Ankunft in Beijing im Frühjahr 1987. Unverhältnismäßig groß und leer wirkt auch in diesem Jahr das neue Flughafengebäude, kalt und monumental seine großen, grau-melierten Steinplatten. Auf der Fahrt über das neue Autobahnkreuz und vorbei an den in den letzten Jahren als joint ventures aus dem Boden gestampften Hotelkomplexen denke ich, daß Beijing auch 1987 keine schöne Stadt ist. Zu viele Baustellen gibt es hier, aus denen dieselben charakterlosen Neubauten emporwachsen werden, die schon jetzt einen viel zu großen Teil des Stadtbildes bestimmen. Wieviel schöner, wenn auch schmutziger, muß es hier noch vor dreißig Jahren ausgesehen haben, als noch nicht so viele Tempel und Palastbauten abgerissen waren und die hohen Stadtmauern noch nicht durch die die Stadt jetzt so unnatürlich durchschneidenden breiten Umgehungsstraßen ersetzt waren.
Wir fahren in ein altes Stadtviertel in der Nähe des ehemaligen Reismarktes, wo noch die traditionellen, durch Holztüren aus engen Gassen zugänglichen Häuser mit Innenhof stehen, über die sich ein grau geziegeltes Walmdach deckt.
In einem kleinen Hotel erwartet uns Dorje, ein mongolischer Prinz, der noch in eben jenem alten Beijing gelebt hat, das jetzt, aus der Notwendigkeit der schnellen Schaffung von Wohnraum für die ständig wachsende Bevölkerung heraus, systematisch in Schutt und Asche gelegt wird. Der Prinz ist nicht groß, die Schnürsenkel seiner traditionellen Stoffschuhe aus schwarzem Cord hängen offen, unter der weiten Hose aus grauem Sommerleinen gucken die Reißverschlüsse der wattierten Unterhosen hervor. Als Oberkleid trägt er über einem verwaschenen Rollkragenpulli aus blaß-violetter Baumwolle eine graue Strickweste sowie eine gefütterte braune Seidenjacke, die noch einmal von einer Überjacke aus blauem Tuch vor neugierigen Blicken und Verschmutzung geschützt wird. Die blaue Umhängetasche, in der er sein Manuskript trägt, entspricht den derzeit gängigen Vorstellungen über eine moderne, gutaussehende Reisetasche.
Die Hände des Prinzen sind lang und schmal, Gesichts- und Augenfarbe auffallend hell. Später erzählt er uns, daß seine Familie früher einmal an der Wolga gelebt habe und wohl mindestens vier weißrussische Frauen sein äußeres Erscheinungsbild mitbestimmt hätten.
Während wir ein erstes Gespräch führen, versuche ich, den Mongolen in ihm zu finden. Ich denke an meine Reise zu den Touristenjurten bei Huhhot, heute Provinzhauptstadt der Autonomen Region Innere Mongolei -- an die braungebrannten, breiten Gesichter mit den schmalen Augen, die kräftigen, von der körperlichen Arbeit geprägten, oft fröhlich singenden Frauen mit den zwei- oder dreimal um den Kopf gewickelten Zöpfen, an die Kamelritte und an die von viel Wein und Gesang begleiteten Hammelessen.
In den gleichen Mongolenkitteln, wie ich sie in Huhhot gesehen habe, jenen quergeknöpften Gewändern, die im Gegensatz zu den traditionellen, weitfallenden chinesischen Gewändern von einer bunt bestickten Schärpe zusammengehalten werden, kamen sie schon Anfang dieses Jahrhunderts nach Beijing, als Kinder der Steppe, um auf dem alten Mongolenmarkt bei der ehemaligen britischen Gesandtschaft, der heutigen Dongjiaomin-Gasse südöstlich des Kaiserpalastes, Felle und Türkise einzutauschen gegen die feinen Gegenstände der westlichen Zivilisation. Und so trifft man sie auch heute noch, vor den Schaufenstern der großen Warenhäuser in Beijings Haupteinkaufsstraße Wangfujing, damals wie heute verlacht und bespöttelt vom hauptstädtischen Überlegenheitsgefühl der alteingesessenen Beijinger.
Doch nicht nur als tumpelhafte Einkäufer, auch als Eroberer kamen die Mongolen nach Beijing. Nachdem sie unter Dschingghis Khan bis nach Europa vorgedrungen waren, richteten sie unter seinen Nachfolgern ihr Augenmerk wieder mehr auf den asiatischen Raum. 1279, nach siebzig Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen, hatten sie die Song-Kaiser endgültig besiegt und ganz China unter ihre Kontrolle gebracht. Bereits 1266 hatte Dschingghis Khans Enkel Kubilai Khan beschlossen, die Hauptstadt des mongolischen Weltreiches, des größten zusammenhängenden Landreiches, das bis dahin existiert hatte, von Karakorum, westlich des heutigen Ulan Bator, nach Beijing zu verlegen. Rund um den Beihai-Park entstand hier innerhalb von vier Jahren die von Marco Polo so farbenprächtig beschriebene "Stadt des großen Khan". Auf türkisch hieß sie Khanbaliq, auf chinesisch Dadu, die "große Hauptstadt" der von Kubilai Khan gegründeten Yuan-Dynastie (1271-1368). Um einen Flecken Steppengras, das der Khan als Andenken an das einstige Nomadenleben mitgebracht hatte, entstanden die aus weißem Marmor gebauten und mit kunstvollen Steinmetzarbeiten verzierten Paläste, bekam die Stadt ihre bis heute erhaltene Grundeinteilung. Nicht nur die großen, von Norden nach Süden verlaufenden bis heute erhaltenen Verkehrsadern wie die Dongdan-, die Xisi- oder die Dongzhimen-Straße gehen auf die Mongolen zurück, auch der Trommelturm und die Alte Sternwarte haben bereits in Dadu die nördliche beziehungsweise südöstliche Stadtgrenze markiert. Heute sind die meisten dieser alten Bauten aus der Yuan-Dynastie nur noch in den Annalen der Beijinger Stadtgeschichte wiederzufinden. Durch Kriege, Feuersbrünste oder auch einfach Alterschwäche zerstört, wurden sie in den folgenden Dynastien wieder aufgebaut; auf die Mongolen geht meist nur noch die Festlegung ihres Standortes und ihrer Funktion zurück. Und so sind es inzwischen Legenden, in denen sich die Bedeutung ausdrückt, die den Mongolen bei der Gestaltung des Beijinger Stadtbildes zugekommen ist: So gäbe es zum Beispiel die die Silhouette des Beihai-Parkes nordwestlich des Kaiserpalastes so markant abrundende Weiße Pagode nicht, wenn nicht im 8. Jahrhundert ein Prinz der Tang-Dynastie von einem wundersamen Berg in der Mongolei gehört hätte, von dem sagte, daß er seinen Besitzer in den Genuß ungeahnter Kräfte bringen würde. Doch wie sollte der Prinz den Berg von der fernen Mongolei bis nach Beijing transportieren. Nach Gebeten zum schwarzgesichtigen Gott der Hindernisse und Bedrängnisse entschloß er sich, den Berg mit Essig zu begießen und um ihn herum ein Feuer anzuzünden, woraufhin der wunderbare Berg sich auflöste und zu jenem Hügel wurde, auf dem sich heute die Weiße Pagode erhebt. Wohl als Ergebnis der Reisen der Mönches Changchun, des Erbauers der Pagode, der von Dschingghis Khan als Berater angefordert und ihn auf ausgedehnten Reisen durch die Mongolei bis nach Indien begleitete, wurde die Pagode in der Form eines mongolischen Reliquienschreins erbaut: Ihre fünf Abschnitte Basis, Baukörper, Turmspitze, Ornamentik und vergoldete Abschlußkugel symbolisieren die fünf Elemente Wasser Erde, Feuer, Luft und Äther.
Mongolische Spuren auch aus der mandschurischen Qing-Zeit, als Beijing zum zweitenmal Hauptstadt einer nicht han-chinesischen Dynastie war. 1500 hauptsächlich aus der Mongolei stammende Lamas wohnten damals in dem weiträumigen, von ochsenblutroten Mauern mehrmals unterteilten Lamatempel Yonghegong im Nordosten der Stadt. Einst hatte der Tempel einem Mandschu-Prinzen als Palast gedient, später soll er Sitz eines Lebenden Buddha geworden sein. Damit dieser, nach dem lamaistischen Glauben fleischgewordene Buddha, seinen Einfluß auf seine mongolischen Glaubensbrüder dahingehend verwendete, daß sie die Herrschaft der Qing-Kaiser durch ihre Überfälle nicht weiter bedrohten, ließen die Qing-Kaiser dem Lamatempel reiche Geschenke zukommen. Über die so verwöhnten Mönche heißt es, daß sie es nicht für nötig gehalten hätten, Chinesisch zu lernen, daß sie schlechte Manieren gehabt und faul, geizig und unwissend gewesen seien. Nach kärglichen Zeiten, als unter der Republik neben den kaiserlichen Zuwendungen auch die Spenden des in Beijing stationierten mongolischen Banners des einstigen Qing-Heeres nicht mehr in die Tempelkasse flossen, wurde der Tempel unter der Volksrepublik ganz geschlossen, dann aber Anfang der achtziger Jahre wieder geöffnet. Und wieder sind es bis auf zwei Tibeter mongolische Lamas, die dort ihren täglichen Dienst verrichten. Denn bis jetzt ist das Leben im Tempel nur den Mitgliedern der nationalen Minderheiten erlaubt. Und so sieht man dort jetzt wieder die mongolischen Knaben und Männer mit den kahlgeschorenen Schädeln in den braunen, je nach Ranghöhe von einem roten oder gelben Gürtel zusammengehaltenen Kutten die Perlen ihrer Gebetsketten weiterschieben oder die klassischen Sutren studieren.
Von der Bedrohung, die die Mongolen für die Beherrscher von Beijing bedeutet haben müssen,spürt man noch in Überlieferungen wie der über den der Song-Dynastie loyalen Beamten Xie Fangde, der den mongolischen Yuan-Kaiser nicht anerkennen wollte und sich im Fayence-Tempel verbarrikadierte. Er starb dort den Hungertod. Eine andere Legende erzählt von der weisen Nonne Lü aus dem heute nicht mehr erhaltenen, einst aber außerordentlich einflußreichen Xianying-Kloster. Immer wieder versuchte sie den Ming-Kaiser Yingzong von der geplanten Strafexpedition gegen die aufrührerischen Mongolen abzubringen, konnte sie doch vorhersehen, daß der Kaiser gefangen genommen und erst sieben Jahre später wieder in seine Hauptstadt zurückkehren würde.
Und wo sind sie heute, die Mongolen in Beijing, die einst von hieraus ein Weltreich regierten? Fragt man Han-Chinesen, herrscht Ratlosigkeit. Zwar haben sie alle schon einmal einen Ausflug zur Großen Mauer gemacht und dort auch die mongolischen Schriftzeichen an der Wolkenterrasse am Juyong-Paß nordwestlich von Beijing gesehen. Und wahrscheinlich wissen sie auch, daß die die Yuan-Herrschaft ablösenden Kaiser der Ming-Dynastie diese Mauer erbauen ließen, da sie die Mongolen nie ganz bezwingen, die nördlichen Steppen nie ganz unter ihre Kontrolle bringen konnten. Und natürlich kennen alle Beijinger den besonders im Winter beliebten mongolischen Feuertopf, in dem man Lamm- oder Hammelfleisch mit verschiedenen Gemüsen kocht. Daß sie auch ihre Vorliebe für Süßigkeiten den Mongolen verdanken, wissen sie nicht unbedingt, wenn sie ihren Kindern am Straßenrand die auf ein Bambusholz gesteckten kandierten Granatäpfel kaufen, die die Mongolen einst an einer Schnur um den Hals trugen, um dann beim Reiten ab und zu davon abzubeißen.
Angesichts des achselzuckenden Unwissens, das auch Geschichtslehrer und Angehörige anderer nationaler Minderheiten mir entgegenbringen, sobald ich das Gespräch auf die Mongolen in Beijing bringe, überlege ich, ob ich nicht einer Fiktion aufgesessen bin und aus der Bekanntschaft mit einem im Beijing lebenden mongolischen Prinzen heraus nach weiteren Mongolen suche, die es hier in Wirklichkeit gar nicht gibt. Ich denke an die bekannte und beliebte mongolische Schaupielerin Siqin Gaowa, die vor einigen Jahren Aufsehen erregt hatte, als sie in dem im Beijing der zwanziger Jahre spielenden Film "Der Rikschakuli" eine Verführungsszene echter als bisher üblich mimte. Wenige Jahre später war Siqin Gaowa noch einmal in aller Munde. Sie ließ sich von ihrem chinesischen Ehemann scheiden, um einen Schweizer zu heiraten und mit ihm nach Westeuropa zu ziehen. Siqin Gaowa ist gegangen, doch die Filmstudios der Inneren Mongolei arbeiten weiter und über das staatliche Filmbüro gelangen ihre Produktionen auch in die Beijinger Lichtspielhäuser. Am Nachmittag sehe ich einen Film aus der Inneren Mongolei, in dem es um eine Beijinger Schülerin geht, die während der Kulturrevolution aufs Land verschickt wird, wo sie sich in einen mongolischen Nomaden verliebt. Lange zögert sie, als ein Brief ihr das Studium in Beijing ermöglicht, gibt aber schließlich dem Druck der Freundinnen nach und zieht zurück in die Hauptstadt, um dort Philosophie zu studieren. Später bereut sie diesen Entschluß; sie vereinsamt, sieht um sich herum nur unglückliche Liebesbeziehungen. Der Film endet mir ihrem Entschluß, in die Steppe zurückzukehren, um dort bei dem nur ihr allein gehörenden Mongolen Schutz und Geborgenheit zu finden.
Ich blättere in Zeitschriften und entdecke in der letzten Ausgabe von "Chinese Women" einen Artikel über eine mongolische Schriftstellerin, die als Bettlerin in einem Bergdorf in der Inneren Mongolei aufwuchs. Da man ihr die Teilnahme am Unterricht in der Schule verbot, lernte sie bei einem Geschichtenerzähler Lesen und Schreiben. Gegen den Widerstand der Dorfbewohner eignete sie sich Bildung an wurde zur "Gedichte schreibenden Tante", die an die "Chinesischen Bauernnachrichten" Verse wie zum Beispiel den "Traum von einem Besuch in Beijing" schickte: "...diese Leere, die mich von meinen Hergen vertrieb, zu einer anderen Welt in Beijing..."
So wie sie hat es einst viele wissensdurstige Mongolen nach Beijing gezogen. Ein mongolischer Kader, der in einer Beijinger Wirtschaftsbehörde arbeitet, bringt Systematik in mein Mongolenbild:
Er selbst sei in einem Dorf in der Inneren Mongolei geboren. In den fünfziger Jahren sei er zum Studium nach Beijing gekommen, wo ihm eine Arbeit zugeteilt worden sei, so daß er heute immer noch hier wohne. Er rechnet sich zur dritten Gruppe von Mongolen in Beijing, denen, die es zufällig, aus beruflichen Gründen hierher verschlagen habe und die hier, entsprechend der von der Regierung ausgegebenen Richtlinie, daß die nationalen Minderheiten in allen staatlichen Institutionen vertreten sein sollten, zusammen mit Chinesen leben und arbeiten. Daneben gäbe es die Gruppe jener Mongolen, die nach der Gründung der Volksrepublik von der neuen Regierung aus der Inneren Mongolei nach Beijing gerufen worden seien. Denn während es den nationalen Minderheiten unter der Guomindang schlecht gegangen sei, hätte die kommunistische Partei ihnen Respekt und Anerkennung entgegengebracht. Ein Institut, ein Verlag und Tanzensemble für nationale Minderheiten seien in Beijing gegründet worden; es gäbe Übersetzer, die die klassischen mongolischen Dramen ins Chinesische übertrügen oder für Radio Beijing die mongolischen Versionen der für die Ausstrahlung in die Innere und Äußere Mongolei bestimmten Nachrichtensendungen erstellten. Bei diesen Mongolen seien die nationalen Traditionen am deutlichsten erhalten; sie besäßen mongolische Festtagskleidung, beherrschten Volkslieder und traditionelle Musikinstrumente, wie zum Beispiel die Pferdekopfgeige und wüßten über die mongolischen Sportarten Bescheid, die einmal im Jahr beim Naadam-Fest im Institut für nationale Minderheiten einer interessierten Beijinger Öffentlichkeit vorgeführt würden.
Daneben gäbe es dann noch die Gruppe der alteingessenen Mongolen, die schon vor der Befreiung 1949 in Beijing gelebt hätten. So wie die Beijinger Moslems rund um die Moschee in der Ochsenstraße lebten, hätten die Wohngebiete dieser Mongolen eine relativ große Fläche rund um dem Lamatempel eingenommen. Die ärmeren Mongolen hätten in den traditionellen chinesischen Wohnhäusern mit Innenhof gewohnt; Adlige und Prinzen hätten vornehmere, aber ebenfalls im chinesischen Stil gebaute Anwesen besessen. Heute seien viele Mongolen vom Lamatempel weggezogen, in die Wohnheime bei den Arbeitsstätten, die ihnen von der neuen Regierung zugewiesen worden seien.
Insgesamt lebten heute in der chinesischen Hauptstadt zwischen zwanzig- und dreißigtausend Mongolen. Zwar hätten sie sich dem Beijinger Alltag fast vollständig angepaßt, ihrer nationalen Eigenständigkeit seien sie sich aber immer noch deutlich bewußt. Und mit den Mongolen der Äußeren Mongolei fühlten sie sich auf das Engste verbunden. Innerhalb der 56 nationalen Minderheiten, die zusammen fünf Prozent der Gesamtbevölkerung der Volksrepublik China ausmachten, hätten die Mongolen eine starke Position, hieße die traditionelle Rangordnung für die fünf wichtigsten Völker doch Han-Chinesen -- Manzhou -- Mongolen -- Moslems -- Tibeter. Dieses hohe Ansehen hinge mit der Rolle zusammen, die die Mongolen in der chinesischen Geschichte gespielt hätten. So sei es zum Beispiel ein mongolischer General gewesen, der die Truppen der Qing-Regierung gegen die aufständischen Boxer befehligt habe. Und auch in dem Erfolgsfilm "Die Verbrennung des Alten Sommerpalastes" sei es ein kräftig gebauter Mongole gewesen, der in einer, mit heftigem Applaus bedachten Szene den vorwitzigen Vertreter der Beijing bedrohenden ausländischen Mächte kurzerhand unter den Arm klemmte und in den nahegelegenen Graben warf. Die nationale Identität hätte sich heute vermutlich am deutlichsten in den Eßgewohnheiten erhalten. Zwar hätten sich die Mongolen weitgehend auf die chinesische Küche eingestellt, aber sie äßen doch mehr Lamm- und Hammelfleisch als die anderen Hauptstadtbewohner. Und zum Frühstück gäbe es bei ihnen nicht Reissuppe, sondern den aus zerriebenen Teeziegeln mit Salz aufgekochten schwarzen Tee, in den sie Kuhmilch, Gerste und eventuell getrockneten Käse gäben. Auch trinkfester als die Chinesen seien sie. Gegen Ende eines gemeinsamen Abends würden sie gerne gemeinsam singen, sie liebten die mongolischen Ringkämpfe, und wenn sie es nicht schon als sechs- bis siebenjährige Kinder gelernt hätten, dann hätten sie spätestens dann Reiten gelernt, wenn sie ihre Verwandten in der Inneren Mongolei besuchten.
Was das Heiraten angehe, so hofften wohl alle mongolischen Eltern, auch die, die für sich selbst einen han-chinesischen Ehepartner ausgewählt hätten, daß ihre Kinder sich in einen Mongolen oder eine Mongolin verliebten. So wäre es einfacher, wenn schon nicht die mongolische Sprache, so doch wenigstens einige letzte Traditionen und etwas zusätzliches Wissen über die eigene Geschichte und Kultur an die Nachfahren weiterzugeben. Falls eine innermongolische Ehe, wie in fünfzig Prozent der Fälle, nicht zustande käme, fühlten sich die Mongolen besonders zu den in Nordchina lebenden Han-Chinesen, Mandschus und Koreanern hingezogen; die anderen in China lebenden Nationalitäten seien ihnen relativ fremd geblieben.
Das Telefon klingelt; es scheint sich gelohnt zu haben, daß ich überall von meiner Mongolensuche erzählt habe. Auf Umwegen höre ich von einem polnischen Forscher für mongolische Sprache an der Beijing-Universität, der sich bereit erklärt, dort zwei Mongolen in meiner Sache zu interviewen und mir am nächsten Tag Folgendes mitteilt: Seit mindestens dreißig Jahren gibt es innerhalb des Instituts für Orientalische Sprachen der Beijing-Universität eine Abteilung für Mongolistik. Während die sieben Studenten dort ausschließlich Han-Chinesen sind, kommen zwei der ebenfalls sieben Lehrkörper aus der Inneren Mongolei; die Äußere Mongolei hat für ein Jahr einen Gastprofessor entsandt. Der Unterricht findet in chinesischer Sprache statt, es wird aber auch Mongolisch gelernt. Die Bibliothek umfasse viele Publikationen aus der Äußeren Mongolei, aber auch auf Mongolisch geschriebene Bücher aus der Inneren Mongolei, sowie chinesische und ausländische Werke. Mit der diplomatischen Vertretung der Mongolischen Volksrepublik stünde man offensichtlich in gutem Kontakt, kämen deren Mitglieder doch des öfteren auf einen Schwatz an die Beijing-Universität und sei der Abteilungsleiter gerade von einem längeren Forschungsaufenthalt aus Ulan Bator zurückgekehrt. Auf die Frage, was den Mitarbeitern der Abteilung zu den Mongolen in Beijing einfalle, kommt nur eine kurze Antwort. Etwa 7000 Mongolen lebten derzeit in Beijing. Sie hätten keinen inneren Zusammenhang mehr und seien in der ganzen Stadt verstreut. Die meisten von ihnen sprächen kein Mongolisch, niemand habe sich in irgendeiner Weise hervorgetan oder gar Berühmtheit erlangt. Aus anderer Quelle höre ich später, daß um den Kohlehügel, in der Nähe der Qinghua-Universität und in den Duftenden Bergen noch relativ viele Mongolen leben sollen. Und man erzählt mir auch von dem berühmten mongolischen Philosophen Ai Siqi, dem Geologen Li Siguang, dem Schriftsteller Li Zhun.
Auf der Suche nach schriftlichem Material mache ich mich auf zum großen Buchladen in Wangfujing-Straße. Zwar ist es inzwischen leichter geworden, an ausländische Publikationen heranzukommen, aber über die Mongolen, geschweige denn die Mongolen in Beijing, finde ich nicht ein einziges Buch. Lediglich in der nach Verlagen geordneten Abteilung stehen einige chinesische Bücher, die der Verlag der Inneren Mongolei aufgelegt hat: eine Einführung in Fragen der Volkswirtschaft, der vom Mongolischen über das Französische ins Chinesische übersetzte Roman "Das ausländische Banner" sowie ein 1984 erschienener Band mit prämiierten Kurzgeschichten. Etwa jede vierte Erzählung stammt von einem mongolischen Autor, die Themen umfassen die Verletzung der Nomadengesetze bei der Hirschjagd, aber auch das Scheitern einer Liebesbeziehung, als die Frau mehr Wissen erwirbt, als im Dorf üblich ist oder den Konkurrenzkampf zwischen dem Fahrer eines Eselkarrens und dem eines LKWs. Nebenan gibt es einen Buchladen für nationale Minderheiten. Dort finde ich drei Regale mit Bücher in mongolischer Sprache, neben Werken in Tibetisch, Uigurisch, Koreanisch und Kasachisch. Auf dem Ladentisch liegen verstaubte Hefte der Zeitschrift "Minderheiten, vereinigt Euch!" sowie mongolische, tibetische und koreanische Versionen von "China im Bild" und der Mao-Bibel. Aus Mangel an Büchern suche ich nach Musikkassetten, aber auch hier ergeht es mir nicht viel besser. In vier Schallplattenläden gibt es nur eine einzige Kassette mit mongolischen Volksliedern, gesungen von zwei alternden han-chinesischen Popstars.
Also entschließe ich mich zu einem Spaziergang in das Alte Mongolenviertel rings um den Lamatempel. Bis auf den Kahlschlag an der nördlichen Andingmen-Straße ist hier noch ein Stück altes Beijing erhalten geblieben: Rostige Ofenrohre ragen über den Bürgersteig und blasen den Ruß der Kohleöfen ins Freie, ein Singvogel zwitschert aus seinem an der verwitterten Holztür aufgehängten Bambuskäfig, unter weißen und hellblauen Papierblumen klebt ein mit einer Plastikfolie vor Regen geschütztes rotes Plakat, auf das in ordentlichen schwarzen Schriftzeichen die Namen und Adressen der in diesem Monat ausgezeichneten Bewohner des Viertels gepinselt sind. Ich lese die Familiennamen, sie scheinen mir alle chinesische Namen zu sein. In der Dritten Gasse zur Neuen Nördlichen Brücke gibt es keine Geschäfte, nur graue Mauern, aus denen leicht geöffnete Türen den Blick in die alten Innenhöfe freigeben. Ein alter Mann, dem die Fausthandschuhe an einer Schnur um den Hals baumeln, trägt in einem Einkaufsnetz aus Nylon eine Flasche Essig nach Hause. Ein anderer hat einen Behälter mit dem Propangas für die Zubereitung der nächsten Mahlzeiten an der Seite seines schwarzen Fahrrades festgebunden. Vor einem roten Haustürschild bleibe ich stehen und frage den Alten, der gerade mit einer Schüssel schmutzigen Wassers herauskommt, ob die Schriftzeichen an seiner Tür Uigurisch seien. Er bejaht und erzählt mir, daß er Moslem sei. Wenn ich Mongolen suchte, sollte ich zum Lamatempel gehen. Hier in seiner Gasse gäbe es keine Mongolen mehr, Eine junge Chinesin kommt hinzu. Auch sie weiß nichts von Mongolen hier. An der nächsten Straßenecke rede ich mit einem sicher achtzigjährigen Chinesen, der gerade die Zeitung geholt hat. Ich frage mich, ob er schon lange hier wohnt. Er lacht und sagt ja. Ob es noch Mongolen hier gäbe? Nein, nur die Lamas nebenan im Tempel. In der Tat habe ich den ganzen Viertel kein einziges Feuertopf-Restaurant gesehen; in anderen Stadtteilen reiht sich inzwischen oft eins an das andere. Nur in der baumstandenen Allee, die einst zur kaiserlichen Akademie führte, steht vielleicht als einzige mongolische Spur, eine inzwischen stark verschmutzte Marmorstele, auf der auch auf Mongolisch geschrieben steht, daß die Beamten hier vom Pferd absteigen müßten.
Ich besuche eine Freundin vom chinesischen Schriftstellerverband, selbst Angehörige einer nationalen Minderheit, die mir noch einige zusätzliche Informationen beschaffen will. Auf dem Wege zu ihr werde ich aufgrund meiner westlichen Kleidung von einem modisch herausgeputzten Schwarzmarkthändler angesprochen. Er erzählt mir, daß es unter seinen Freunden viele Mongolen gäbe. Wie er seien sie money changer. Jede Woche kämen sie für ein oder zwei Tage aus der Inneren Mongolei nach Beijing, um an den Straßenecken rund um den Kaiserpalast lokale Währung gegen Devisen einzutauschen, mit denen sie dann die begehrten Fernseher, Stereoanlagen und Zigaretten aus dem Westen für ihre fern des Warenangebots der Hauptstadt lebenden Landsleute einkauften.
Meine Freundin ist erfolglos geblieben. Der mongolische Schriftsteller, den sie mir vorstellen wollte, läßt ausrichten, daß es über die Mongolen in Beijing nichts zu berichten gäbe.
Unser Besuch in Beijing ist zuende. Da ich immer noch unsicher bin, was ein Mongole in Beijing nun eigentlich ist, frage ich Dorje zum Abschied, ob es für sein Leben eine wichtige Rolle gespielt habe, daß er Mongole sei. Er antwortet, daß er die Chinesen nie richtig verstehen konnte. Die Beijing-Oper sei ihm fremd geblieben,und er habe nie begreifen können, wie Chinesen sich bei der Wahl eines Ehepartners ganz wesentlich am Erreichen der Standardgröße von 1.65 beziehungsweise 1.75 Metern orientieren könnten. Und dann beginnt er, wie alle meine anderen Gesprächspartner auch, über die mongolische Geschichte und Tradition zu reden. Er erzählt von alten Hochzeitsbräuchen, nach denen das Brautpaar einen zwischen zwei Hada-Tüchern gespannten Hammelknochen halte und dabei "den Ofen anbete", daß Mongolen sich gerne zur Begrüßung Schnupftabak überreichen und daß "Mongolenarzt" in der Beijinger Umgangssprache ein Schimpfwort sei, eigentlich aber Mediziner bezeichne, die auch von Han-Chinesen gerne aufgesucht würden, da sie einen Mittelweg zwischen der westlichen und der chinesischen Medizin gefunden hätten.
Etwas weiter im Westen von Beijing lebt ein anderer Mongolenprinz. Seinen mongolischen Namen hat er sinisieren lassen, so daß die ursprünglische Bedeutung "roter Sohn" heute nicht mehr erkennbar ist. Seine in Beijing aufgewachsenen und dann in der Sowjetunion in den Vereinigten Staaten ausgebildeten Söhne, von denen zumindest einer mit einer Han-Chinesin verheiratet ist, bekleiden hohe politische Ämter in der Autonomen Region Innere Mongolei. Er selbst wurde 1925 Mitglied einer Revolutionären Volkspartei, deren Ziel die Schaffung einer autonomen Regierung für die Innere Mongolei bildete. 1939 schloß er sich in Yan'an der Kommunistischen Partei Chinas an, die ihn nach der Gründung der Volksrepublik zum Stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalitätenkommission ernannte. Von 1947-1967 stand er als Vorsitzender der Volksregierung der Inneren Mongolei vor und seit 1983 ist er der Stellvertretende Staatspräsident der Volksrepublik China. Die Rede ist von Wulanfu, der bei den Mongolen, mit denen ich in Beijing gesprochen habe, hohes Ansehen genießt, da er sich immer wieder für die mongolischen Anliegen eingesetzt habe. Doch darf man, wenn man über die Zukunftsaussichten des mongolischen Adels im heutigen Beijing nachdenkt, nicht vergessen, daß Wulanfu der einzige Mongole ist, dem es gelungen ist, bis in die zentralen Führungsgremien der kommunistischen Partei aufzusteigen.
Dorje hätte sich eine solche Karriere sicher nie gewünscht. Wenn er am Nachmittag auf einen Plausch oder ein Glas Portwein vorbeikam, hat er uns oft erzählt, daß er im Grunde ein ganz unpolitischer Mensch sei.