeiten aufgeführt: "Verlustzuweisungen
bis 125% und zweistellige Nettorenditen bei Schiffsbeteiligungen";
"Eine Rendite von 13,1% durch Sonderabschreibungen für Mietshäuser
in Ostdeutschland"; "Verlustzuweisung bei Beteiligung an einem
Immobilienfond" und "als ideale Kombination für Spitzenverdiener
(ab 300.000.- DM) Investitionen in den Umweltschutz in ostdeutschen Kommunen".
Das Wirtschaftsmagazin DM bemerkt in seiner Ausgabe vom November
96 (Titel: "Runter mit Ihrer Steuer. Strategien gegen Waigel")
zum Thema "geschlossene Immobilienfonds": "Fast alle wollen
die 50prozentige Sonderabschreibung für Investitionen in den neuen
Bundesländern mitnehmen,..." und bemerkt dazu, daß 1996
von Bundesbürgern "10 Mrd. DM in solche Fonds gesteckt werden"93.
DM-Kommentar zu diesem Sachverhalt: "Wirtschaftlich machen die meisten
Projekte wenig Sinn. Einzig Waigels Steuergeschenke sind der Grund für
diese Rekordjagd"94.
Eine Modellrechnung von Capital95 zeigt die Praxis
solcher Steuergeschenke: Ein verheirateter Anleger mit einem Jahreseinkommen
von 180.000 DM kauft ein Reihenhaus in Ostdeutschland für 395.000
DM. Bei einem Eigenkapitaleinsatz von 100.000 DM und 7,5% Kreditzinsen
auf die Restsumme, sowie 15.000 DM Aufwendungen für Instandhaltung
erhält er (neben 191.400 DM Mieteinnahmen; das entspricht einer monatlichen
Kaltmiete von 1595 DM) innerhalb von 10 Jahren - neben der Steuerfreiheit
der Mieteinnahmen - "Steuergeschenke" in Höhe von 151.000
DM96 (siehe Schaubild
13a). Der Staat schenkt ihm demnach 51% mehr, als er ursprünglich
eingesetzt hatte, nicht mitgerechnet die ihm zugute kommende Wertsteigerung
des Hauses, die in 10 Jahren weit über 100.000 DM ausmachen dürfte.
Würde dieses "Steuergeschenk" in Form eines Zuschusses zum
Kaufpreis den Mietern zur Verfügung gestellt, so könnten diese
das Wohnhaus - bei gleicher Belastung - selbst erwerben97.
Das Ausmaß dieser Steuergeschenke an MitbürgerInnen mit sehr
hohen Einkünften läßt sich - wie bereits erwähnt -
aus den amtlichen Steuerstatistiken nicht ermitteln. Die einzige derzeit
vorliegende offizielle Untersuchung zu diesem Sachverhalt findet sich in
einer Denkschrift des Landesrechnungshofes (RH) von Baden-Württemberg98,
in der stichprobenartig die Steuererklärungen von gutverdienenden
Steuerpflichtigen für die Jahre 1990 bis 94 analysiert wurden99.
Ergebnis der Untersuchung: Unter uns leben erstaunlich viele Leute mit
erstaunlich hohen Einkünften. Von den 3,88 Mio. Steuerpflichtigen
in Bad.-Württ. konnten sich in den Jahren 1990 bis 94 mehr als 100.000100
an Jahreseinkünften von mehr als 250.000 DM erfreuen101.
Mehr als ein Viertel davon haben die staatlichen Angebote zum Steuersparen
in erheblichem Umfang (mehr als DM 100.000 sog. "Verluste") wahrgenommen.
Für diese Minderheit von "Besserverdienenden" (0,7% aller
Steuerpflichtigen) stellt der RH fest: "Die effektive Belastung
der positiven Einkünfte ist erheblich niedriger, als die hohen formalen
Steuersätze erwarten lassen. Hochgerechnet haben 'steuertechnische
Verluste' landesweit zu einer Steuerminderung im Milliardenbereich geführt".
In konkreten Zahlen bedeutet das:
1. Wurden noch 1990 "nur" 17% der Einkünfte der "Besserverdienenden"
durch sog. "Verluste" vor dem Steuerzahlen gerettet, so stieg
dieser Anteil bis 1993 auf satte 54% an. Das bedeutet, daß nicht
einmal mehr die Hälfte der Einkünfte dieser Leute versteuert
wurde.
2. Der Umfang der Steuerausfälle, die ausschließlich aufgrund
der sog. "steuertechnischen Verluste" dieser kleinen Gruppe zugute
kam, stieg innerhalb von nur 5 Jahren auf das Vierfache an (siehe Schaubild
13b)102.
Ein Beispiel...(aus der Denkschrift des RH) Ein Steuerpflichtiger
mit Jahres-Einkünften in Höhe von 4,3 Millionen "investierte"
1994 13,6 Mio. DM in ein Mietshaus in den Neuen Ländern. Der
ihm zugewiesene "steuertechnische Verlust" führte dazu,
daß er in diesem Jahr keine Steuern zu bezahlen hatte, die
in den Jahren 92 und 93 bezahlten Steuern zurückerstattet bekam und
noch für die Folgejahre einen "Verlustvortrag" in Millionenhöhe
in Anspruch nehmen konnte.
Anm.: Dieser Mensch erscheint in den offiziellen Steuerstatistiken für
mindestens 3 Jahre unter den Verlustfällen; steuertechnisch gesehen
gilt er als "arm".
Allein für Baden-Württembergs Steuerpflichtige betrug der
Steuerverzicht demnach (bereits 1994) gut 3 Milliarden DM; hochgerechnet
auf die ganze Bundesrepublik dürften sich für 1994 Steuergeschenke
zugunsten dieser Minderheit von "Besserverdienenden" in Höhe
von mehr als 20 Mrd. DM allein aus "steuertechnischen Verlusten"
ergeben haben.
Sichtbar werden diese "Geschenke" in der Entwicklung des Anteils
der "Veranlagten Einkommensteuer, die (für ganz Deutschland)
innerhalb von 6 Jahren von 41 Mrd. DM im Jahr 1991 über 25,5 Mrd.
DM (1994) auf etwa 3 Mrd. DM (1997)103 gesenkt wurde104.
Ihr Anteil am gesamten Einkommensteuer-Aufkommen betrug 1990 noch mehr
als 14%; davon ist praktisch nichts mehr übrig geblieben (siehe Schaubild
13c)105. Gemeinden mit hohem Anteil an reichen Mitbürgern
durften bereits 1996 mehr ausbezahlen, als sie eingenommen haben106.
Konkrete Folgen
In einer Panorama-Sendung vom Oktober 97 wurde die Auswirkung dieser
Steuergeschenke an Reiche drastisch beschrieben: Der Leiter des Finanzamtes
von Bad Homburg erklärt, daß das Aufkommen der veranlagten.
Einkommensteuer innerhalb der letzten 7 Jahre nicht nur von 230 Mio. DM
auf Null gesunken ist; im Jahr 1996 mußte gar ausbezahlt werden108.
Der Grund dafür ist nicht etwa eine schwierige wirtschaftliche Situation
der entsprechenden Steuerpflichtigen. Im Gegenteil: Als Grund nennt der
Finanzamtsleiter die weit überdurchschnittliche Zahl von Leuten mit
weit überdurchschnittlichen Einkünften, die sich in dieser Gemeinde
vor den Toren Frankfurts niedergelassen haben.
Angesichts dieser Zahlen muß davon ausgegangen werden, daß
die Angebote zur Steuervermeidung in den Jahren nach 1994 noch verstärkt
in Anspruch genommen wurden, und so kann für 1996 und 97 von Steuerverlusten
in einer Größenordnung von weit mehr als 40 Mrd. DM jährlich
ausgegangen werden107.
Der Anteil der Lohnsteuer (an der gesamten Einkommensteuer) stieg im gleichen
Zeitraum um 13,5 Prozentpunkte109, was die Feststellung untermauert,
daß die abhängig Beschäftigten trotz steigender Arbeitslosigkeit
und sinkender Realeinkommen zunehmend zur Finanzierung öffentlicher
Aufgaben herangezogen, die Reichen dagegen, wie auch die Konzerne (die
Körperschaftssteuer ging anteilsmäßig ebenfalls deutlich
zurück), trotz stetig steigender Einkünfte bzw. Gewinne aus ihrer
Verantwortung für die Allgemeinheit fast vollständig entlassen
wurden.
4.2. Reichtumsverteilung auf Haushaltsgruppen
Von Bedeutung ist angesichts der wachsenden Zahl von Leuten mit hohen
und sehr hohen Einkommen auch die Frage, welche Gruppen der Bevölkerung
hauptsächlich an diesem Anstieg teilhaben. Deutliche Hinweise hierzu
enthält bereits der Vergleich der Gesamt-Einkommensentwicklung von
abhängig Beschäftigten und Selbständigen bzw. BesitzerInnen
von Geldvermögen. Genaueren Aufschluß über den unterschiedlichen
Anteil am Zuwachs von gesellschaftlichem Reichtum geben die Schaubilder
14a und 14b.
Dargestellt ist einerseits die absolute Höhe des durchschnittlichen
verfügbaren110 Haushaltseinkommens verschiedener Bevölkerungsgruppen111
im Jahr 1996 (bzw. 1994112), eingeteilt nach der Hauptquelle
ihrer Einkünfte113; andererseits der reale (inflationsbereinigte114)
Anstieg der durchschnittlichen verfügbaren Haushaltseinkommen zwischen
1980 und 96 (bzw. 94) in Prozentpunkten.
Nach dieser Übersicht gibt es nur eine Gruppe von "Gewinnern",
die weit über dem Durchschnitt am Wachstum des Reichtums beteiligt
wurden: die Haushalte von Selbständigen. Der reale Anstieg
der Einkommen je Haushalt liegt bei den anderen Gruppen mehr oder weniger
deutlich unter dem Durchschnitt aller Haushalte. Zu beachten ist, daß
die Haushalte von ArbeiterInnen in den letzten 16 Jahren real fast
keinen Zuwachs zu verzeichnen haben, während die Arbeitslosen und
Landwirte in dieser langanhaltenden Phase steigenden Reichtums sogar ein
Absinken ihrer verfügbaren Mittel verkraften mußten.
Für die Einkommensverhältnisse im Jahr 1994 läßt sich
außerdem feststellen: die 1,7 Mio. Haushalte von Selbständigen
verfügten insgesamt über ein verfügbares Monatseinkommen
von 28 Mrd. DM. Damit hatten sie fast so viel zur Verfügung wie alle
6,94 Mio. Angestellten-Haushalte zusammen (37,9 Mrd. DM) und mehr als alle
5,93 Mio. Haushalte von ArbeiterInnen (26,4 Mrd. DM). Ein Vergleich mit
den 1,2 Mio. Haushalten von Arbeitslosen (insgesamt 3,1 Mrd. DM) erübrigt
sich fast115.
Wer nun meint, die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern erscheine zu
kraß aufgrund mangelnder Differenzierung innerhalb einzelner Gruppen,
findet sich bei genauerem Hinsehen mit dem Gegenteil konfrontiert. So werden
unter "Selbständige" sowohl all jene mitgerechnet, die in
zunehmender Zahl gezwungenermaßen aus Angestelltenverhältnissen
heraus in den Status von SubunternehmerInnen ("Scheinselbständige")
gedrängt wurden, als auch die ebenfalls steigende Zahl von Menschen,
die ohne Aussicht auf bezahlte Arbeit "ihr Glück" in irgend
einer Art von selbständiger Dienstleistung versuchen116.
Nicht zu vergessen die große Zahl von kleinen Familienbetrieben,
die "gerade so über die Runden kommen". Wäre es möglich,
die überaus niedrigen Einkommen dieser - eigentlich der Verliererseite
Zugehörenden - herauszurechnen, und ebenso die "negativen Einkommen"
derjenigen, die (z.B. in den ersten Jahren nach Eröffnung einer Zahnarztpraxis
oder aufgrund der bereits beschriebenen Technik des "Herunterrechnens")
rechnerische Verluste ausweisen, würde sich die Ungleichverteilung
noch wesentlich deutlicher zeigen.
Umgekehrt wäre bei den Daten der anderen Gruppen zumeist eine Korrektur
nach unten angesagt. So gibt es auch unter den Angestellten viele, deren
Einkommen weit über dem Durchschnitt einzuordnen ist und zudem in
den letzten Jahren überdurchschnittlich wuchs. Managergehälter
beginnen nun mal bei weit mehr als 100.000.- DM Jahreseinkommen und noch
manch andere SpitzenverdienerInnen beziehen ihr Geld als Angestellte117.
In der Realität liegen, so das Fazit, die Verhältnisse noch viel
weiter auseinander, als es diese Schaubilder ausdrücken.
C: Die Kehrseite wachsenden Reichtums
Zu einem Überblick über die Entwicklung der letzten Jahre gehört unverzichtbar die Beschäftigung mit der Kehrseite stetig wachsenden Reichtums: der zunehmenden Armut immer breiterer Schichten unserer Gesellschaft. Ohne Anspruch, das Problem auch nur annähernd vollständig beschreiben zu können, sollen im folgenden einige markante Veränderungen - die "untere" Hälfte der Bevölkerung betreffend - dargestellt werden. Aus Gründen der Vergleichbarkeit mit der vorausgegangenen Beschreibung der Reichtumsentwicklung werden auch hierbei Zahlen die Hauptrolle spielen, obwohl sich gerade Armut in vielen, sehr differenzierten Formen darstellt und nicht allein an der Menge des zur Verfügung stehenden Geldes festzumachen ist118.
Ein Grund wachsender Verarmung liegt in der Tatsache, daß
zunehmend auch Menschen, die aus irgendeiner Tätigkeit oder aus anderen
Quellen (abhängige Arbeit, Rente, Arbeitslosenunterstützung oder
auch selbständige Arbeit) regelmäßige Einkünfte beziehen,
in Armut abgleiten119. Einen Hinweis darauf, daß ein beträchtlicher
Anteil der angeblich "sozial Abgesicherten" in keiner Weise vom
Anstieg gesellschaftlichen Reichtums profitierte, enthält bereits
Schaubild 14b. Es zeigt,
daß z.B. die Haushalte von Arbeitslosen im beschriebenen Zeitraum
einen Rückgang ihrer Realeinkommen um fast 5% verkraften mußten,
Landwirte sogar noch mehr. Darüber hinaus gibt es unter den Berufstätigen
eine wachsende Zahl von sog. "Working Poor", also von Leuten,
die aus ihrer bezahlten Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen mehr
beziehen (und zum Teil trotz bezahlter Anstellung oder auch selbständiger
Tätigkeit sozialhilfeberechtigt sind). Einen nicht unerheblichen Teil120
davon machen die sog. "geringfügig Beschäftigten"121
aus, die neben BeamtInnen und Selbständigen zu den nicht-sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten zu zählen sind (Schaubilder
15 a und b). Während
die Gesamtzahl der Beschäftigten in Westdeutschland von 1990 bis 94
nur kleineren Schwankungen unterlag122 und im Osten stark zurückging123,
ist in beiden Teilen ein deutlicher Anstieg des Anteils der nicht-sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsverhältnisse zu verzeichnen. Im Westen läßt sich
dieser Anstieg (von 25,9 auf 30,1%) fast vollständig durch die wachsende
Zahl der "geringfügig Beschäftigten" erklären.
1994 fanden sich (gegenüber 1990) hier 46% (das sind 1.034.000 Menschen)
mehr in solchen ungesicherten Arbeitsverhältnissen wieder, die zunehmend
neben Einzelhandelskonzernen124 von Firmen im produzierenden
Sektor zur "Kostensenkung" eingerichtet werden125.
Im Osten hat sich im gleichen Zeitraum der Anteil dieser "Arbeitsverhältnisse"
in 4 Jahren von 3,1% auf 6% nahezu verdoppelt, wobei der Anstieg in absoluten
Zahlen lediglich 47% betrug (das sind 118.000 Menschen), da die Gesamtzahl
der Beschäftigten im gleichen Zeitraum deutlich zurückging126.
In den Jahren seit 1994 hat sich die in den Schaubildern
15a und b dargestellte Situation weiter
dramatisch verschärft. Seriöse Schätzungen127
gehen von einer Verdoppelung der Zahl der sog. "610-Mark-Jobs"
seit 1987 (2,8 Mio.) auf 5,6 Mio. (1996) aus128, und auch das
Herausdrängen von zuvor festangestellten Beschäftigten in den
absolut ungesicherten Status von (Schein-)selbständigen hat Hochkonjunktur.
Über eine halbe Million Menschen dürften inzwischen davon betroffen
sein129. Zusammen mit der steigenden Zahl von Arbeitslosen führte
dies zu einem Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze
seit 1987 um 2 Millionen.
2. Arbeitslose und EmpfängerInnen von Sozialhilfe
Arbeitslosigkeit ist eine der Hauptursachen130 für die
Verarmung von Menschen, der Bezug von Sozialhilfe ein wesentliches Indiz
für das "in Armut leben". Deshalb sind die in den Schaubildern
16, 17 und 18 dargestellten Entwicklungen der Anzahl von Arbeitslosen
bzw. SozialhilfeempfängerInnen und ihren Familien (Haushalte) ein
mehr als deutlicher Hinweis auf die Zunahme von Armut. Erschreckend genug
sind diese Zahlen, die (im Gegensatz zu der Anzahl von BezieherInnen hoher
und extrem hoher Einkommen) Jahr für Jahr der Öffentlichkeit
detailliert bekanntgegeben werden. So stieg die Zahl der (offiziell) Arbeitslosen
seit 1980 in Westdeutschland um 240% auf mehr als 3 Mio. (Schaubild
16), im Osten in 6 Jahren um 40% auf knapp 1,4 Mio. Menschen131.
Bei den EmpfängerInnen von Sozialhilfe (Schaubild
17) ist innerhalb von 8 Jahren (von 1985 bis 93) ein Anstieg um 52%,
in Ostdeutschland in 3 Jahren (90 bis 93) ein Zuwachs um 460% festzustellen132.
Noch deutlicher wird die Entwicklung bei der Betrachtung der Haushalte133,
deren hauptsächliche oder ausschließliche Einnahmequelle Arbeitslosenunterstützung
(Schaubild 18a), bzw. Sozialhilfe
(Schaubild 18b) darstellt. Die Zahl der Arbeitslosenhaushalte
stieg in 14 Jahren um 315% auf fast 1,2 Millionen134, die der
EmpfängerInnen von Sozialhilfe um 141% auf 721.000135 (beides
nur Westdeutschland). Im Osten lebten 1993 280.000 Haushalte hauptsächlich
von Sozialhilfe, was einem Anstieg um 44% innerhalb von nur 2 Jahren entspricht136.
Am stärksten betroffen von der wachsenden Armut sind Kinder. Allein
von 1994 auf 1995 hat sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen
unter 18 Jahren um 10,5% (auf fast eine Million137) erhöht;
knapp die Hälfte davon sind jünger als sieben Jahre138.
Auffällig ist beim Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre neben
dem starken Anstieg der Anzahl der auf "Versorgungsleistungen"
(Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe) angewiesenen Menschen
die Tatsache, daß bei den Arbeitslosen noch gewisse Schwankungen
zu beobachten sind, bei den EmpfängerInnen von Sozialhilfe jedoch
nicht. Während die Arbeitslosigkeit - im Westen zumindest - in der
Zeit der sog. "Wiedervereinigung" vorübergehend zurückging
(um danach allerdings um so stärker wieder anzusteigen), wird das
Anwachsen der Zahl von Menschen, die Sozialhilfe benötigen, offensichtlich
selbst durch Konjunkturschwankungen nicht mehr beeinflußt.
Doch auch diese Zahlen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen noch als Beitrag
zur Verschleierung von Armut. So werden z.B. bei der Berechnung der Arbeitslosenquote
von den gezählten Arbeitslosen die ausgewiesenen "offenen Stellen"
abgezogen, die in ABM und Fortbildungsmaßnahmen befindlichen Menschen
nicht mitgezählt, und all jene außer acht gelassen, die nach
amtlichen Maßstäben139 keine Arbeitslosen sind140.
Das ganze Ausmaß dieser sog. "stillen Reserve" läßt
sich nur schätzen. Sicherlich nicht zu hoch gegriffen sind Zahlenangaben,
die von der Bundesregierung in der Antwort auf eine große Anfrage141
veröffentlicht wurden. Danach142 stieg diese "Stille
Reserve" von knapp 1,2 Mio. (1985) in 11 Jahren auf über 3 Mio.
Menschen (1996) an. Schaubild
16a zeigt, wie sich die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen bei Berücksichtigung
dieser Daten wirklichkeitsnäher darstellt143.
Auch bei der Sozialhilfe werden "selbstverständlich" nur
diejenigen gezählt, die etwas erhalten. Verständlicherweise,
wird doch die Sozialhilfestatistik mit ihren enormen Steigerungswerten
vor allem als "bedrohlicher Kostenfaktor" gesehen144.
Unter denen allerdings, die sich ernsthaft mit diesem Problem und den betroffenen
Menschen beschäftigen, herrscht Einigkeit über eine gewaltige
Dunkelziffer, die zahlenmäßig zwischen 33 und 50% geschätzt
wird145. Darunter fallen in der Hauptsache all jene (vor allem
alte) Menschen, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diesen
aber aus "Stolz", "Scheu" oder wegen "Nicht-Bescheid-Wissen"
nicht in Anspruch nehmen (können)146 sowie ein Teil der
(inzwischen auf fast eine Million angestiegenen147) Obdachlosen.
Die Frage, ob das gewaltige Anwachsen der Zahl von Unterprivilegierten
(Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen und sonstige in Armut Lebende)
in unserer Gesellschaft von Politik und Wirtschaft absichtlich herbeigeführt
wurde, um dadurch den Reichtum einer bestimmten Schicht zu vergrößern,
oder ob die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einfach als "Nebenprodukt"
einer ausschließlich auf die Interessen der Reichen ausgerichteten
Politik billigend in Kauf genommen wird, ist strittig und kann diskutiert
werden. Offensichtlich jedoch ist der parallele Verlauf der Entwicklungen
über einen Zeitraum von (mindestens) 17 Jahren. Es gab keinen Stillstand.
Alles ist in Bewegung, doch nicht im Auf und Ab wirtschaftlicher oder politischer
Schwankungen. Alles ist gewachsen, stetig, und größtenteils
in atemberaubendem Tempo: das private Geldvermögen und die Zahl der
SozialhilfeempfängerInnen genauso wie das Einkommen der zuvor schon
Reichen (und auch ihre Zahl) und die Zahl der Arbeitslosen. Gestiegen ist
die finanzielle Belastung der abhängig Beschäftigten genauso
wie die Steuergeschenke an die Reichen und die daraus resultierenden Defizite
und Schuldenberge der öffentlichen Haushalte.
Es ist ein Wachstum an den Rändern der Gesellschaft, einige Millionen
oben, viele Millionen unten, in der "Mitte" wird es enger. Ob
mit dem Begriff "Zwei-Drittel-Gesellschaft", auf die wir zuzusteuern
scheinen, die Situation korrekt beschrieben wird, ist fraglich. "Zwei-Drittel-Gesellschaft"
sieht zu sehr nach einer Grenze aus, an der die Entwicklung zum Stillstand
kommen könnte. Darauf gibt es keinen Hinweis in dem, was hier untersucht
wurde. Dagegen deutet vieles darauf hin, daß der (angeblich notwendige)
"Umbau des Sozialstaats" in Wirklichkeit grundsätzlicher
zu verstehen ist. Ziel ist ein "Umbau der Gesellschaft", der
allerdings schon längst in Angriff genommen ist. Grundlage dieses
Umbaus scheint die "Erkenntnis", daß in Deutschland (wie
schon seit langem in den Ländern der sog. 3. Welt) Millionen von Menschen
"überflüssig" sind. Menschen, die nicht mehr zum Gewinn-Erwirtschaften
gebraucht werden, Menschen als reine "Kostenfaktoren für Staat
und Wirtschaft", derentwegen die Rendite des eingesetzten Kapitals
nicht in gewünschte Höhen getrieben werden kann, Menschen, die
man nicht einmal mehr zum Ausbeuten braucht. Der Anstieg der Zahl der "Überflüssigen"
wird in Kauf genommen, da unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen
die daraus entstehenden Kosten (durch ständige Kürzungen) in
Grenzen gehalten oder denen aufgebürdet werden können, die (aus
Angst um ihren Arbeitsplatz) zu fast jedem Zugeständnis bereit sind,
um nicht ebenfalls ins Elend abzusinken. "Die Zahl derjenigen, die
von einem menschenwürdigen Dasein in Zukunft ausgeschlossen sind,
wird einen historischen Höchststand erreichen. Die Grenzen zwischen
Elend und Wohlstand werden mitten durch die Metropolen, nicht mehr, wie
noch vor ein paar Jahren an ihren Rändern verlaufen"148.
1. Trotz allem: Geld ist genug da
Ergänzend, zum Abrunden des Gesamteindrucks der dargestellten Entwicklungen,
sei noch ein vergleichsweise kleines Beispiel von Wachstum in den letzten
Jahren aufgezeigt. Es macht deutlich, daß offensichtlich immer noch
ohne große Probleme Milliardenbeträge locker gemacht werden
können, wenn die Bundesregierung glaubt, dadurch ihre politischen
Ziele erreichen zu können (Schaubild
19 und 20)149.
Mit Stolz läßt Herr Kanther im Oktober 95 in seiner Informationspostille
"Innenpolitik" verkünden, daß es trotz leerer Kassen
möglich war, den Bundesgrenzschutz personell und finanziell massiv
aufzurüsten (um 59% bzw. um 111% innerhalb von 5 Jahren!). Das einzige
Ziel dieser Aufrüstung, zu der auch jede Menge hochmoderner technischer
Ausrüstung gehört, wird dabei offen benannt. Es geht um das Abfangen
von Menschen, die in die "Festung Deutschland" einzudringen versuchen.
Dafür ist offensichtlich genügend Geld vorhanden, genauer 2,74
Mrd. DM, also etwa DM 70.000.- für jeden der 31.000 im Jahr 1993 aufgegriffenen
Flüchtlinge. Wieviele zusätzliche LehrerInnen beispielsweise
mit diesem Geld finanziert werden könnten, wird nicht erwähnt.
Es ist unwahr, daß wir uns die Aufrechterhaltung der sozialen
Errungenschaften nicht mehr leisten können.
Richtig ist vielmehr:
Wir können und wollen uns das alles und noch manches andere nicht mehr leisten, wenn wir wollen, daß alle Menschen die Möglichkeit zu einem lebenswerten Leben erhalten.
Hoffnungen auf ein Ende (oder wenigstens eine Abschwächung) der
in diesem Artikel beschriebenen Entwicklungen von Reichtum und Armut in
der Bundesrepublik scheinen angesichts bereits getroffener und geplanter
politischer Entscheidungen nicht angebracht. Vielmehr deutet vieles darauf
hin, daß Bundesregierung und Wirtschaft eine Beschleunigung des "Umbaus
der Gesellschaft" anstreben, begleitet von einem ständigen Ausloten
der "Schmerzgrenze" der Betroffenen. Offensichtliches Ziel aller
Maßnahmen ist die massive Senkung der "Kosten" für
Wirtschaft ("Arbeitskosten") und Staat ("soziale Kosten",
wie Sozialhilfe, Leistungen der Sozialversicherungen und vieles andere
mehr) zugunsten steigender Gewinne der Unternehmen150 und somit
steigender Einkommen derer, die von diesen Gewinnen profitieren151.
Parallel dazu sollen weitere Steuererleichterungen für Unternehmen
und Privatpersonen durchgeführt werden.
Die beabsichtigten Maßnahmen lassen sich in 3 (sich gegenseitig beeinflussende)
Teilbereiche aufgliedern:
1.1. Senkung der "Arbeitskosten"
DIHT-Präsident Stihl formulierte (in einem SWF-Interview am 8.10.96)
die Pläne für die nächsten Jahre so: "Die Arbeitskosten
müssen für die gesamte Wirtschaft um 20% gesenkt werden."
Südwestmetall-Chef Zwiebelhofer bestätigt diese Zielvorgabe in
einem Zeitungsinterview152 unter der Überschrift: "Die
Kosten müssen drastisch reduziert werden". Auch Zwiebelhofer
spricht von einer Senkung um 20%, ohne auch nur den Versuch einer Begründung
für diesen "Kürzungszwang" zu machen. Erreicht werden
soll die "Kostensenkung" durch Entlassungen, Kürzungen der
Einkünfte der Beschäftigten und durch eine drastische Verringerung
der Lohnnebenkosten. Vor direkten Lohnsenkungen schrecken die Betriebe
im Moment noch zurück. Dafür werden alle anderen Möglichkeiten
genutzt, um die Bezüge der Beschäftigten herunterzuschrauben:
Sonderleistungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld werden gekürzt153,
übertarifliche Bezahlung von der Beurteilung durch Vorgesetzte abhängig
gemacht und Neueinstellungen nur noch in niedrigeren Lohngruppen vorgenommen154.
In vielen Firmen werden die Belegschaften massiv unter Druck gesetzt mit
dem Ziel, betrieblichen Vereinbarungen zur Abschaffung bisher gewährter
Leistungen und Arbeitszeitverlängerungen zuzustimmen.
Als gefügige Handlangerin erweist sich die Bundesregierung; zum einen
durch die Verbreitung der "Botschaft vom Kürzungszwang",
zum andern in Form von praktischen politischen Entscheidungen. Dazu nur
ein Beispiel: Zwiebelhofer (s.o.) schätzt, daß bereits ein halbes
Prozent der angestrebten 20%igen Kostensenkung durch die Umsetzung des
am 1.10.96 in Kraft getretenen Gesetztes zur Reduzierung der Lohnfortzahlung
bei Krankheit erreicht werden dürfte, und DIHT-Präsident Stihl
schätzt die jährliche Entlastung für die Unternehmen aufgrund
der (betrieblichen) Regelungen zur Vermeidung der Kürzung der Lohnfortzahlung
im Krankheitsfall auf 20 Mrd. DM155.
Welche Folgen eine derartig hohe "Reduzierung der Arbeitskosten"
haben wird, läßt sich leicht vorhersehen. Nachdem die stetigen
Kostensenkungen für Unternehmen in den letzten 17 Jahren nicht zu
weniger, sondern zu immer mehr Arbeitslosen geführt haben, ist nicht
zu erwarten, daß sich plötzlich durch die gleichen Maßnahmen
genau das Gegenteil, nämlich eine Abnahme der Arbeitslosigkeit, einstellt.
Viel wahrscheinlicher dagegen ist ein massiver Rückgang der Gesamtsumme
aller Einkünfte aus unselbständiger Arbeit (durch Entlassungen
und Lohnkürzungen) und daraus resultierend, (neben einem für
die Volkswirtschaft schädlichen Kaufkraftverlust) ein drastischer
Rückgang des direkten und indirekten Steueraufkommens (Lohnsteuer
bzw. Mehrwertsteuer156 u.a.). Diese Entwicklung hat bereits
im Jahr 1997 dramatische Züge angenommen. Das gesamte Steueraufkommen
wird um mindestens 14 Mrd. DM niedriger ausfallen als 1996157.
Alfred Boss (vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel) vermerkt dazu:
" Trotz eines Wirtschaftswachstums von 2,4% (das sind fast 100 Mrd.
DM Zuwachs; Anm. d. Verf.) sinkt das Steueraufkommen. Das hat es noch nie
gegeben."158
Darüber hinaus führt eine Verringerung der Lohnsumme zwangsläufig
zu einem Rückgang der insgesamt geleisteten Beiträge (sowohl
Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberanteil) an die Sozialversicherungen.
1.2. Kürzungen der "sozialen Kosten"
Dieser zu erwartende Rückgang der Beitragssumme wird, zusammen
mit der angestrebten Senkung der Lohnnebenkosten (dadurch werden die Einnahmen
der Sozialkassen zusätzlich verringert) zu gewaltigen Einnahmeausfällen
bei Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherungen führen159.
Die Bereitschaft, endlich die Wohlhabenden und GroßverdienerInnen
(wieder) angemessen am Steueraufkommen zu beteiligen, um solche Ausfälle
solidarisch ausgleichen zu können, ist bei der jetzigen Bundesregierung
nicht in Sicht160 und so wird auch diese Entwicklung zu weiteren,
noch massiveren, Leistungskürzungen für Arbeitslose161,
Kranke und RentnerInnen162 und, wie das Beispiel "Gesundheitsreform"
zeigt, zwangsläufig zu noch mehr Arbeitslosen führen.
Auch zum Ausgleich der Steuerausfälle sind Kürzungen bei denen
beabsichtigt, die nicht gerade zu den Gewinnern des wachsenden Reichtums
zu zählen sind. So kündigte beispielsweise Graf Lambsdorf in
einem Fernsehinterview (im Oktober 1996) weitere Kürzungen der Sozialhilfe
an163; andere Regierungspolitiker sprechen von der "Notwendigkeit"
zur Verschärfung und konsequenten Anwendung des sog. "Lohnabstandsgebotes".
Durch diese Maßnahme soll die bisher angewendete "Warenkorbmethode"
zur Berechnung des Sozialhilfesatzes endgültig abgeschafft und durch
eine Obergrenze ersetzt werden, die mindestens 15% unter den Nettoeinkünften
der untersten Lohngruppen liegen muß. Neben direkt wirksamen Kürzungen
werden - bei Anwendung dieser Regelung - die absehbaren Reallohnverluste
abhängig Beschäftigter in Zukunft automatisch eine weitere Verringerung
der Sozialhilfeleistungen zur Folge haben.
In diesem Zusammenhang erscheint auch das Versprechen von Bundeskanzler
Helmut Kohl, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbieren zu wollen,
in einem anderen Licht. Wer Arbeitslosigkeit lediglich als einen Kostenfaktor
für die Wirtschaft betrachtet, hat natürlich ein Interesse, die
Zahl der Arbeitslosen zu senken. Davon, den Arbeitslosen existenzsichernde
Jobs zur Verfügung stellen zu wollen, ist allerdings nicht die Rede164.
Im Gegenteil: unterhalb der Armutsgrenze sollen die Menschen beschäftigt
werden. So fordert beispielsweise das Institut der deutschen Wirtschaft
(IWD), "den Niedriglohnsektor hierzulande tarifpolitisch zu öffnen
und auszubauen."165 Nach den Vorstellungen des IWD könnten
und sollten 4,7 Millionen Arbeitsplätze im Einkommensbereich zwischen
39 und 55% des Durchschnittseinkommens aller Beschäftigten (bei 50%
liegt die offiziell anerkannte Armutsgrenze; Anm. d. Verf.) geschaffen
werden166. "Die entsprechende Zahl", so das IWD weiter,
"ließe sich aus dem Kreis der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger
und geringfügig Beschäftigten allemal rekrutieren."167
Bezeichnenderweise wird weder die sich abzeichnende weitere Zunahme
der Verschuldung öffentlicher Haushalte noch die wachsende Verarmung
von Millionen von Menschen zum Anlaß genommen, durch eine gerechtere
Steuerbelastung die Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu sichern.
Im Gegenteil: Weitere Steuererleichterungen werden gewährt bzw. in
Aussicht gestellt. Zwei aktuelle Beispiele sollen im folgenden kurz angesprochen
werden: Am 15. Oktober 1996 einigten sich CDU und SPD auf die Abschaffung
der Vermögenssteuer ab dem 1.1.97168. In nackten
Zahlen bedeutet dies eine weiteres Loch (in den Länderkassen169)
von über 9 Mrd. DM. Angesichts der hohen Freibeträge bei der
Erhebung dieser Steuer kommt diese Entscheidung nur denen zugute, die größere
Vermögenswerte besitzen170. Zum (teilweisen) Ausgleich
der Mindereinnahmen werden größere Teile der Gesellschaft herangezogen.
Beschlossen wurde:
· Die Anhebung der Grunderwerbssteuer von 2 auf 3,5%. (erwartete
Mehreinnahmen: 5,25 Mrd. DM)
· Erhöhung der Erbschaftssteuer um 2 Prozentpunkte (erwartete
Mehreinnahmen: 2,15 Mrd. DM)171.
Eine zusätzliche, noch größere Lücke in den öffentlichen
Finanzen wird die nächste große Steuerreform mit sich
bringen. Schmackhaft gemacht wird sie uns u.a. durch die Ankündigung,
endlich die ausufernden Absetzungsmöglichkeiten der "Besserverdienenden"
zu begrenzen und damit mehr "Steuergerechtigkeit" herzustellen.
Angesichts dieser hoffnungsvoll klingenden Absichtserklärung ist ein
genauerer Blick auf die geplanten Steuerrechtsänderungen angesagt.
Im wesentlichen besteht die (zum 1.1.99 geplante172) geplante
Steuerreform (in der von der Bundesregierung im Januar 1997 vorgelegten
Form) aus 2 Teilen:
Auf der einen Seite sollen die Steuersätze gesenkt, der Spitzensteuersatz173
um 14% (von 53 auf 39%)174 und der Eingangssteuersatz um 10,9%
(von 25,9 auf 15%)175 werden. Dieser niedrige Wert von 15% ist
allerdings nur für einen sehr kleinen Bereich extrem niedriger Einkommen
vorgesehen; schon bei einem Jahreseinkommen von 18.000 DM ist jede zusätzlich
verdiente Mark mit (mindestens) 22,5% zu versteuern, was einer Absenkung
gegenüber dem alten Tarif von weniger als 5% entspricht176.
Zusammen mit massiven Senkungen der Spitzensteuersätze der Körperschaftssteuer177
ergibt dies eine Brutto-Steuerentlastung von insgesamt 81 Mrd. DM, was
einem Verzicht auf ein Viertel (bei der Körperschaftssteuer über
die Hälfte178) der bisherigen direkten Steuereinnahmen179
gleichkommt. Etwa die Hälfte dieser Summe180 wird (aufgrund
der wesentlich stärkeren Absenkung der oberen Steuersätze) den
BezieherInnen hoher Einkommen zugute kommen.
Auf der anderen Seite wird die Bemessungsgrundlage verbreitert, um (einen
Teil der) Steuerausfälle auszugleichen. Dies bedeutet in der Praxis
Streichungen oder Kürzungen von Absetzungsmöglichkeiten bzw.
Steuervergünstigungen. Keine Tabus dürfe es beim Schließen
von Schlupflöchern zur Steuervermeidung geben, wurde uns kundgetan,
und tatsächlich fanden sich noch im Oktober '96 unter den Streichvorschlägen
einige längst überfällige Sachverhalte, wie beispielsweise
die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von
Immobilien181 und Aktien182 oder Möglichkeiten
zu übermäßigen Verlustzuweisungen (z.B. bei Schiffs- und
Flugzeugbeteiligungen)183. Eine weitgehende Verwirklichung solcher
Vorschläge (was angesichts heftigster Gegenwehr der davon in erster
Linie Betroffenen von Anfang an angezweifelt werden durfte184),
wäre in der Tat ein kleiner Schritt in die richtige Richtung gewesen.
So würde laut Capital (vgl. Seite 17, Fußnote 57) allein
die Besteuerung von Spekulationsgewinnen bei Aktien und Immobilien jährlich
um die 50 Mrd. DM zusätzliche Steuereinnahmen bringen.
Nur "Restbestände" dieser Vorschläge fanden sich nun
im vorliegenden Reformpaket der Bundesregierung185 wieder, was
mit dazu führte, daß lediglich 36 bis 38 Mrd. DM (knapp die
Hälfte der 81 Mrd. DM Gesamtentlastung) durch Streichungen von Steuervorteilen
ausgeglichen werden sollen. Tatsächlich sind es nicht in erster Linie
die BezieherInnen hoher Einkommen, welche die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
zu tragen haben. Ein Blick auf die geplanten Maßnahmen zeigt, daß
abhängig Beschäftigte (vor allem in niedrigen Einkommensgruppen)
von den Einsparungen überproportional betroffen sind. Offensichtlich
fallen unseren Politikern beim Thema "Einsparungen" bevorzugt
die nicht übermäßig gut gestellten Mitmenschen ein. Unter
anderem wurde beschlossen:
Was in einzelnen Fällen an geringfügige Verringerung des verfügbaren Einkommens herauskommen wird, soll für die Gesamtheit der BezieherInnen hoher und höchster Einkommen ein weiteres großes "Steuergeschenk" werden (Vgl. das "Ergebnis" der letzten Reform - die bekanntlich von der gleichen Regierung durchgeführt wurde -, wie es in Schaubild 9 dargestellt ist). Denn soweit sollen die Steuervorteile der Reichen gerade nicht abgebaut werden, daß etwas übrigbliebe zum (wenigstens andeutungsweisen) Abbau des in den letzten Jahren stark gewachsenen Ungleichgewichts innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Im Gegenteil: Der vollständige Ausgleich der beträchtlichen Steuerausfälle war in dieser Vorlage nicht beabsichtigt. Vielmehr wurde eine Nettoentlastung von 30 Mrd. DM in Aussicht gestellt (die restlichen 15 Mrd. DM sollten von "der Allgemeinheit" in Form einer erhöhten Mehrwertsteuer aufgebracht werden).
Abschließend zum Thema Steuerreform (die im Moment allerdings
auf Eis liegt)189 sei darauf hingewiesen, daß sich auch
die aufgrund der sog. "Nettoentlastung" in den öffentlichen
Haushalten ergebende Finanzlücke nicht von alleine schließt.
Eine Vorstellung von der Größenordnung dieses ursprünglich
geplanten "Steuergeschenks" in Höhe von 30 Milliarden DM190
erlaubt beispielsweise ein Vergleich mit der Gesamtsumme der ausgezahlten
Arbeitslosenunterstützung: Im Jahr 1994 erhielten (in Westdeutschland)
1,9 Millionen Menschen Arbeitslosenunterstützung von insgesamt 36,2
Mrd. DM191.
Die wahrscheinlichste Gegenfinanzierung (neben weiteren "Sparmaßnahmen")
ist eine zusätzliche drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer192.
Dies hätte zur Folge, daß (siehe Schaubild
4) Gutverdienende (auf ihr Einkommen bezogen) nur halb so stark zur
Kasse gebeten werden (da sie im Schnitt nur die Hälfte ihres Einkommens
für privaten Verbrauch aufwenden) wie Arme, und daß die Finanzierung
der Steuergeschenke (wieder einmal) von denen mitgetragen werden muß,
die überhaupt keinen Vorteil davon haben, weil sie als SozialhilfeempfängerInnen,
Arbeitslose oder RentnerInnen bisher keine Steuern bezahlen. Daß
unter der Überschrift "Steuererleichterungen" für einen
großen Teil dieser Menschen (indirekte und direkte193)
Steuern erhöht und neue Steuern eingeführt werden, ist bezeichnend
für die ganze Reform und für die Grundzüge der Politik,
zu deren Durchsetzung auch diese Planungen dienen sollen.