FREIE UNIVERSITÄT BERLIN INSTITUT FÜR SOZIOLOGIE


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Mitteilungen aus dem Schwerpunktbereich
METHODENLEHRE
Nr. 23












Eike Durin









Ist die zukünftige Einschätzung des
Kapitalismus einer der Grundsteine
des Weberschen Werkes?















Berlin, Juli 1990

ISSN 0931-0886



Privatadresse: Eike Durin, Goethestraße 79,

D-1000 Berlin 12





Ist die zukünftige Einschätzung des Kapitalismus einer der
Grundsteine des Weberschen Werkes ?








Zusammenfassung






Im nach 1904 nicht wieder veröffentlichten "Geleitwort" zur Übernahme des "Archivs für soziale Gesetzgebung und Statis­tik" legen die drei neuen Herausgeber, unter ihnen Max We­ber, dar, welche "Politik" sie im und mit dem "Archiv" ver­folgen wollen. Bedeutsam sind u.a. die Aussagen zur Ent­wicklung des Kapitalismus und die Aufgaben, die die "Wis­senschaft" in diesem Zusammenhang der revolutionären Umge­staltung übernehmen soll. Es wird versucht zu zeigen, daß zwischen der Einschätzung der zukünftigen Chancen des Kapi­talismus und dem Gesamtwerk Max Webers eine enge Verknüp­fung besteht. Hier soll diese Verknüpfung zu den Teilen seines Werkes hergestellt werden, bei denen sie vermutlich am wenigsten erwartet wird, bei seinen wissenschaftstheore­tischen Aufsätzen. Das "Geleitwort" besitzt m.E. jedoch über die hier behandelte Frage hinaus eine zentrale Rolle im Weberschen Werk, da in ihm unter anderem z.B. die Rolle der Wissenschaft mit mehreren gesellschaftlichen Problem­kreisen verknüpft wird.

Im Jahre 1904 übernahmen Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé das "Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik" unter neuem Namen "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" im 19. Jahrgang und verfaßten ein gemeinsames Geleitwort. Dieses Geleitwort ist nach meiner Kenntnis nicht mehr neu gedruckt worden. Laut Mitteilung des Verlegers Georg Siebeck vom 15.11.1989 an den Autor (Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen) wird der hier zum Ausgangspunkt der Argumentation herangezogene Text erst in einigen Jahren im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe (MWG I/7) erscheinen.


In meinen Augen besitzt der Text für das hier behandelte Thema in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselstellung:


- Er beruht auf Zukunftseinschätzungen, deren Aktualität
nicht abgenommen hat, sondern ständig zunimmt
11].
- Er bildet - und das ist die hier vertretene These - für
fast das gesamte Werk Max Webers einen, möglicherweise
den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt.


Den axiomatischen Punkt stellen die Ausbreitungschancen des modernen Kapitalismus und seine Unvermeidbarkeit in den Au­gen der Herausgeber Sombart, Weber und Jaffé dar 22] . Da­bei läßt sich Max Webers Beschäftigung mit diesem Thema bis in seine ersten Publikationen zurückverfolgen. Zunächst spielt die kapitalistische Entwicklung nur eine untergeord­nete Rolle oder wird im Rahmen der Entwicklung handels­rechtlicher Bestimmungen abgehandelt. In den empirischen Untersuchungen zu Land- und Industriearbeitern stehen die Auswirkungen und Wechselwirkungen mit der kapitalistischen Entwicklung bereits im Mittelpunkt. Die religionssoziologi­schen Arbeiten drehen sich fast ausschließlich um die Ent­stehungsgründe des "modernen Kapitalismus", um die Frage warum hier und nicht dort und um die weiteren Ausbreitungs­chancen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß Weber die Annahme, der moderne Kapitalismus werde sich weltweit (?) ausbreiten, von Marx 33] übernommen hat. Im Gegensatz zu Marx war Weber jedoch Nationalist und Imperialist 44] und auch persönlich gegen jede Revolution, zumindest in Deutschland, eingestellt. Dabei lehnte Weber eine Revolu­tion nicht nur persönlich und für die konkrete Situation seiner Zeit ab. Er lehnte auch allgemein und nachdrücklich jede deterministische oder gesetzmäßige Geschichtsdeutung ab, wie z.B. Stadien von der Urgesellschaft über die Skla­venhalter-, Feudal- und kapitalistische Gesellschaft über eine Revolution bis zur sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsordnung 55].


Es ist andererseits auch nicht auszuschließen, daß Max We­ber bewußt und ausdrücklich als bürgerlich leben wollender Mensch mit seiner Annahme über die Unvermeidbarkeit einer kapitalistischen Entwicklung selbst einer Klasse bzw. einem Stand mit angehört hat, die in ihrer Gesamtheit hier eine Sich-selbst-erfüllende Prophetie bewußt mit betrieben hat. Hier soll und kann jedoch nicht auf diese und auf bis in die Persönlichkeit Max Webers tief hineinragenden und lan­ger Erörterung bedürftigen Fragen eingegangen werden.


Hier sollen ausschließlich Bezüge zu den wichtigen Teilen seines Werkes hergestellt werden, wo sie die meisten Kom­mentatoren Webers am heftigsten abstreiten dürften: Bezüge zu seinen wissenschaftstheoretischen Aufsätzen.


An dieser Stelle ist jedoch ein kurzer Hinweis auf die Her­ausgebertätigkeit zunächst seiner Ehefrau Marianne nach We­bers Tod im Jahre 1920 und auf die spätere von Johannes Winckelmann unvermeidlich. Sowohl Marianne Weber als auch Johannes Winckelmann und z.B. Talcott Parsons für den eng­lischsprachigen Raum, haben für eine Verbreitung der Weber­schen Texte gesorgt, ohne die Weber möglicherweise ver­staubt, ungelesen und nicht neu gedruckt in Bibliotheksma­gazinen schlummern würde - so wie andere lesenswerte Au­toren aus seiner Zeit. Alle drei haben jedoch auch das Webersche Werk z.T. gefälscht, zumindest verfälscht und eindeutige Fehlinterpretationen selbst geleistet und begünstigt 66] .

In unserem Falle spielt die Herausgeberschaft von Marianne Weber und Johannes Winckelmann insofern eine Rolle, als zwar Arbeiten wie "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" (1922) und "Soziologische Grundbegriffe" (1921) in die "Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre" aufge­nommen wurden, nicht aber das hier zur Grundlage der Argu­mentation gemachte "Geleitwort". Die beiden zuerst genann­ten Arbeiten haben nach Webers eigenen Kriterien in dem Sammelband nichts zu suchen 77] . Sie sind aber im Sinne der Herausgeber eher geeignet, Max Webers Werk einen "zeit­losen" Charakter zuzuschreiben, ihn zum unsterblichen Klas­siker zu stempeln. Das "Geleitwort" ist daher möglicherwei­se absichtlich nicht in den Sammelband aufgenommen worden. Es ist zeitbezogen, enthält zukunftsorientierte Einschät­zungen, wenn auch "epochaler" Orientierung, und ist damit natürlich trotzdem gefährdet -mit Max Webers eigenen Worten (1919, S.14)- "überholt" zu werden. In Max Webers Sinne sind jedoch Äußerungen zur kapitalistischen Entwicklung im "Geleitwort" langfristigerer Natur als die "Soziologi­sche(n) Grundbegriffe" in einem von ihm als Lehrbuch ver­faßten Text, der über Jahrzehnte zum Mythos aufgebaut wurde (Schluchter 1989).

Nun zum Geleitwort im einzelnen: Nicht von Interesse sind hier alle Äußerungen, die sich auf die Entwicklung der Zeitschrift, das Aufkommen neuer Zeitschriften und die Än­derungen beziehen, die die Herausgeber daraus folgend für notwendig halten. Wichtig sind jedoch alle Stellungnahmen, die zwischen der Einschätzung der wirtschaftlichen Entwick­lung, der selbst festgelegten Aufgabe der Kultur- bzw. So­zialwissenschaften und der weiteren für notwendig gehalte­nen wissenschaftstheoretischen Diskussion Bezüge herstel­len. Aus der mehrschichtigen Argumentation lassen sich fol­gende Stellungnahmen Webers herausfiltern, die zunächst als Aufgabe für das "Archiv" gedacht sind, die sich aber auch an anderen Stellen des Weberschen Werkes in seinen persön­lichen wissenschaftlichen Arbeiten in den entscheidenden Punkten nachweisen lassen. Darauf wird z.T. zurückzukommen sein.




1. Die Stellungnahme geht von einem Gesichtspunkt aus, von
einem wertenden Gesichtspunkt.

2. Dieser Gesichtspunkt ist u.a. das Resultat der Einsicht
in eine "unabänderlich gegebene historische Lage".

3. Die wissenschaftliche Arbeit stellt
a) die Erkenntnis der gegebenen historischen Lage in den
Dienst der schrittweisen gesellschaftlichen Neuge-
staltung, soweit sie die Form gesetzgeberischer Ein-
griffe vornehmen will und erweitert
b) ihren Dienst grundsätzlich auf das Problem der his-
torischen und theoretischen Erkenntnis der allge-
meinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Ent-
wicklung.



Das, was für Weber und die anderen Herausgeber nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, was "unabänderlich" gegeben ist, was von "persönlichen Wünschen ganz und gar unabhän­gig" ist, ist die Entwicklung des (modernen) Kapitalismus. Und auf dem Boden dieses unabänderlich Gegebenen soll, wenn überhaupt Sozialpolitik getrieben wird, Realpolitik getrie­ben werden. Für den hier verfolgten Zweck -und nur für die­sen- ist es dabei nebensächlich, wenn auch dringender wei­terer kritischer Untersuchung bedürftig, daß die Rolle des Proletariats als neu geschaffener Klasse und ihre Unter­stützung durch "die Wissenschaft" in den Mittelpunkt ge­rückt wird. Die Verfolgung dieser Entscheidung und/oder Be­hauptung würde hier zu weit in die empirischen Arbeiten We­bers zur Frage der Land- und Industriearbeiter führen; diese wurden ihrerseits von Weber unter den beiden Blick­winkeln der "unvermeidbaren" kapitalistischen Entwicklung in Verbindung mit nationalen und imperialistischen Motiven betrieben. Diesen Arbeiten und Webers Position ist jedoch nicht mit wenigen Sätzen gerecht zu werden.


Als unverrückbares Axiom ist festzuhalten: Die kapitalisti­sche Entwicklung ist unvermeidbar, nicht rückgängig zu ma­chen und zumindest das "Archiv" soll seine Dienste in die Erkenntnis dieser Entwicklung stellen. Als Hinweis dafür, daß Weber damit nicht etwa auch unkritischer Vertreter oder Befürworter der kapitalistischen Entwicklung allgemein ist, mag seine Äußerung zu dieser "Wirtschaftsordnung" dienen, die "...heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden -nicht nur der direkt ökono­misch Erwerbstätigen-, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fos­silen Brennstoffs verglüht ist." (1905, S.108)


Diese Zitat nur nebenbei als eines von vielen möglichen Beispielen gegen die nicht seltene Auffassung, Weber sei allgemein Anhänger und unkritischer Verfechter der kapita­listischen Entwicklung gewesen.


Im selben Band des "Archivs", im Rahmen des "Objektivitäts­aufsatzes" (1904, S.35) spricht Weber erneut von der kapi­talistischen Entwicklung und der Notwendigkeit ihrer Beja­hung als Voraussetzung dafür, die Arbeitermassen materiell und geistig fördern zu können. Damit ist die inhaltliche Verknüpfung vom "Geleitwort" zu Äußerungen Webers, die er ausdrücklich unter eigenem Namen vertritt, hergestellt. Dem wird dadurch kein Abbruch getan, daß er Teile des "Objekti­vitätsaufsatzes" als durch die anderen Herausgeber gebil­ligt, kennzeichnet. Trotzdem könnte eingewandt werden, es handele sich hier nur um gelegentliche Äußerungen Webers, die er nebenbei mit von den beiden anderen Herausgebern übernommen hätte. Um diesem möglichen Einwand entgegenzu­treten, ist es notwendig -in an sich unzulässiger Kürze- auf die Verquickung des Gedankens der modernen kapitalisti­schen Entwicklung mit dem Rationalisierungskonzept einzu­gehen.


Weber war sich über die Vieldeutigkeit des Begriffs "ra­tional" im klaren, hat ihn selbst auch in vielfältiger Bedeutung gebraucht und wies -wie stets in derartigem Zu­sammenhang- darauf hin, daß es auf den Standpunkt ankomme. Was von einem Blickwinkel her rational sei, sei von einem anderen her als irrational zu bewerten (1920, S.35, Anm. 1). Aber weltweit, und über die letzten Jahrhunderte vor allem im Okzident, waren, wenn auch in den einzelnen Berei­chen nicht gleichzeitig, Rationalisierungsprozesse zu beob­achten, die im Ergebnis, im wirtschaftlichen Bereich, in der "schicksalvollsten Macht unseres Lebens, dem Kapitalis­mus", kulminierten (1920, S. 4), mit den eben angedeuteten Auswirkungen in das Leben aller hinein.


Gleichgültig, wie die Frage des Verhältnisses des "Ratio­nalisierungsprozesses" und des "Prozesses der Entzauberung" zum modernen Kapitalismus bei Weber und auch allgemein zu beantworten ist: Auf jeden Fall ist der moderne Kapitalis­mus die Wirtschaftsform, die mit dem Höchstmaß an formaler Rationalität verbunden sein kann - unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität, also der "rationalen" Kapitalverwertung. Und beiden, dem modernen Kapitalismus und dem (allgemeinen) Rationalisierungsprozeß ist das Zweck-Mittel Denken, darun­ter auch in Bezug auf den Menschen, der ebenso "berechnet" und verwertet wird wie sachliche Betriebsmittel, gemeinsam. Ebenfalls ausgeklammert bleiben sollen hier die Verknüpfun­gen zur Problematik der Bürokratie, die ebenfalls durch das Zweck-Mittel Denken, wenn auch unter anderen Rahmenbedin­gungen, mitgeprägt ist.


Und genau dazu heißt es im "Objektivitätsaufsatz" (1905, S.25): "Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien 'Zweck' und 'Mittel' ". Das, was Weber im gesellschaftlichen Raum, in der geschichtlichen Entwicklung so fürchtet, die Entwicklung eines "Gehäuses der Hörig­keit", sei es im Rahmen weiterer Bürokratisierung oder z.B. rechnerischer Be- und Verwertung des Menschen im modernen Kapitalismus, setzt er im Rahmen seiner wissenschaftstheo­retischen Äußerungen als Grundelement ein. Dazu nur neben­bei: Im Rahmen der kurz erwähnten Land- und Industriearbei­terstudien setzt er selbstverständlich, auf dem Hintergrund des Weltmarktes und seiner nationalistischen Gesinnung, gleichfalls die selben Kategorien ein.


Und diese Zweck-Mittel Beziehung findet sich als das Grund­element wieder im Aufsatz "Über einige Kategorien der Ver­stehenden Soziologie" im Jahre 1913. Als Maßstab des" Ver­stehens" gilt ihm zweckrationales Verhalten, das Höchstmaß an Evidenz besitzt für ihn die "zweckrationale Deutung" (1913, 254). Auch wenn hier Weber wieder, wie im "Objekti­vitätsaufsatz", umfangreiche Einschränkungen vornimmt, ab­weichende "Fälle" und Ausnahmen schildert, um die Mannig­faltigkeit der Wirklichkeit nicht zu vergewaltigen oder sie durch einen theoretischen Ansatz einzuschränken, die Zweck-Mittel Beziehung und die zweckrationale Deutung bleiben und sind der Dreh- und Angelpunkt seiner wissenschaftstheoreti­schen Äußerungen einschließlich des Konzeptes "Verstehen".


Diese Übereinstimmung ist jedoch nicht zufällig. Nach Weber ist Wissenschaft nicht ohne Wertung möglich, sie wäre gera­dezu sinnlos (1904, S.54 u. 55); diese liefert den Ge­sichtspunkt, von dem aus Wissenschaft betrieben wird und bestimmt gleichzeitig die Auswahl der Probleme, deren sich "Wissenschaft" annimmt 88]. Der "Gegenstand" der wissen­schaftlichen Bearbeitung bestimmt seinerseits die "Metho­den" und "Mittel" einschließlich des Begriffsapparates un­ter dem Gesichtspunkt der Brauchbarkeit und des Erfolges hinsichtlich der Frage- und Problemstellung, von der aus die Erklärung einer Erscheinung gesucht wird. Nimmt Weber also die kapitalistische Entwicklung als unvermeidbares künftiges Schicksal an, so bestimmt diese auch das entspre­chende methodische Instrumentarium der sie bearbeitenden Wissenschaften.


Zu einem der nachgeordneten Problembereiche wurde bereits in Anmerkung [7] darauf hingewiesen, daß die Begriffsbil­dung nach Weber ebenfalls unter rein instrumentellen Ge­sichtpunkten erfolgen soll.


Die Diskussion um die Konsequenzen der Verknüpfung von mo­dernem Kapitalismus, Rationalisierung und "Wissenschaft" mag beginnen oder erneut beginnen 99]. Daß zumindest Max Weber die "Relativität" und die Vergänglichkeit eines jeden Ansatzes und auch seines eigenen als Bestandteil der "Kul­turwissenschaften" klar war, mag der letzte Absatz des "Objektivitätsaufsatzes" belegen (1904, S.87). Daß eine Analyse der Auswirkungen seiner Annahme über die Zukunft des Kapitalismus -wie sie hier in einer Richtung, den wis­senschaftstheoretischen Arbeiten skizzenhaft vorgelegt wird- mit Webers eigenem Vorgehen vereinbar ist, belegen seine vielfachen Äußerungen im ersten Aufsatz zu Roscher (1903; S.3., Anm. 1; S.23, Anm. 2; S.33, Anm. 2; S.41 u.a.O.). In diesem Aufsatz weist Weber mehrfach darauf hin, wie Roschers wissenschaftstheoretische Äußerungen durch seine -hier religiösen, jedoch spezifisch roscherschen re­ligiösen- Grundanschauungen mit bedingt werden und deren Kenntnis und Analyse ihrerseits eine Voraussetzung für die Analyse seiner "Methode" darstellen.


Neben der weiteren notwendigen Vertiefung einiger hier an­gesprochener Fragen und weiter z.B. der Frage, in welchem Umfange und ab wann das gesamte Werk Webers durch seine An­nahme über die Zukunft des Kapitalismus geprägt wird, stellt sich sofort noch eine weitergehendere Frage: In wel­chem Umfange ist die Annahme über die unentrinnbare revolu­tionäre kapitalistische Umgestaltung der Gesellschaft be­stimmt durch seine nationalistische und imperialistische Grundposition? Ist sie teilweise oder weitestgehend eine Folge des Wunsches nach einem Deutschland als der Welt­macht, der ihm nur im Rahmen eines erfolgreichem kapitali­stischen Kampfes auf dem Weltmarkt erreichbar schien ?

Literatur



Baumgarten, Eduard. 1964. Max Weber. Werk und Person. Doku­mente ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).


Hennis, Wilhelm. 1987. Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werkes. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Sie­beck).


Käsler, Dirk. 1979. Einführung in das Studium Max Webers. München: Ch. Beck.


Käsler, Dirk. 1989. "Der retuschierte Klassiker. Zum gegen­wärtigen Forschungsstand der Biographie Max Webers". In: Weiß (1989, S. 29-54.).


Mommsen, Wolfgang J. 1974, 2.Aufl., Max Weber und die deut­sche Politik 1890-1920. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Sie­beck).


Popper, Karl, R. 1971. Das Elend des Historizismus. Tübin­gen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).


Schluchter, Wolfgang. 1989. "'Wirtschaft und Gesellschaft' - das Ende eines Mythos". In: Weiß (1989, S. 55-89).


Sombart, Werner, Max Weber, Edgar Jaffé. 1904. "Geleitwort". Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpo­litik 19: I-VII.


Tenbruck, Friedrich H. 1989. "Abschied von der 'Wissenschaftslehre'?". In: Weiß (1989, S. 90-115).


Weber, Max. 1903. "Roscher und Knies und die logischen Pro­bleme der historischen Nationalökonomie". Jahrbuch für Ge­setzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Hrsg. G. Schmoller) 27: 1181-1221.


Weber, Max. 1904. "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftli­cher und sozialer Erkenntnis". Archiv für Sozialwissen­schaften und Sozialpolitik 19: 22-87.


Weber, Max. 1905. "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketi­schen Protestantismus". Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21: 1-110.


Weber, Max. 1913. "Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie". Logos 4: 253-294.


Weber, Max. 1917. "Der Sinn der 'Wertfreiheit' der soziolo­gischen und ökonomischen Wissenschaften". Logos 7: 40-88.


Weber, Max. 1919. Wissenschaft als Beruf. München/Leipzig: Duncker & Humblot.

Weber, Max. 1920. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziolo­gie, I. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).


Weber, Max. 1921. Soziologische Grundbegriffe. Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III, Erster Teil, Kapitel 1, §§ 1-7. Tübingen.


Weber, Max. 1922. "Die drei Typen der legitimen Herrschaft. Eine soziologische Studie". Preußische Jahrbücher 187: 1-12.


Weiß, Johannes (Hrsg.). 1989. Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp.



[1] Leider ist hier nicht der Ort, um auch nur in Kürze, auf die dynamischen Entwicklungen in Südostasien und den -inzwischen meisten- Ländern Osteuropas einzugehen, die ein­deutig -trotz großer Unterschiede- in Richtung Marktwirt­schaft bzw. kapitalistischer Entwicklung verlaufen.

[2] Obwohl es Webers Begriffe wie "schicksalhaft" und "un­abänderlich" nahe legen, habe ich bisher keine Stelle ge­funden, in der Weber eine zwangsläufige weltweite Ausbrei­tung des modernen Kapitalismus direkt und wortwörtlich be­hauptet. Meinem Eindruck nach stammt der Text des "Geleit­wortes" überwiegend oder ganz von Weber. Aufgrund der Per­son Webers ist es fast völlig auszuschließen, daß er etwas unterzeichnet haben könnte, was er inhaltlich nicht voll gebilligt hat. Zusätzlich stimmen die Aussagen mit seinen unter seinem Namen veröffentlichten Texten überein.

[3] Eine der bizzarsten Diskussionen hat um das Verhältnis von Max Weber zu Karl Marx stattgefunden. In welchem Um­fange Weber Marx von der Literaturlage her verarbeiten konnte und inwieweit er sich von ihm ausgewiesen und nicht ausgewiesen beeinflussen ließ, mag noch eine offene und ei­ner dringenden Klärung bedürftige Frage sein. Auf jeden Fall entbehren aber Behauptungen jeglicher Grundlage, er habe Marx nicht oder kaum gekannt. Weber nimmt mehrmals ausdrücklich in seinen Schriften Bezug auf Marx und geißelt im Roscher-Aufsatz (1903, S. 17, Anm. 4) ausdrücklich des­sen dürftige Auseinandersetzung mit Marxens Kapital. Häufig zitiert wird weiter Baumgarten (1964, S. 554 u. 555) mit einem Gespräch, das Max Weber mit einem Studenten geführt haben soll, aus dem hervorgeht, daß u.a. auch er seine Ar­beit nicht ohne Marx und Nietzsche hätte leisten können. Zutreffend ist, daß Weber nach anfänglicher Begeisterung für die neue Marxsche "sozialökonomische" Sichtweise ab ca. 1900 sich leider nur noch mit "plattem" Materialismus usw. auseinandergesetzt hat und eine systematische Auseinander­setzung zumindest nicht veröffentlicht hat.

[4] Hennis (1986, S. 195-236) bezweifelt in meinen Augen zu Recht, daß die Darstellung Max Webers als eines Liberalen, so wie sie von Bendix, Mommsen, Roth, Schluchter u.a. vor­genommen wird, gerechtfhtfertigt ist. Für völlig unannehmbar halte ich den Begriff eines "liberalen Imperialisten" (Mommsen 1974, z.B. S. 84), da er meines Erachtens nur auf der Ausgrenzung aller Menschen aus dem Geltungsbereich der Liberalität beruhen kann, die Objekt imperialistischen Strebens sind.


[5] Frank Ettrich von der Humboldt-Universität Berlin wies mich darauf hin, daß diese Abfolge eine grobe Vereinfachung Marxscher Vorstellungen beinhaltet.


[6] Den letzten Stand der Diskussion liefern wahrscheinlich drei Beiträn Schluchter, Käsler und Tenbruck (in Weiß 1989). Baumgarten (1964, S.605) zitiert den inzwischen häu­figer wiedergegebenen Satz Marianne Webers in einem Brief an Paul Honigsheim aus dem Jahre 1926 zu Max Weber: "Ich lebe für seine irdische Verewigung". Käsler (in Weiß 1989, S. 29-54) weist dann auch "sachliche Unrichtigkeiten" in Mariannes Weber-Biographie nach und beklagt allgemein das Ausstehen einer qualifizierten Biographie Webers. Sowohl Marianne Weber als auch Johannes Winckelmann u.a. haben z.B. Gen. Generationen von Weber-Lesern mit der Deklaration von "Wirtschaft und Gesellschaft" als dem "Hauptwerk" auf falsche Fährten gelockt und jahrzehntelange z.T. sterile Auseinandersetzungen um die letztlich ebenfalls sterile Frage nach dem wirklichen Hauptwerk mit verschuldet. U.a. gab erst Hennis (1987) dieser Diskussion wieder eine sinn­vollere Richtung, indem er nach dem Anliegen Webers, also nach den Problemen und Fragestellungen Webers suchte. Den letzten veröffentlichten Stand der aufgefundenen deutschen Schhriften Webers gibt wahrscheinlich Käsler (1988, S. 243-274) wieder. Bedauerlicherweise macht das "Max-Weber-Ar­chiv" in München die sicherlich aktuellste Liste der Veröf­fentlichungen Webers nicht allgemein zugänglich. Tenbruck (in Weiß 1989, S. 90-115) macht den Herausgebern der Ge­samtausgabe (MWG) allgemein und spezifisch heftige Vorwürfe wegen der Vorenthaltung von Informationen, die sie mono­polisierten und der Öffentlichkeit verschwiegen und durch ihre Veröffentlichungspraxis im Falle der "Wissefts­lehre" bereits wieder eine Verfälschung Max Webers betrie­ben.

[7] Diese beiden Schriften gehören allein schon deswegen nicht in den Wissenschaftslehre-Band, da Weber selbst und eindeutig und (z.B. 1904, S. 80-82) mehrfach darauf hinge­wiesen hat, daß Begriffe in den Sozial- bzw. Kulturwissen­schaften rein instrumentellen Charakter besitzen und nur unter dem Ge­sichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit zu bewer­ten sind, d.h. unter dem Gesichtspunkt, was sie für die Er­klärung einer Erscheinung zu leisten imstande sind.

[8] Weber macht diese Aussage in Abgrenzung von Positionen, die es als Ziel der Sozialwissenschaften ansehen, Gesetze über das soziale Leben zu formulieren. Eine der groteske­sten Interpretationen Webers ist die Behauptung Poppers (1965, S. 113, Anm. 113), er habe bei Weber (1904, S. 53), die "ähnlichste Vorwegnahme" seiner Analyse gefunden. Weber wird hier aufgrund eines mißverständlichen Satzes auch noch als Urvater des Popperianismus bzw. möglicherweise auch noch des Kritischen Rationalismus in Anspruch genommen, ob­wohl die Lektüre weniger Absätze vor und nach dieser Stelle und zahlreiche andere Formulierungen genau das Gegenteil besagen. Ähnlich grotesk ist die fast unausrottbare An­sicht, Weber habe sich für "wertfreies" wissenschaftliches Arbeiten eingesetzt. Das Gegenteil ist richtig. Weber hat sozialwissenschaftliches Arbeiten ohne ständiges Werten bei der Auswahl, Analyse und Darstellung eines Problems für un­möglich gehalten (1904, S.45 und 1917, S.49 u. 50). Er ist nur ständig für eine Trennung von Wertungen und sachlichen Aussagen eingetreten. Bereits zu seinen Lebzeiten beklagt er sich darüber, ständig in dieser Beziehung mißverstanden zu werden (1917, S. 49 u. 50).

[9] Das bescheidenere "erneut" beginnen ist deswegen ange­bracht, da es wohl niemanden gibt, der auch nur annähernd behaupten kann, er habe einen Überblick über die ausufernde Sekundärliteratur zu Max Weber. Der Umfang der Sekundärli­teratur zu Max Weber dürfte inzwischen ca. 30 Meter Länge betragen, unter Ausschluß asiatischer Sprachen, zu denen ich auch indirekt keinerlei Zugang besitze. D.h., niemand kann bei derartigen Themen ausschließen, daß bereits jemand anderes die gleichen oder ähnlichen Gedanken zu Papier ge­bracht hat. Da sich entgegen den ursprünglichen Planungen die Veröffentlichung der Max Weber Gesamtausgabe noch über viele Jahre hinziehen wird, ist zu hoffen, daß Verlag und Herausgeber bald ein Einsehen haben werden und einfach her­zustellende "Reprints" aller gedruckten Veröffentlichungen von Max Weber Max Weber ls Zwischenschritt auf den Markt bringen. Denn allein der Aufwand die ca. 300 deutschen Veröffentli­chungen Max Webers zu beschaffen und zu bearbeiten ist im­mens. Der Gesamtausgabe dürften Nachdrucke insgesamt kaum schaden. Möglicherweise bietet ja das auslaufende Copyright der meisten Veröffentlichungen mit dem Jahre 1990 einen ge­wissen Anreiz.

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